Was tun, wenn eine Diagnose das Leben von Grund auf verändert? Ein Pilotprojekt der Barmer bietet Versicherten mit Brustkrebs Orientierung und Halt auf dem Weg durch die Therapie.
Pilotprojekt erfolgreich beendet: Versorgungslotse Brustkrebs wird zum regulären Angebot
Seit dieser Text erstellt wurde, haben sich die Dinge weiterentwickelt. Das hier beschriebene Pilotprojekt wurde mittlerweile erfolgreich beendet und in ein reguläres Angebot der BARMER überführt. Wir bieten unseren Versicherten eine Begleitung ab der Brustkrebsdiagnose, während der Chemo- oder Strahlentherapie bis hin zur Nachsorge an. Für weitere Informationen zu diesem individuellen Unterstützungsangebot für unsere Versicherten kontaktieren Sie uns bitte per E-Mail an Versorgungslotse@barmer.de
Als bei Alisha Lehmann im Juni 2021 Krebs in der rechten Brust diagnostiziert wurde, beschloss sie, sich von der Diagnose nicht verunsichern zu lassen: „Ich war nicht sonderlich ängstlich“, sagt die Softwareentwicklerin heute. „Für mich stand fest: Ich schaffe das.“ Sie hatte jedoch viele Fragen – nicht nur an ihren Gynäkologen. Dass sie kurz nach der Biopsie auch Gelegenheit hatte, mit einer Expertin der Barmer zu sprechen, empfand Lehmann als gute und hilfreiche Orientierung. „Wir telefonierten fast zwei Stunden lang“, erinnert sie sich. Und das nicht nur einmal, sondern etwa alle vier Wochen, während Alisha Lehmann die verschiedenen Stationen ihrer Therapie durchlief. „Das gab mir Sicherheit“, sagt Lehmann.
Der Satz „Sie haben Krebs.“ ist die Diagnose, vor der sich die Deutschen laut einer Umfrage am meisten fürchten. Krebs ist eine Zäsur, ein Bruch im Leben. An die Stelle des Alltags treten Krankenhausaufenthalte und Medikamente mit oft massiven Nebenwirkungen. Um Versicherte in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen, hat die Barmer ein Pilotprojekt gestartet: den Brustkrebslotsen. Bis zu neun Mitarbeitende der Barmer begleiten derzeit 140 Patientinnen* als persönliche Lotsinnen und Lotsen durch die Therapie. Ihre Aufgabe: Versicherten das gebündelte Fachwissen der Krankenkasse zugänglich zu machen. Denn so gut die Versorgung in Deutschland in weiten Teilen ist: sich im komplexen Gesundheitssystem zurechtzufinden, kann überfordern – umso mehr angesichts einer einschneidenden Diagnose. Während der Gespräche mit Ärztin oder Arzt schalten viele Betroffene einfach ab. Sie bekommen gar nicht mit, welche weiteren Untersuchungen nötig sind. Die Mitarbeitenden des Brustkrebslotsen bieten in dieser Situation Orientierung. Sie beraten individuell, begleiten und unterstützen in organisatorischen Fragen. So auch Lehmanns Lotsin. „Dank unserer Gespräche wusste ich immer, was als nächstes ansteht und was zu tun ist“, sagt Lehmann.
Der Brustkrebslotse ist ein Projekt, das aus dem Bedarf der Versicherten heraus entstand. „Wir wollten verstehen, welche Erkrankungen innerhalb kurzer Zeit zu gleichzeitigen Anfragen bei mehreren verschiedenen unserer Abteilungen, den sogenannten Zentren, führen“, sagt Daniel Höffner, Bereichskoordinator Entwicklung Prozesse/Struktur, der für den strategischen Rahmen zuständig ist. Diese Information gab es zuvor nicht, denn die Zentren agieren in unterschiedlichen Fachthemen: Eines bearbeitet zum Beispiel die Anträge für ambulante Behandlungen, also Arztbesuche. Ein anderes ist für Reha-Maßnahmen zuständig. Es zeigte sich, dass bestimmte Krankheitsbilder das Leben der Betroffenen extrem verändern: „Herzinfarkt, Krebs, Schlaganfall und Stürze“, sagt Höffner. Wer davon betroffen ist, benötigt vielfältige Hilfe – muss in die Arztpraxis, in die Radiologie, ins Krankenhaus, braucht einen Fahrdienst, Hilfsmittel wie Prothesen und Physiotherapie – und all das mehr oder weniger zur selben Zeit.
Menschen, die an einer schweren Krankheit leiden, verlassen sich oft darauf, dass ihre Ärztin oder ihr Arzt die nächsten Schritte einleitet. Daneben kann auch die Krankenkasse bei vielen Belangen ein Lotse sein – davon war das Projektteam der Barmer überzeugt. Doch in welchen Bereichen ist die Unterstützung für Betroffene am nötigsten? Um das herauszufinden, starteten Daniel Höffner und sein Team einen zweistufigen Prozess.
In Gesprächen mit Versicherten erhielt die Barmer einen Überblick, welche Hilfestellungen oder Informationen sie sich in dieser Zeit von ihrer Krankenkasse gewünscht oder als hilfreich empfunden hätten“, sagt Michael Kuhn, der den Prototyp des Lotsenprojekts mitentwickelt hat. Auf dieser Basis entstand ein Serviceangebot, das auf den Bedürfnissen von Versicherten beruht – und nicht etwa über deren Köpfe hinweg entwickelt wurde. „Es war für uns ein Lernprozess“, sagt der Projektverantwortliche Daniel Höffner. „Und oft bewegend.“ Besonders im Gedächtnis geblieben sei ihm eine Versicherte mit einem an Krebs erkrankten Kind. „Sie sagte: Ich möchte keine Zeit mit dem Ausfüllen von Anträgen verbringen. Ich brauche diese Zeit für mein Kind.“
Die Diagnose Krebs ist nicht nur eine körperliche und seelische Ausnahmesituation. Sie fordert den Betroffenen auch ein hohes Maß an Organisation und Vorausplanung ab. Die Entscheidung, sich mit einem Lotsenprojekt zunächst an Brustkrebspatientinnen zu wenden, fiel auch aus folgendem Grund: „Wir haben mit knapp 60 Prozent einen hohen Anteil weiblicher Versicherter“, sagt Michael Kuhn. „Und Brustkrebs betrifft statistisch jede 8. Frau in Deutschland.“
Im Sommer 2021 nahmen die Lotsinnen und Lotsen ihren Dienst auf. „Meine Lotsin hat mir zum Beispiel erklärt, wie ich den Fahrdienst beantrage und wie das mit dem Krankengeld funktioniert“, erinnert sich Alisha Lehmann. Für viele Frauen, die im Berufsleben stehen, ist der Lohnausfall ein sensibles Thema: Zur Sorge um die eigene Gesundheit kommt die Angst vor finanziellen Einbußen. Zu wissen, wann und in welcher Höhe sie Krankengeld erhalte, habe sie als beruhigend empfunden, so Lehmann. Während sie das sagt, blättert sie in einem Ordner mit handschriftlichen Notizen und Unterlagen. Den hat sie sich nach der Diagnose angelegt, um den Überblick zu behalten. „Er ist mittlerweile zehn Zentimeter dick“, sagt sie.
Neben den organisatorischen Themen werden auch persönliche Themen erörtert, beispielsweise zu Lebensentscheidungen wie Kinderwunsch. Angesichts der Diagnose rückt dieses Thema für viele Patientinnen erst einmal in weite Ferne. Die Chemotherapie birgt in dieser Hinsicht zwei Risiken, die es zu bedenken gilt: Die Behandlung kann die Fruchtbarkeit dauerhaft einschränken. „Wir klären die Frauen darüber auf, falls sie Eizellen einfrieren lassen möchten. Das wird auch von den Krankenkassen bezahlt“, so Börret. „Kommt es während der Therapie zu einer ungewollten Schwangerschaft, kann dies wiederum die Gesundheit von Mutter und Kind gefährden. Daher raten wir den Frauen, in Fragen der Verhütung ärztlichen Rat einzuholen“, sagt Benjamin Börret. Denn möglicherweise sind Pille oder Hormonspirale nicht zu empfehlen, da das Wachstum von Brustkrebs hormonabhängig sein kann.
Manchmal geht es für die Lotsinnen und Lotsen auch nur darum, Dinge einzuordnen. Bei Alisha Lehmann wurde für die Chemotherapie ein sogenannter Port-Katheter eingesetzt. Dieser Zugang soll bei wiederholten Injektionen die Venen entlasten. Doch Lehmanns Port saß nicht richtig, verursachte Schmerzen: „Mir ging es richtig schlecht. Ich war ratlos und verzweifelt.“ Die Barmer-Lotsin schilderte ihr Fälle aus der Praxis. „Zu wissen, dass ich nicht die einzige Frau mit einer solchen Komplikation bin, half mir das durchzustehen.“
Ein Jahr nach Start des Brustkrebslotsen zieht die Barmer derzeit Bilanz. „Wir möchten das Projekt gerne fortführen“, sagt Michael Kuhn vom Entwicklungsteam. „Bisher erhalten wir durchweg tolles Feedback von den Versicherten.“ Geprüft wird auch, ob sich das Prinzip auf weitere Krankheitsbilder übertragen ließe. „Bei anderen Krebsarten könnten wir das Angebot in weiten Teilen übernehmen“, sagt Kuhn.
Alisha Lehmann hat ihre Therapie mittlerweile abgeschlossen. Hinter ihr liegen sechs Monate Chemotherapie, eine Brust-OP, bei der 13 Lymphknoten entfernt wurden, sowie die Bestrahlung. Sie gilt als geheilt, muss weiterhin Medikamente nehmen. Diese sollen ihre Zellen daran hindern, zu neuen Krebszellen zu mutieren.
Im kommenden Monat kehrt die Softwareentwicklerin in den Job zurück. Über die Barmer-Mitarbeiterin, die sie betreut hat, weiß sie nur Gutes zu berichten. Und man merkt, dass Lehmann nach vorne schaut: „Meine Lotsin war immer da, wenn ich jemanden zum Reden brauchte“, sagt sie. „Ich glaube, ich muss sie mal wieder anrufen.“
* Aufgrund der höheren Häufigkeit der Erkrankung bei Frauen hat sich das Pilotprojekt auf diese Personengruppe fokussiert, auch wenn nicht nur Frauen an Brustkrebs erkranken können.
Literatur:
- Frankfurter Rundschau: Keine Diagnose ist so gefürchtet wie Krebs
- Robert-Koch-Institut: Zentrum für krebsregisterdaten
Gesunde Ehrlichkeit
Ehrlichkeit ist gesund. Das zeigen wissenschaftliche Studien. Ein Grund mehr für die Barmer, sich für Ehrlichkeit im Gesundheitswesen einzusetzen.
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