Ein ehrliches, offenes Gesundheitswesen ist die Voraussetzung für selbstbestimmte und starke Patientinnen und Patienten. Wie die Barmer Transparenz lebt und fördert, erklären Mitarbeiterin Peggy Graehn und Geschäftsbereichsleiter Michael Hübner im Interview mit Christin Kaufmann.
Herr Hübner, die Barmer setzt sich für mehr Transparenz im deutschen Gesundheitssystem ein. Laut Sozialgesetzbuch ist die Hauptaufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, die „Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern”. Inwiefern trägt Transparenz dazu bei?
Michael Hübner: Indem wir die Versicherten dabei unterstützen, gut informierte Entscheidungen zu treffen. Das ist eine Aufgabe, die in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat und sicher noch wichtiger werden wird.
Inwiefern?
Michael Hübner: Als das Sozialgesetzbuch 1989 in Kraft trat, war die zentrale Anforderung an die gesetzlichen Krankenkassen, die Versicherten bei Krankheit finanziell abzusichern und ihnen Zugang zu Versorgungsleistungen zu ermöglichen, die ihre Erkrankung lindern oder heilen. Dieser Anspruch hat sich erweitert. Die Versorgung in Deutschland ist eine der besten der Welt, das System dahinter aber sehr komplex. Einer Umfrage zufolge fühlt sich weit über die Hälfte der Deutschen bei der Suche nach einer Arztpraxis oder einem Krankenhaus nicht ausreichend informiert. Für sie ist es eher ein Versorgungsdschungel. Wer an einer chronischen oder mehreren Erkrankungen gleichzeitig leidet, muss seine Therapien regelrecht managen. Wir möchten Versicherte stärken, indem wir unser Wissen weitergeben und ihnen aufzeigen, wo welche Hilfe verfügbar ist – das medizinische Versorgungssystem also für sie transparenter machen.
Frau Graehn, Sie sind durch Ihre Arbeit im Versorgungsmanagement-Zentrum in direktem Kontakt mit den Versicherten. Wie sieht diese Unterstützung im konkreten Fall aus?
Peggy Graehn: Angenommen, eine Versicherte hat Rückenschmerzen. Ihre Ärztin diagnostiziert einen Bandscheibenvorfall und schlägt eine Operation vor. Die Patientin fühlt sich aber nicht optimal beraten und ist unsicher, ob das der richtige Weg ist. Dann besteht immer die Möglichkeit, eine zweite Meinung einzuholen. Darüber klären wir unsere Versicherten auf. Wir helfen ihnen auch, schneller einen Termin zu bekommen. Das ist gerade im ländlichen Raum oft ein Problem. Ein anderes Beispiel ist der Brustkrebslotse. Das ist ein neues Serviceangebot, bei dem wir Erkrankte begleiten. Wir helfen ihnen zum Beispiel, bei Bedarf ein Taxiunternehmen zu finden, das sie zur Therapie bringt und regeln die Kostenübernahme. Wir geben Hinweise zur Chemotherapie, zur Ernährung oder welche Physiotherapien in Frage kommen, wenn Lymphknoten entfernt wurden. Wir verstehen uns als Lotsen, orientieren uns an den Bedürfnissen der jeweiligen Versicherten. Manche sind bereits gut informiert, finden sich in vielen Bereichen selbst zurecht. Andere sind überfordert, wollen gern an die Hand genommen werden. Unser Anspruch ist es, allen Versicherten Orientierung im oft unübersichtlichen Versorgungssystem zu bieten und ihnen ihre Möglichkeiten aufzuzeigen.
Ist es neu, dass eine Krankenkasse so aktiv auf Betroffene zugeht?
Michael Hübner: Ja. Im vorhin erwähnten Sozialgesetzbuch werden die Krankenkassen ganz allgemein zur Beratung und Aufklärung ihrer Versicherten aufgefordert. Es steht aber nirgends genau, wie dies konkret erfolgen kann. Diese Umsetzung muss sich am Einzelfall orientieren, am konkreten Bedarf der Versicherten. Aus Gesprächen mit Brustkrebspatientinnen wissen wir, dass diese durch die Strahlentherapie Hautirritationen bekommen können, wie etwa Rötungen oder Juckreiz. Viele beschäftigt auch die Frage: Soll ich eine Perücke tragen? Gibt es vielleicht auch andere Möglichkeiten? Hier setzen wir an und geben Hinweise in einem Bereich, der aus Sicht der Betroffenen extrem wichtig ist und der im Versorgungsdschungel möglicherweise manchmal zu kurz kommt. Wir glauben, dass wir für unsere Versicherten einen hohen Mehrwert schaffen, wenn wir sie in dieser schwierigen Phase durch das Gesundheitswesen begleiten.
Das Gesundheitswesen ist einer der wirtschaftlich stärksten Sektoren in Deutschland. Ist so ein System intransparent, leidet meist auch die Effizienz und das verursacht zusätzliche Kosten. Wer trägt die?
Michael Hübner: Im Wesentlichen die Bürgerinnen und Bürger. Das ist ihnen oft gar nicht bewusst. Einen ebenfalls großen Teil stemmen die Arbeitgeber, da sie über die Löhne Versicherungsbeiträge abführen. Ein wichtiger Faktor in Bezug auf die Kosten ist Zeit – zum Beispiel, wenn eine Diagnose ein bildgebendes Verfahren erfordert. Versicherte warten manchmal wochenlang auf einen Termin, einfach weil sie nicht wissen, dass es andere Anbieter gibt, an die sie sich wenden könnten. Bei manchen Erkrankungen ist es jedoch von Vorteil, wenn nicht acht, sondern vielleicht nur drei Wochen vergehen, bis eine Spezialistin oder ein Spezialist übernimmt. Krebs ist solch eine Erkrankung. Wie schnell jemand stationär aufgenommen und operiert wird, ob direkt im Anschluss die passende ambulante Versorgung, Medikation und Physiotherapie folgt, kann maßgeblich beeinflussen, wie lange es dauert, bis die Person wieder voll im Leben steht. Ein Heilungsprozess, der sehr lange dauert, belastet die betroffene Person, ihre Familie und Freunde. Wir setzen uns deshalb für ein Gesundheitssystem ein, das jedem Menschen einen möglichst effizienten Weg zur Genesung bietet.
Frau Graehn, transparent zu sein bedeutet, klar zu sagen, was ist. Für die Mitarbeitenden einer Krankenkasse heißt das, dass sie Versicherten auch mal eine Absage erteilen müssen. Wie gehen Sie damit um?
Peggy Graehn: Indem wir ehrlich mit den Menschen kommunizieren. Bei chronisch kranken Menschen zum Beispiel kommen viele verschiedene Bedürfnisse zusammen und wir können nicht allen im gleichen Ausmaß nachkommen. Wir konzentrieren uns deswegen darauf, den größten Bedarf zu decken: Wir analysieren, wo ein Mensch die meiste Unterstützung braucht und wie wir ihn zielgerichtet versorgen können. Diesen Behandlungsweg legen wir dann in der Beratung dar.
Die Barmer hat in den vergangenen Jahren einige Neuerungen eingeführt, um auch die internen Prozesse für die Versicherten verständlicher und nachvollziehbar zu machen. Welche sind das?
Peggy Graehn: Eine entscheidende Neuerung für uns war der Barmer Kompass in der Barmer-App. Der Kompass zeigt Versicherten jederzeit den aktuellen Bearbeitungsstatus ihrer Anträge. Begonnen haben wir mit dem Krankengeld. Das ist für Versicherte ein sehr emotionales Thema: Es sichert ihnen in längeren Krankheitsphasen die Miete, den Unterhalt. Im Kompass können sie sehen, wieviel sie erhalten, aber auch mitverfolgen, wie ihr Antrag bearbeitet wird und warum dies vielleicht manchmal länger dauert.
Michael Hübner: Das Krankengeld ist sicherlich die zentralste Anwendung. Wir bieten den gleichen Service aber mittlerweile auch für Zahnersatz, Mutterschaftsgeld und neuerdings auch für Hilfsmittel wie Rollstühle oder Prothesen. In diesem Bereich kam es häufiger zu Beschwerden.
Woran lag das?
Michael Hübner: Unter anderem, weil Versicherte oft Rückfragen zum Status des Antrags hatten. Antworten auf all diese Fragen stellen wir nun im Kompass dar: Wir bieten unseren Versicherten Transparenz vom Einreichen des Antrags über eine medizinische Begutachtung bis zur Bewilligung.
Den Versicherten Einblick in solche internen Abläufe zu gewähren, birgt das Risiko, diese zu verärgern, wenn es mal hakt. Wie gehen Sie bei der Barmer damit um?
Michael Hübner: Diese Sorge hatten wir anfangs auch. Schließlich lassen wir uns mit solchen Produkten gewissermaßen beim Arbeiten zuschauen. Die Erfahrungen haben aber gezeigt, dass diese Offenheit ein Vorteil ist. Transparenz führt eben nicht dazu, dass plötzlich mehr Beschwerden bei uns ankommen. Im Gegenteil. Die Versicherten reagieren verständnisvoll. Fehler passieren. Wenn wir rechtzeitig darüber informieren, dass es hakt, sind sie eher bereit, noch ein paar Tage zu warten, als wenn sie über Wochen einfach gar nichts von uns hören.
Peggy Graehn: Allerdings sind diese digitalen Produkte nicht für jede Altersgruppe gleich gut geeignet. Die jüngeren Versicherten nutzen diese ganz selbstverständlich, aber bei den Älteren scheitert es manchmal an der Technik. Deswegen sind wir immer auch persönlich ansprechbar.
Michael Hübner: Es ist eine gesellschaftliche Entwicklung. Noch vor einigen Jahren kamen Pakete eben an, wenn sie ankamen. Heute kann ich online verfolgen, wo ein Paket gerade ist. Also erwarte ich einen ähnlichen Service von meiner Krankenkasse. Wir wollen uns in diese Richtung weiterentwickeln, weil die Zahl der Menschen steigt, die eine Smartphone-App bedienen können. Die Barmer-App hat heute schon rund 2,2 Millionen Nutzerinnen und Nutzer. Bei 8,6 Millionen Versicherten ist das ein enormer Anteil.
Welche Rolle hat der Transparenzbericht der Barmer? Warum ist es aus Ihrer Sicht sinnvoll, Zahlen zu Anträgen oder Widersprüchen offenzulegen?
Michael Hübner: Der Transparenzbericht zeigt, dass wir Ehrlichkeit nicht scheuen und an der Seite unserer Versicherten stehen. Indem wir ihnen diese Zahlen zur Verfügung stellen, geben wir ihnen die Möglichkeit, unsere Leistung mit der anderer Krankenkassen zu vergleichen. Wir begegnen ihnen auf Augenhöhe. Meine Hoffnung ist, dass sie anerkennen, dass wir als Barmer da deutlich weiter gehen als viele andere Versicherungsunternehmen.
Peggy Graehn: Das gilt natürlich auch für die Arbeit im Versorgungsmanagement-Zentrum. Als Ansprechpartnerin für die Versicherten bin ich selbst ein kleiner Transparenzbericht – und das täglich. Durch den direkten Kontakt kennt man sich mit der Zeit sehr gut. Mir ist es deshalb wichtig, dass mich die Versicherten authentisch erleben und dass ich ehrlich mit ihnen sprechen kann.
Herr Hübner, auch die Kostenübersicht in der Barmer-App macht Zahlen transparent. Was genau ist dort aufgeführt?
Michael Hübner: Mit der Kostenübersicht können Patientinnen und Patienten nachvollziehen, welche Leistungen zu welchen Preisen ihre Arztpraxis oder die behandelnde Klinik für sie abrechnen. Sie sehen dadurch, was wir als Krankenkasse für sie tun.
Welche Projekte hat die Barmer noch in der Pipeline, um die Themen Transparenz und Orientierung weiter voranzutreiben?
Michael Hübner: Wir sind dabei, unsere Kompass-Angebote um die Prozesse Reha und Kieferorthopädie zu erweitern. Außerdem arbeiten wir daran, nach der elektronischen Patientenakte nun auch das elektronische Rezept auf einen guten Weg zu bringen. Das ist ein wichtiges Thema, weil die Ärztinnen und Ärzte dadurch zum Beispiel eine bessere Übersicht über die Medikation erhalten und unerwünschte Wechselwirkungen ausschließen können. Und wir setzen auf innovative Vorsorgemöglichkeiten wie das Test-Kit zur Darmkrebsfrüherkennung über eine Online-Bestellmöglichkeit. Damit können sich Versicherte ganz einfach zuhause testen.
Als Mitarbeiterin im Versorgungsmanagement-Zentrum der Barmer berät Peggy Graehn unter anderem Versicherte am Telefon. Michael Hübner leitet den Geschäftsbereich Ambulante Versorgung, Pflege und Innovation.
Innovativ: das Lotsenprojekt
Ein Pilotprojekt der Barmer bietet Patientinnen mit Brustkrebs Orientierung und Halt auf dem Weg durch die Therapie.
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