Eine Frau schüttet aus einem Behälter einige Tabletten in ihre linke Hand.
Gesundheit 2030

Neuer Lieferantenkodex: "Jede Stimme für mehr Nachhaltigkeit zählt"

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Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

In einem Lieferantenkodex hat die Barmer Anforderungen zur Einhaltung grundlegender Standards bei Menschenrechten und dem Schutz der Umwelt formuliert. Diese Grundsätze werden auch die Richtschnur für künftige Verträge mit Herstellern von Arzneimitteln sein, wie Dr. André Breddemann, Apotheker und Leiter der Abteilung Arzneimittel, im Interview erläutert. Welche Ziele sich die Barmer darüber hinaus setzt, fragten wir Dr. Janine Voß, Leiterin der Abteilung Beschaffung und Nachhaltigkeit.

Herr Dr. Breddemann, Deutschland galt einst als „Apotheke der Welt“. Heute beziehen wir einen großen Teil unserer Medikamente aus dem Ausland, auch und gerade aus weit entfernten Ländern. Wie würden Sie die Situation derzeit beschreiben?

Dr. Breddemann: Seit etwa 20 Jahren beobachten wir eine dynamische Verlagerung der Arzneimittelproduktion ins Ausland, zum Beispiel nach Indien oder China. Dabei ist insbesondere die Produktion des aktiven Wirkstoffes eines Arzneimittels von Bedeutung. Dadurch entstehen in der Arzneimittelproduktion komplexe Lieferketten, die vor allem in Krisenzeiten unter Druck geraten können.

Dr. André Breddemann

Dr. André Breddemann ist Apotheker und Leiter der Abteilung Arzneimittel der Barmer.

Auch wenn bislang keine größeren pandemiebedingten Lieferengpässe durch Unterbrechungen der Lieferkette aufgetreten sind, so ist die Aufmerksamkeit für das Thema doch merklich gestiegen. Wir müssen uns also aktuell die Frage stellen, wie wir die Verfügbarkeit bestimmter versorgungsrelevanter Grundstoffe und Arzneimittel in Zukunft sicher gestalten können.

Es ist deshalb zu begrüßen, dass im Rahmen der Arzneimittelstrategie der Europäischen Union auch Produktionskapazitäten in der EU für bestimmte kritische Arzneimittel wie Antibiotika geprüft werden sollen. Daneben sollten weitere Maßnahmen geprüft werden, die zu einer Erhöhung der Versorgungssicherheit führen können, beispielsweise  eine konsequente Diversifizierung von Lieferketten.

"Für uns ist es wichtig, dass unsere Partner die im Kodex niedergelegten Grundsätze und Anforderungen beachten und sich für deren Einhaltung einsetzen."

Das Beispiel des mRNA-Corona-Impfstoffs von Biontech zeigt aus meiner Sicht derweil sehr eindrucksvoll, dass die Arzneimittelforschung in Europa und Deutschland weiterhin sehr innovativ ist und dass wir diese Innovationskraft zur Sicherung der Arzneimittelversorgung nutzen können.

Für die Versorgung ihrer Versicherten mit hochwertigen Medikamenten schließen die Gesetzlichen Krankenkassen Lieferverträge mit Herstellern. Die Barmer hat nun einen Kodex veröffentlicht, der Anforderungen zur Einhaltung grundlegender Menschenrechts- und Umweltschutzstandards formuliert. Es geht also um das Prinzip der Nachhaltigkeit unternehmerischen Handelns in einem Milliardenmarkt. Können Sie diese Zielsetzungen für Ihren Verantwortungsbereich etwas konkretisieren?

Dr. Breddemann: Nachhaltigkeit ist für uns ein Handlungsprinzip, das eine dauerhafte Nutzung natürlicher Ressourcen ermöglichen soll. Unser Kodex soll unseren Vertragspartnern „Leitplanken“ für ein verantwortungsvolles und ethisches Verhalten setzen. Konkret sehen wir folgende Ziele als vorrangig an:

  • die Sicherstellung der Qualität von Arzneimitteln,
  • die Stärkung der Resilienz unserer Lieferketten und
  • die stringente Einhaltung von Umweltstandards.

Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist, dass unsere Vertragspartner effektive Steuerungs- und Managementsysteme implementieren. Beispielsweise kann ein Umweltmanagementsystem aktiv dazu beitragen, Umweltbelastungen und -gefährdungen zu minimieren und den Umweltschutz im betrieblichen Alltag zu verbessern.

Über welche Nachhaltigkeits-Aspekte reden wir bei der Herstellung von Arzneimitteln im Allgemeinen und im Nicht-EU-Ausland im Besonderen eigentlich?

Dr. Breddemann: Aus meiner Sicht stehen Themen wie die Arbeitssicherheit, die Prozess- und Produktsicherheit, aber auch der verantwortungsvolle Umgang mit natürlichen Ressourcen und die Integrität im Geschäftsverkehr sowie die Fairness im Wettbewerb im Fokus.

Pandemiebedingt liegt natürlich ein weiteres Augenmerk - insbesondere bei Produktion im Nicht-EU-Ausland - derzeit auf dem Risiko- und Krisenmanagement. Es ist wichtig, dass unsere Lieferanten geeignete technische und organisatorische Maßnahmen ergreifen, die sowohl kurzfristige als auch langfristige Szenarien berücksichtigen, um die Liefersicherheit auch in Zeiten einer Pandemie sicherzustellen.

Mittels welcher Anforderungen setzen Sie den Kodex konkret um?

Dr. Breddemann: Der Kodex formuliert eine klare Erwartung. Für uns ist es wichtig, dass unsere Partner die im Kodex niedergelegten Grundsätze und Anforderungen beachten und sich für deren Einhaltung einsetzen. Bei Verdacht auf eine Missachtung dieser Grundsätze erwarten wir natürlich, dass unsere Partner uns umfassend über die Situation und eingeleitete Maßnahmen informieren. Auch eine Vertragskündigung als letztes Mittel ist nicht ausgeschlossen. Konkrete Regelungen finden sich in unseren Ausschreibungsunterlagen und Verträgen.

Nachhaltigkeit als unternehmensweite Aufgabe

Dr. Janine Voß ist Leiterin der Abteilung Beschaffung und Nachhaltigkeit der Barmer.

Dr. Janine Voß ist Leiterin des Bereichs Zentrale Dienste, zu dem auch die  Abteilung Beschaffung und Nachhaltigkeit gehört.

Frau Dr. Voß, wie ist die Idee dieses Kodex entstanden?

Dr. Voß: Viele große Wirtschaftsunternehmen nutzen einen Lieferantenkodex, um ihre Erwartungen an Nachhaltigkeit und die „Spielregeln“ für ihre Geschäftsbeziehungen deutlich zu machen. Als wichtiger Akteur im Gesundheitssystem bewegen wir ein Finanzvolumen, welches dem eines Dax-Konzerns entspricht.

Es lag also auf der Hand, in puncto Nachhaltigkeit klare Positionen zum Schutz von Umwelt und Ressourcen zu formulieren und am Beispiel der Arzneimittel auch die Versorgungssicherheit hervorzuheben. Der Kodex ermöglicht es unseren Lieferanten, sich grundlegend über unsere Standards zu orientieren.

Die Barmer schließt über Arzneimittelverträge hinaus Verträge für eine große Bandbreite an Produkten und Dienstleistungen. Damit unterscheiden sich natürlich die Nachhaltigkeitsanforderungen. Zwei Beispiele: Für Dienstleistungen im Niedriglohnsektor verlangen wir in Ausschreibungen eine detaillierte Kalkulation, um die Berücksichtigung des Mindestlohns zu überprüfen.

Bei unserer jüngsten Möbelausschreibung bewerten wir Nachhaltigkeitskonzepte der Lieferanten, dabei geht es zum Beispiel um die Reduzierung von Treibhausgas-Emissionen und die Zertifizierung eines systematischen Umweltmanagements.

In unseren Ausschreibungs- und Vertragsunterlagen gehen wir konkret auf relevante Aspekte ein, indem wir beispielsweise bei Werbemitteln bestimmte Zertifizierungen wie das GOTS-Siegel mit umwelttechnischen Anforderungen und Sozialkriterien einfordern. Einige unserer Partner haben uns berichtet, dass unser Kodex für Aufsehen in ihren Chefetagen gesorgt hat. Das freut uns natürlich. Es ist eine weitere Stimme für mehr Nachhaltigkeit, die erhoben wird. Und jede Stimme zählt.

Der nun ausgearbeitete Lieferantenkodex ist Bestandteil einer umfassenderen Strategie der Barmer in puncto Nachhaltigkeit. Was versteht die Barmer eigentlich unter diesem Begriff und in welcher Rolle sieht sie sich?

Dr. Voß: Der Begriff Nachhaltigkeit umfasst ein sehr breites Spektrum an ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten, die hier wohl den Rahmen sprengen würden. Wir orientieren unser Handeln unter anderem an den 17 Zielen der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung. Das Ziel Nummer 3 („Ein gesundes Leben für alle Menschen gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern“) entspricht genau unserer Aufgabe.

Wir kümmern uns mit hohem Einsatz um die Gesundheit von Millionen Menschen, bieten ihnen eine hochwertige Gesundheitsversorgung und stellen die langfristige Finanzierbarkeit der Solidargemeinschaft sicher. Wir sind ein verlässlicher Partner für unsere Versicherten und unsere Mitarbeiter, und das auch und gerade in Krisenzeiten. Und natürlich ist auch der Schutz unserer Umwelt unmittelbar mit der Gesundheit von Menschen verbunden.

Auf welchen Feldern und bei welchen Prozessen möchte die Barmer das Thema Nachhaltigkeit darüber hinaus vorantreiben? Und handelt es sich in gewisser Weise auch um eine Antwort an aktuelle gesellschaftliche Bewegungen wie Fridays for Future?

Dr. Voß: Wir verstehen Nachhaltigkeit als unternehmensweite Aufgabe, so wie sie in unserem gesetzlichen Auftrag verankert ist. In den vergangenen Jahren hat das Interesse an Nachhaltigkeitsthemen stark zugenommen.

Wir nehmen das zum Anlass, die Nachhaltigkeitsaspekte unserer Unternehmensstrategie für unsere Versicherten und die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteure deutlich herauszuarbeiten und über unsere nachhaltige Transformation transparent zu berichten - zum Beispiel im Rahmen einer wissenschaftlichen Kooperation mit dem Wuppertal Institut.

Wir nutzen Ökostrom und Fernwärme, bieten unseren Mitarbeitern Optionen für nachhaltige Mobilität an, arbeiten an der Vermeidung von Plastikmüll und reduzieren unseren Papierverbrauch. Unser Verständnis von Nachhaltigkeit ist umfassend.

Weitere Informationen

17 Ziele für nachhaltige Entwicklung haben sich die Vereinen Nationen in ihrer Agenda 2030 gesetzt.

Die Barmer hat eine Markterkundung zum Thema Nachhaltigkeit im Generikamarkt begonnen. Ziel ist ein vertiefter und umfassender Erkenntnisgewinn zum Status quo der Branche in Bezug auf Nachhaltigkeitsnachweise und eine Weiterentwicklung relevanter Aspekte nachhaltigen Handelns in der Arzneimittelversorgung. Hier geht es zur Übersicht aller aktuellen Markterkundungen.