Eine junge Frau steht mit mit einer Yoganmatte in der Hand am Fenster eines Yogastudios
Bewegung & Fitness

Neurogenes Zittern: Wirksam für Körper und Psyche oder nur Theorie?

Lesedauer unter 7 Minuten

Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Qualitätssicherung

  • Dr. med. Madeleine Zinser (Ärztin, Content Fleet GmbH)

Schaukeln, vibrieren, zucken oder beben – mit einer Serie von Körperübungen werden beim neurogenen Zittern die Muskeln in Bewegung gebracht. Das soll zahlreiche positive Effekte auf Körper und Psyche haben. Was die Wissenschaft über die Technik weiß und was Übende beachten sollten.

Manche Menschen erleben es als ein sachtes Schaukeln, andere als intensives Vibrieren, kräftiges Schütteln oder sogar Beben: neurogenes Zittern. Ausgelöst wird es durch eine Reihe von Körperübungen, die die Oberschenkelmuskulatur zum Zittern bringen – und damit heilsame Effekte für Körper und Psyche entfalten sollen, wenn man Befürworterinnen und Befürwortern glaubt. Ursprünglich zur Therapie von Folgen psychischer Traumata entwickelt, wird die Methode inzwischen über Bücher, Apps und soziale Medien für eine breite Palette an Anliegen empfohlen: etwa bei Schlafstörungen, Burnout, chronischen Schmerzen oder Verdauungsproblemen. Was ist dran am Zitter-Trend?

Was ist neurogenes Zittern?

Neurogenes Zittern wird aktiv herbeigeführt und soll unter anderem entspannend wirken. Für die Psychologin Hildegard Nibel ist es „ein Selbstheilungsreflex des Körpers, den man durch verschiedene Arten von Anstrengung oder Überanstrengung auslösen kann.“ Sie hat ein Buch über die Technik geschrieben und wendet sie seit vielen Jahren selbst oder mit Klientinnen und Klienten an.

Die Theorie eines im menschlichen Organismus angelegten, natürlichen Zitterreflexes entwickelte der US-Amerikaner und Sozialarbeiter David Berceli, nachdem er bei einem Auslandsaufenthalt selbst traumatische Erfahrungen machen musste. 

Berceli suchte zusammen mit anderen Menschen Schutz im Keller eines Gebäudes, das mit Mörsergranaten beschossen wurde. Dabei fiel ihm auf, dass sich alle instinktiv in einer schützenden Körperhaltung zusammenkauerten, jedes Mal, wenn eine Granate einschlug. An sich selbst bemerkte er, dass die wiederholte Bewegung eine bestimmte Art der Muskelspannung erzeugte, die nicht wieder verschwand. 

Aus Bercelis Sicht ist es genau diese im Körper gehaltene Übererregung, die Teil der PTBS-Reaktion ist (PTBS = Posttraumatische Belastungsstörung). Außerdem machte er eine weitere Beobachtung, als er mit Geflüchteten sprach, die schwer traumatisierende Situationen durchleiden mussten: Viele von ihnen erlebten ein unkontrollierbares Zittern, sobald die Bedrohung vorüber war. Eine instinktive Reaktion, die Berceli als Weg deutete, die Anspannung zu lösen und darüber auch die psychischen Folgen zu reduzieren.

„Viele von uns kennen das: Wenn man zum Beispiel nach einem Beinahe-Unfall wieder zur Ruhe kommt, dann zittern die Hände oder die Knie werden weich“, sagt Nibel. „Doch viele Erwachsene unterdrücken diesen natürlichen Zitterimpuls, weil es uns peinlich ist, wenn wir vermeintlich die Kontrolle über uns verlieren.“ Laut der Psychologin berauben wir uns damit einer effektiven Möglichkeit, in einen entspannten Zustand zurückzukehren.

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Wie lässt sich neurogenes Zittern auslösen? Sieben Übungen

Berceli entwickelte eine Reihe von Übungen, mit denen bestimmte Muskelgruppen gedehnt und angespannt werden, um so neurogenes Zittern hervorzurufen. Die Übungen beginnen im Stehen und haben zunächst zum Ziel, einen sicheren Stand zu schaffen und verkrampfte Muskeln zu lockern, etwa in den Füßen, Sprunggelenken, Waden und Oberschenkeln. Auf dem Rücken liegend werden dann Becken und Beine in einer speziellen Position angespannt, gehalten und gedehnt, wodurch bei vielen Menschen die Muskulatur zu zittern beginnt. Allerdings nicht unkontrolliert: Verändert man die Beinstellung, lässt sich das Zittern stoppen. 

„Das Schöne an den sieben Übungen ist, dass das Zittern relativ zuverlässig ausgelöst werden kann, wenn man ein bisschen Geduld mit sich hat“, sagt Psychologin Nibel. „Manche Leute schaffen es schon nach einer Viertelstunde. Andere müssen dafür ein bisschen länger üben.“ Einen großen Vorteil sieht Nibel darin, dass die Übungen im Gegensatz zu anderen Methoden wie Yoga oder Thai Chi unkompliziert auf eigene Faust zu erlernen sind. Denn Bercelis Anliegen war es, ganzen Bevölkerungsgruppen und einer Vielzahl von traumatisierten Menschen eine Technik an die Hand zu geben, die keinen Zugang zu Beratungsstellen oder Angeboten an Psychotherapie erfordert. 

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Wie oft und wie lange sollte man neurogenes Zittern ausüben?

Wie jede andere Entspannungsmethode auch, kann neurogenes Zittern etwas Übung erfordern, bis es sich vertraut und leicht anfühlt. Anbieterinnen und Anbieter empfehlen, maximal 15 Minuten zu zittern und sich im Idealfall zweimal pro Woche Zeit dafür zu nehmen. 

„Viele Leute finden zum neurogenen Zittern, weil sie ein bestimmtes Problem haben. Wenn das gelöst ist, hören sie mit den Übungen wieder auf“, erzählt Hildegard Nibel. Das sei schade, idealerweise baue man die Übungen in den Alltag ein und gönne sich regelmäßig eine Viertelstunde, in der man Kontakt zu seinem Körper aufnimmt und ihm etwas Gutes tut: „So wie man bei seiner Kaffeemaschine ab und zu einen Reinigungsgang macht.“

Welche Wirkung hat neurogenes Zittern?

Vorab: Einen empirisch gesicherten Nachweis über die Wirkmechanismen und die Wirksamkeit von neurogenem Zittern gibt es bislang nicht. Laut dem Entwickler der Technik, David Berceli, soll das Zittern tiefsitzende Spannungen im Körper lösen und das Nervensystem so regulieren, dass ein Zustand der Ruhe und Entspannung erreicht wird. Der Prozess soll dabei auf einer komplett unbewussten Ebene passieren.

Glaubt man den Anbieterinnen und Anbietern von Workshops und Einzelsitzungen rund um neurogenes Zittern, dann soll die Technik unterschiedlichste positive Wirkungen entfalten: So würden etwa Ängste, Stressempfinden und PTBS-Symptome reduziert, Leistungsfähigkeit und emotionale Belastbarkeit gesteigert und chronische Schmerzen gelindert. Insgesamt verstärke sich laut den Anbieterinnen und Anbietern das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Kontrolle über das eigene Leben.

Neurogenes Zittern: Mit gezielten Übungen sollen Stress und Anspannung abgebaut werden.

Neurogenes Zittern: Mit gezielten Übungen sollen Stress und Anspannung abgebaut werden.

Bisherige Studienergebnisse sind allerdings nur bedingt aussagekräftig. Es gibt Untersuchungen, die gar keinen Effekt von neurogenem Zittern feststellen konnten. Andererseits deuten die Ergebnisse kleinerer Forschungsarbeiten darauf hin, dass neurogenes Zittern zumindest subjektiv positive Auswirkungen haben kann. So berichten Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmer etwa von verbessertem Schlaf, verringerter Symptomschwere und höherer Lebensqualität. 

Wer von den Übungen auf welche Weise und in welchem Umfang profitieren könnte, dazu kann die Wissenschaft bislang keine verlässliche Aussage treffen. Sowohl die Entstehung als auch die angenommenen Wirkungen der Technik basieren vor allem auf Erfahrungswerten, Fallberichten und Beobachtungen. So räumen auch Vertreterinnen und Vertreter der Methode ein, dass größere, kontrollierte Studien notwendig wären.

Vor diesem Hintergrund schreibt die US-amerikanische Ärztin Harriet Hall: „Die Begründung und die angeblichen Mechanismen ergeben aus medizinischer oder wissenschaftlicher Sicht keinen Sinn.“ Das durch die Übungen hervorgerufene Zittern sei eine natürliche Reaktion auf Muskelermüdung, eine lästige Nebenwirkung, die keine nachweisbaren Vorteile habe. Allerdings bezweifelt Hall nicht, dass die Methode Menschen entspannt und „aufgrund von Erwartung, Suggestion und anderen psychologischen Faktoren Placebo-Reaktionen und subjektive Verbesserungen hervorrufen kann.“

Neurogenes Zittern: ein Erfahrungsbericht
Carola Hauser (Name geändert), 34 Jahre:

„Der Tod meines Partners hat mich sehr traumatisiert. Ich habe mir professionelle Unterstützung gesucht, um besser damit fertig zu werden. Als meine Therapeutin mir nach einigen Terminen vorgeschlagen hat, Übungen zu machen, die meinen Körper zum Zittern bringen sollen, war ich zunächst sehr skeptisch. Die Übungen selbst waren erstaunlich simpel und unspektakulär. Am Ende sollte ich mich in einer bestimmten Position auf den Rücken legen und sofort haben meine Oberschenkel zu zittern begonnen. Ganz leicht und überhaupt nicht unangenehm. Ähnlich, wie ich es nach dem Joggen kenne, wenn ich mich hinsetzte und die Muskeln noch eine Weile zucken.

Emotional hat das bei mir in dem Moment nicht viel ausgelöst. Es war eher interessant, weil ich meinen Körper so bisher nicht kannte. Danach war ich sehr entspannt und hatte das gute Gefühl, etwas für mich und die Bewältigung tun zu können. Ob sich an meinem Umgang mit dem Trauma etwas geändert hat, kann ich schwer sagen. Es geht mir viel besser, negative Erinnerungen überfallen mich seltener und haben auch nicht mehr so viel Intensität. Aber ich weiß nicht, ob das an den Gesprächen liegt oder den Übungen oder der Zeit, die inzwischen vergangen ist. Eigentlich ist das ja auch egal.“

Ist neurogenes Zittern gefährlich?

Grundsätzlich ist neurogenes Zittern eine einfache Technik, die ähnlich wie andere Entspannungsmethoden wenige Risiken mit sich bringt. Aber auch wenn die Idee dahintersteckt, dass sich jede und jeder ohne Zugang zu Beratungsstellen die Übungen selbst beibringen kann, sollten nicht alle einfach damit loslegen. Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen oder psychischen Erkrankungen – vor allem mit Traumafolgestörungen – sollten vor der Durchführung der Übungen mit ihrer Ärztin oder ihrem Psychotherapeuten sprechen und klären, ob es im individuellen Fall Bedenken gibt.

Eine junge Frau mit verschränkten Armen schaut traurig

Gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Traumafolgestörungen sollten sich ärztlich beraten lassen, bevor sie versuchen sich auf eigene Faust mit neurogenem Zittern zu therapieren.

Vorsicht ist außerdem bei Anleitungen in den sozialen Medien geboten: „Auf YouTube und TikTok gibt es viele Leute, die versuchen, ihre Hände in diesem Wasser zu waschen. Sie zeigen nur die letzte der sieben Übungen, die sehr effektheischend sein kann“, sagt Hildegard Nibel. „Das Risiko ist groß, dass dabei Traumata reaktiviert und Angstzustände, Schmerzen oder Migräneattacken ausgelöst werden können.“

 Die Psychologin empfiehlt, sich langsam an das Zittern heranzutasten und auf jeden Fall die ganze Übungsreihe durchzuführen, denn die Vorübungen dienten der Stabilisierung und Aktivierung und sollten von Anfängerinnen oder Anfängern nicht übersprungen werden.

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