Eine Frau und ihre Tochter schauen Bücher in einem Buchgeschäft an
Psychische Gesundheit

Inflation in Deutschland: Drei Geschichten

Lesedauer unter 7 Minuten

Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Die Inflation ist in Deutschland momentan so hoch wie seit 70 Jahren nicht. Strom, Gas, Benzin, aber auch Dienstleistungen und vor allem Lebensmittel sind deutlich teurer geworden. In Deutschland findet gerade eine starke Geldentwertung statt. Weil aber die Löhne in der gleichen Zeit kaum oder gar nicht angepasst wurden, machen sich viele Menschen große Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation. Viele befürchten, dass sie ihren Lebensstandard nicht halten können, die Gebühr für den Sportkurs ihres Kindes bald nicht mehr bezahlbar sein könnte oder kein Geld für Weihnachtsgeschenke übrig bleibt. 

Wir haben drei Familien gefragt, wie sich die Inflation auf ihren Alltag auswirkt, was ihnen Angst macht und wie sie versuchen damit umzugehen. Drei Erfahrungsberichte:

„Fitnessstudio und Spanischkurs sind nicht mehr drin.“ 

Christina Bordewick (43) ist alleinerziehende Mutter einer sechzehnjährigen Tochter. Sie betreibt einen kleinen Bio-Laden und musste bereits den einzigen Mitarbeiter entlassen.

Gerade ist eine neue Brotlieferung in Christina Bordewicks Bio-Laden eingetroffen – frisch vom Bäcker um die Ecke. Seit die 43-Jährige vor fünf Jahren ihr Geschäft eröffnet hat, bezieht sie von diesem Bäcker ihr Brot. „Es ist das beste Brot, was man hier weit und breit kriegen kann“, sagt Christina Bordewick. „Keine Massenware, sondern handgemachter Teig ohne Triebmittel aus guten Biozutaten.“

Doch seit Anfang des Jahres bleibt am Abend immer etwas Brot in ihren Regalen liegen. Ein Preis von 6,70 Euro pro Laib ist für viele ihrer Kundinnen und Kunden mittlerweile zu teuer. „Viermal hat der Bäcker wegen der erhöhten Rohstoffkosten schon die Ankaufpreise nach oben gesetzt. Die letzten zwei Erhöhungen habe ich schon gar nicht mehr an meine Kunden weitergegeben“, erzählt die alleinerziehende Mutter einer sechszehnjährigen Tochter.

Bei den meisten anderen Waren verhält es sich ähnlich. Ihre Hoffnung: Irgendwie konkurrenzfähig bleiben gegenüber größeren Geschäften oder Ketten, denen es leichter fällt, die Preise stabil zu halten. „Im Grunde kann ich sogar verstehen, wenn man nach günstigeren Angeboten schaut. Meine Tochter und ich sparen jetzt auch, wo wir nur können“, sagt die 43-Jährige. Im letzten Monat haben beide ihre Fitnessstudio-Mitgliedschaft gekündigt und Christina Bordewicks Spanischkurs liegt auch auf Eis – alles zu teuer, obwohl ihre Tochter nebenbei noch Zeitungen austrägt. Dabei würde beiden die Bewegung als Ausgleich sehr guttun.

Bis vor kurzem lief der Bio-Laden wunderbar. Erst letzten Sommer konnte Christina Bordewick in die Haupteinkaufsstraße ihres Viertels ziehen und einen zweiten Mitarbeiter einstellen. „Eigentlich hatte ich geplant, mir im Januar 2023 eine lang ersehnte Auszeit zu gönnen.“ Einen Monat lang wollte Christina Bordewick reisen, Fortbildungen besuchen und sich vom Stress erholen. Eine Pause, die eigentlich dringend nötig wäre. „Seit der Gründung meines Ladens war ich nicht einmal im Urlaub. Erst sollte das Geschäft gut laufen.“

Selbst Corona hat sie dank vieler kreativer Verkaufsideen gut überstanden. „Doch seit durch die teureren Preise immer weniger Kunden kommen, weiß ich nicht, wie lange ich noch meine Rechnungen bezahlen kann. Vor allem, weil bald auch meine Strom- und Gaspreisbindung wegfällt.“ 

Um darauf vorbereitet zu sein, hat Christina Bordewick ihre Auszeit auf unbestimmte Zeit verschoben und ihren neuen Mitarbeiter wieder entlassen, was sie seelisch sehr belastet: „Es tat mir so weh, diesen Schritt gehen zu müssen. Hoffentlich geht es ja im nächsten Jahr wieder bergauf. Dann hole ich den Mitarbeiter wieder zurück und ich fahre endlich mit meiner Tochter in den Urlaub.“

„Die Unbeschwertheit ist weg.“

Elisa und Stephan Martin (42 und 43 Jahre) haben Angst ihre Jobs zu verlieren, ihren zwei 7- und 11-jährigen Kindern mussten sie den ersehnten Toskana-Urlaub streichen. 

2022 sollte ihr Jahr werden. „Wir waren während des ersten Coronamonate beide in Kurzarbeit. Das haben wir genutzt, um unsere berufliche Zukunft noch einmal genau zu überdenken“, erzählt Stephan Martin. Als die Wirtschaft nach den Lockdowns langsam wieder Schwung aufnahm, suchten sich beide neue Jobs: Stephan Martin, der eigentlich in der Werbebranche arbeitet, machte eine Weiterbildung zum IT-Fachmann; Elisa Martin wechselte als Einkäuferin eines großen Modekonzerns zu einem kleinen Bio-Startup.

„Wir waren voller Tatendrang. Noch einmal etwas Neues wagen, das sich sinnvoll anfühlt, das uns und unseren Kindern andere Perspektiven bietet“, erzählt Elisa Martin. Doch die Freude hielt nicht lange an. Vor allem bei Elisa Martins neuem Arbeitgeber zeichnete sich schnell ab, dass der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehenden wirtschaftlichen Entwicklungen nicht spurlos vorbeigehen würden. „Wir produzieren Müslis und gesunde Snacks. Unsere Produkte sind eigentlich beliebt und in fast jedem Drogeriemarkt in Deutschland vertreten“, erklärt die 42-Jährige. „Nur hilft uns das leider momentan nicht.“ Weil zum Beispiel das Papier teuer wurde, sind die Verpackungspreise in die Höhe geschnellt.

Auch die Nachfrage nach gesunden Lebensmitteln wird stetig weniger. „Wir spüren den Druck immer stärker. Eine Krisensitzung folgt der nächsten und letzte Woche wurde schließlich vier meiner 30 Kolleginnen und Kollegen gekündigt.“ Elisa Martin weiß nicht, wie lange sie ihren Job behalten wird. „Ich bin ja noch in der Probezeit. Momentan gehe ich nicht davon aus, dass ich danach bleiben kann. Ich bin auch unsicher, ob ich das möchte. Jeden Tag, an dem ich ins Büro komme, kann ich die angespannte Lage spüren. Sie bereitet mir körperliches Unbehagen. Die Unbeschwertheit, die ich hier anfangs gespürt habe, ist komplett weg.“

Stattdessen heißt es für Elisa Martin jetzt wieder: umdenken, neu ausrichten und sich mental darauf vorbereiten, dass sie bald keinen Job mehr haben könnte. Im Weihnachtsurlaub geht es jetzt statt in die Toskana zu den Großeltern in den Harz. Auch bei den Hobbys müssen die Martins Abstriche machen: Elisa Martin und ihr älterer Sohn nehmen eigentlich gemeinsam Gitarrenunterricht. Doch statt wöchentlich, treffen sie sich nur noch alle zwei Wochen mit dem Musiklehrer.

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„Bevor die Mietschulden zu groß wurden, zogen wir die Reißleine.“

Katja Kegel (43 Jahre) musste ihr Handarbeitsgeschäft verkaufen, ihr Mann Jan Kegel (45 Jahre) ist als Tischler zum Glück noch gut beschäftigt.

„Eigentlich war es immer mein Traum selbstständig zu sein“, sagt Katja Kegel mit belegter Stimme. Erst zwei Wochen ist es her, dass sie ihr Handarbeitsgeschäft nach zehn Jahren schließen musste. „Im Grunde ist der Krieg in der Ukraine Schuld daran, dass ich mich jetzt nach etwas Neuem umschauen muss.“

Während Corona sah es für die 43-jährige noch so aus, als könnte sie bald einen größeren Laden anmieten. „Alle waren zuhause und wollten sich sinnvoll beschäftigen“, erinnert sich Katja Kegel. „Ich konnte mich kaum retten vor Anfragen. Ich habe sogar angefangen, Online-Nähkurse zu geben.“

Doch mit dem Beginn des Krieges gingen die Kauflust und Experimentierfreudigkeit ihrer Kundinnen und Kunden drastisch zurück. „Manchmal habe ich an einem Tag nur zwei Knäuel Wolle oder ein paar Meter Stoff verkauft.“ Katja Kegel zog die Reißleine, bevor die Mietschulden zu groß wurden. „Mittlerweile bin ich erleichtert, auch wenn es traurig ist, einen Traum zu begraben.“ Immerhin: Ihr Mann Jan ist als Tischler momentan noch gut im Geschäft. „Wir wissen aber auch nicht, wie lange das noch so weitergeht. Das Holz wird immer knapper und teurer. Und wegen der gestiegenen Zinsen, kaufen weniger Menschen Häuser, die wir bauen oder renovieren könnten“, sagt der 45-Jährige. Momentan arbeiten er und sein Team hauptsächlich bestehende Aufträge ab und hoffen, dass bald genug neue kommen. 

Glücklicherweise hat der Strom- und Gasanbieter der Familie Kegel bislang seine Preise nicht erhöht. „Das steht erst im nächsten Jahr an“, hofft Katja Kegel. Um finanziell auf alles vorbereitet zu sein, führen die Kegels schon jetzt ein striktes Haushaltsbuch. Alle Einnahmen und Ausgaben werden genau aufgeschrieben. Was nicht nötig ist, wird nicht gekauft oder abbestellt – wie der Streamingdienst, der eh kaum eingeschaltet wird.

„Nur bei den Lebensmitteln geht Qualität noch immer vor Preis“, sagt Katja Kegel. „Gesund zu essen, ist uns wichtig.“ Dafür spart die Familie lieber an Luxusgütern wie Kleidung oder Dekoartikeln. „Die meisten schönen Dinge für unser Haus oder zum Anziehen können wir sowieso selbst machen. Das ist ein großes Glück“, so Jan Kegel. Und für Katja Kegel gibt es noch einen neuen Hoffnungsschimmer: Seit Anfang des Monats hat sie einen neuen Job. Sie packt in Vollzeit Gemüsekisten bei einem Obst- und Gemüselieferanten. „Es ist weniger Geld als früher, aber immerhin ein regelmäßiges Einkommen. Und nach dieser Krise sehen wir dann weiter.“