Eine Frau sitzt auf dem Balkon und schaut auf ihren Laptop
Nachhaltigkeitsbericht

Unsere Stadt, unsere Zukunft: Wie wir gemeinsam nachhaltiger leben können

Lesedauer unter 11 Minuten

Redaktion

  • Jessica Braun

Qualitätssicherung

  • Dr. Katharina Scherber (Institut für Gesundheitssystemforschung der Barmer, bifg)

Immer mehr Menschen zieht es in die Städte. Sie wollen sich beruflich weiterentwickeln, suchen Bildungswege oder mehr Raum für Kreativität und Innovationen. Damit Städte auch ein gesundes Zuhause für alle sein können, braucht es jedoch eine nachhaltige Stadtentwicklung. Initiativen zeigen, wie das geht.

Die Frage „Kann man da noch was machen?“ hört Hans Georg Werner oft. Meistens lautet seine Antwort: Da geht noch was! Und zwar mit Schraubenzieher, Lötkolben und einer guten Portion Gemeinschaftsgeist. Werner ist Lehrer für Physik und Mathe, Sozialarbeiter und Elektroingenieur. Er leitet den TJP in Berlin, den Technischen Jugendbildungsverein in Praxis. In den Räumen des Vereins können Kinder und Jugendliche nähen, Schmuck basteln, mit Metall arbeiten oder im Labor für Biochemie Experimente durchführen.

Immer donnerstags verwandelt sich eine der Werkstätten jedoch in ein Repair-Café. Dann leisten Hans Georg Werner und sein Team dort Erste Hilfe bei kaputten Kopfhörern, schwächelnden Toastern oder leiernden Kassettenrecordern. Oft dürfen deren Besitzerinnen und Besitzer mithelfen: „Wenn möglich nehmen wir die Geräte gemeinsam auseinander oder ich überlasse ihnen kleine Lötarbeiten. Das macht richtig Spaß“, sagt Werner. Spaß, der nebenbei verhindert, dass eigentlich noch brauchbare Güter im Müll landen. Das schont Ressourcen – auch die eigenen. Denn das Angebot kostet nichts. Ist ein Ersatzteil nötig, können sich Reparierwillige dafür einen Zuschuss vom Land Berlin holen. Bis zu 200 Euro gibt dieses einmalig dazu.

Repami heißt das Angebot, das 2024 gestartet ist. Das Repair-Café im TJP ist eines von vielen ehrenamtlichen Reparaturcafés in der Stadt, die dem Netzwerk angeschlossen sind. Ziel der Initiative ist es, Abfälle zu vermeiden und Treibhausgase reduzieren. Ein wichtiger Schritt: „Deutsche Städte müssen sich nachhaltiger aufstellen“, sagt Dr. Katharina Scherber. Die Geografin leitet am Institut für Gesundheitssystemforschung der Barmer (bifg) den Bereich Klimawandel und Gesundheit. Denn Städte sind ein begehrter und gleichzeitig gefährdeter Wohnraum.

Nachhaltige Stadt, gesunde Zukunft

Jeder zweite Mensch weltweit lebt heute in einer Stadt. In Deutschland ist der Anteil sogar noch größer: fast 80 Prozent der Bevölkerung nennt die Stadt ihr zuhause.

Katharina Scherber

Dr. Katharina Scherber. Die Geografin leitet am Institut für Gesundheitssystemforschung der Barmer (bifg) den Bereich Klimawandel und Gesundheit.

„Umso wichtiger ist es, dass unsere Städte zukunftsfähig und lebenswert für alle werden: saubere Luft, weniger Müll, mit vielen Grünflächen, sozial gerecht und dabei klimafreundlich“, so Scherber. Denn noch haben Städte einen großen Anteil am CO2-Ausstoß. Vor allem Autos sind hier ein Problem. Die Luftverschmutzung ist in dicht besiedelten Gegenden ebenfalls höher als auf dem Land.

Was vielen nicht bewusst ist: Städte sind auch besonders anfällig für die Folgen des Klimawandels. So muss sich Erfurt laut einer Studie in Zukunft auf mehr Starkregen einstellen. In Saarbrücken und Leipzig droht den Berechnungen zufolge zusehends Hitzealarm. Wer in Frankfurt am Main wohnt, wird wohl häufiger Trockenheit und Überflutungen erleben. All das hat nicht nur Folgen für die ansässigen Firmen und die Bausubstanz. „Es belastet auch die Gesundheit der Menschen, die in betroffenen Gebieten wohnen“, sagt Katharina Scherber.

Mit Fahrradstraßen Staus bekämpfen

In vielen Städten laufen deswegen bereits Projekte, die sich für mehr Nachhaltigkeit stark machen. Ein wichtiger Aspekt hier: die Mobilität. Wer das Auto stehen lässt, um mit dem Fahrrad zu fahren oder zu Fuß zu gehen, spart pro zurückgelegtem Kilometer etwa 166 g CO2 ein. Das Tolle: In der Stadt ist man mit dem Rad meist sogar schneller unterwegs. Denn auf Strecken von unter fünf Kilometern hängt dieses das Auto dort in der Regel ab – unter anderem wegen der Parkplatzfrage. Auch die Gesundheit profitiert: Wer regelmäßig aufs Rad steigt, gewinnt an Lebenszeit. Laut einer niederländischen Studie können 75 Minuten Radfahren pro Woche diese im Schnitt um sechs Monate verlängern. Was es mit der Mobilität macht, wenn eine Stadt den Radverkehr kontinuierlich fördert und das Wegenetz ausbaut, zeigt Bremen. Dort sind heute schon doppelt so viele Fahrräder wie Autos unterwegs.

Die Fahrradstraße – eine Bremer Erfindung

Bremens Liebe zum Rad hat Tradition: Hier wurde 1982 die Fahrradstraße erfunden. Etwa um die gleiche Zeit öffnete Bremen als erste Stadt in Deutschland seine Einbahnstraßen für gegenläufigen Radverkehr. Seit 2020 darf sich die Alte Neustadt nun Fahrradmodellquartier nennen. Es ist das erste in Deutschland. Hier gilt durchgehend Tempo 30, es gibt Stationen für Bikesharing, einen Lastenradverleih, Luftpump- und Ladestationen und sogar ein eigenes Verkehrsschild. Im Städteranking des – ebenfalls in Bremen gegründeten – Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) holte Bremen 2022 den ersten Platz unter den Städten mit über 500.000 Menschen. Auch ausländische Indexe listen Bremen weit oben. Eine Stadt mit internationalem Vorbildcharakter.

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Mehr Grün für Gesundheit und Wohlbefinden

Ein anderer Ansatz, um die Luftqualität in Städten zu verbessern, sind Pflanzen. Städtisches Grün spendet Schatten und mindert Emissionen. Es reduziert Lärm und Luftverschmutzung und verbessert die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner. Und es macht es angenehmer, das Rad zu nehmen oder draußen Sport zu treiben. „Angesichts steigender Temperaturen brauchen wir mehr Grünflächen und Schatten. Hitze ist ein großes gesundheitliches Risiko“, sagt die Expertin für Klimawandel und Gesundheit, Katharina Scherber. Parks und Gewässer, aber auch Dach- und Fassadenbegrünung oder Urban Gardening-Projekte werden umso wichtiger, je weiter die Versiegelung in Städten zunimmt. Die stärkste Kühlung in der Stadt leisten jedoch Bäume, wenn sie ausreichend mit Wasser versorgt sind. Etwa 45 Prozent der Siedlungs- und Verkehrsflächen sind in Deutschland aktuell bebaut, betoniert, asphaltiert, gepflastert oder anderweitig befestigt. Das bringt Probleme mit sich: An heißen Sommertagen ist die Hitzebelastung in solchen Gebieten am stärksten. Fällt viel Regen in kurzer Zeit, kann dieser wiederum nur schlecht versickern.

Aus grauen Flächen werden bunte

Ehepaar Gieselmann

Das Ehepaar Gieselmann in ihrem Vorgarten.

Und es gibt noch einen weiteren Faktor: die Optik. „Die Nachbarn haben gefragt, wann diese Mondlandschaft endlich wegkommt“, sagt Gabriele Gieselmann. Gemeint war ihr Vorgarten. Als die Herforderin mit ihrem Mann um die Jahrtausendwende baute, wollte auf der Fläche einfach nichts wachsen. „Das war festgedrückter Lehmboden“, erinnert sich Gieselmann. „Deswegen kippten wir Schotter drauf.“ Nicht schön, aber leicht zu pflegen. In den ersten Jahren kümmerte sich auch niemand darum. Das änderte sich mit dem wachsenden Bewusstsein für das Insektenschwinden – und einem Buch. Der 2019 erschienene Bildband „Gärten des Grauens“ machte sich über Deutschlands Schottergärten lustig. „Da dachte ich mir: Wir müssen jetzt was machen“, so Gieselmann. Das Ehepaar entfernte die Steine, hob den Lehm aus, harkte und bewässerte. Ein Nährstoffkonzentrat brachte die Regenwürmer zurück. Dann bepflanzte ein Gärtner die 40 Quadratmeter große Fläche. Es kostete die Familie etliche Arbeitsstunden und mehrere hundert Euro. „Aber wenn jetzt im Frühjahr die ersten Blumen rauskommen, dann sitzen überall Hummeln“, sagt Gieselmann. „Und manchmal klingeln Leute, nur um uns zu sagen, wie schön der Garten aussieht.“

Mitmachen für mehr Lebensqualität und Gemeinschaftsgefühl

Manche Städte wie Pforzheim oder Euskirchen fördern es finanziell, wenn Menschen Steinwüsten in Gärten verwandeln. Doch Standard ist das nicht. „Derzeit variieren unsere Städte noch sehr stark in ihren Nachhaltigkeitsbestrebungen“, sagt Katharina Scherber. „Wenn wir von Schulnoten ausgehen, würde ich sagen, im Schnitt erhalten deutsche Städte eine 3.“

Katharina Roth

Katharina Roth, Geschäftsleiterin der nebenan.de-Stiftung

Gründe, warum diese nicht besser abschneiden, gibt es einige. Häufig sind es begrenzte Budgets. Manchmal stehen kurzfristige wirtschaftliche Interessen den langfristigen Nachhaltigkeitsbemühungen im Weg. Und nicht immer werden die Bürgerinnen und Bürger ausreichend in Entscheidungsprozesse eingebunden. Dabei könnten diese meist sehr gut beurteilen, was ihr Viertel lebenswert macht und was sich verbessern ließe, sagt Katharina Roth, Geschäftsleiterin der nebenan.de-Stiftung. „Sie sind wie ein Seismograph für gesellschaftliche Themen. Oft werden sie aktiv, bevor die Politik reagiert.“

Nachhaltige Nachbarschaft fördern

Die Stiftung fördert deutschlandweit nachbarschaftliches Engagement, unter anderem mit dem Deutschen Nachbarschaftspreis. In der Kategorie Nachhaltigkeit bewerben sich zum Beispiel Cleanup-Gruppen, die Müll aufsammeln. Andere bewässern gemeinsam die Bäume in ihrem Kiez, machen aus Brachen Blumenwiesen oder verwandeln ihren Hinterhof in einen Gemeinschaftsgarten. Manche schaffen auch Begegnungsorte, an dem gleich mehrere solcher Initiativen zusammenkommen. So wie das Gewinner-Projekt ida im hessischen Roßdorf. In den Räumen werden mal Pflanzen getauscht, dann Tipps für den Bau von Hochbeeten vermittelt oder Workshops zu gesunder Ernährung abgehalten. Beim Ideenwettbewerb „Klimaschutz nebenan“ gewann unter anderem ein Verein in Berlin Neukölln, der für Geflüchtete gespendete Fahrräder repariert. „Ehrenamtliche arbeiten gemeinsam mit den Geflüchteten daran, die Räder wieder fahrtauglich zu machen“, sagt Roth. „Die Geflüchteten sind Dank der Räder mobiler. Sie können zudem ihre handwerklichen Fähigkeiten einsetzen und neue Freundschaften schließen.“

Gleichgesinnte für nachhaltige Projekte finden

Gemeinsam alte Kleidung upcyclen, Lebensmittel retten und umverteilen oder in der Nachbarschaft helfen, Balkonkraftwerke zu installieren: Viele Initiativen, die Städte nachhaltiger machen, fördern auch das Gemeinschaftsgefühl. „Zusammen etwas aufzubauen macht Mut, fördert das Miteinander und hilft so auch dabei, Einsamkeit zu verringern“, sagt Katharina Roth. Das bestätigt Hans Georg Werner: Das Berliner TJP ist zwar eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche. Ins Repair-Café kommen aber auch ältere Menschen. „Manche haben ein knappes Budget und freuen sich, wenn sie ihren kaputten Föhn wieder zum Laufen bringen können. Andere mögen es einfach gerne, gemeinsam an einem Gerät zu schrauben und sich dabei zu unterhalten.“

„Die Digitalisierung hat es viel einfacher gemacht, in der eigenen Stadt Orte und Gleichgesinnte für Projekte zu finden“, sagt die Wissenschaftlerin Katharina Scherber. Über die Webseite foodsharing.de beispielsweise können überschüssige Lebensmittel für andere zur kostenlosen Abholung bereitgestellt werden. Petitionen oder Online-Beteiligungen geben Menschen die Möglichkeit, über neue Radwege oder Bebauungsvorhaben mitzubestimmen. „Beim Dialog KlimaAnpassung des Umweltbundesamts beispielsweise waren 2023 insbesondere auch Jugendliche und junge Menschen gefragt“, sagt Scherber. Ein anderes Beispiel ist das von der Barmer unterstützte Bürger*innenbudget, eine Initiative der Stadt Wuppertal, bei der die Bürgerschaft gemeinwohlorientierte Ideen online einreichen und darüber abstimmen kann, welche finanziert wird. Crowdfundings wiederum helfen, das nötige Geld für ein Tausch-Café oder Bewässerungssäcke für die Bäume in der Straße einzusammeln. „Egal ob Babyboomer, Gen X oder Gen Z: Wir alle sind so stark wie nie zuvor vom Klimawandel und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen betroffen“, sagt Katharina Scherber. „Wir haben aber auch viel mehr Möglichkeiten, die Welt mitzugestalten, in der wir leben.“

Die Klimakrise ist auch eine Gesundheitskrise. Indem sie sich kontinuierlich für den Schutz des Klimas engagiert, macht sich die Barmer für die Gesundheit ihrer Versicherten stark. Ihr Engagement – sowohl intern als auch als treibende Kraft im gesamten Gesundheitswesen – wurde bereits mehrfach honoriert. So gewann sie unter anderem Europas größte Auszeichnung für ökologisches und soziales Engagement in der Kategorie Krankenversicherung: den Deutschen Nachhaltigkeitspreis für Unternehmen. Vom F.A.Z.-Institut erhielt die Barmer die Auszeichnung „Vorreiter in der Nachhaltigkeit 2024“. Die Auszeichnung basiert auf einem Social Media Monitoring bei rund 15.000 Unternehmen aus verschiedenen Branchen. Im bundesweiten Krankenkassen-Vergleich des Magazins €uro zusammen mit dem Deutschen Finanz Service Instituts (DFSI) schnitt die Barmer 2024 als überregionale Testsiegerin in den Kategorien „Höchste Nachhaltigkeit für die Umwelt“, „Höchste Nachhaltigkeit Unternehmenskultur“ und „Höchste Nachhaltigkeit als Arbeitgeber“ ab. Der Deutschland-Test von Focus Money kürt sie ebenfalls zur Testsiegerin Nachhaltigkeit – und das bereits zum 6. Mal. Als erste deutsche Krankenkasse erzielte die Barmer außerdem die Silbermedaille von EcoVadis, dem weltweit führenden Anbieter von Nachhaltigkeitsratings.

Eine junge Frau fährt auf einer Straße Fahrrad.

Co-Benefits

Sich selbst etwas Gutes tun und dabei auch dem Klima? Wie solche nachhaltige Entscheidungen funktionieren, zeigt eine von der Barmer beauftragte Untersuchung.

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