Toxische Positivität sieht positives Denken als einzige Lösung für Probleme und führt dazu, dass wir negative Gedanken oder Gefühle verdrängen. Das schadet uns selbst - aber auch anderen.
Was ist Toxic Positivity?
#goodvibesonly – während der Corona-Pandemie suggerierte dieser Hashtag: Sei positiv! Egal, was kommt. Und auch schon lange vor den Lockdowns wird in Büchern und populären Medien der Wert des positiven Denkens betont. Mit der richtigen Anleitung könne jede und jeder „zur „Selfmade Glücksionärin werden“, das „Mindset neu programmieren“ und „Ängste für immer überwinden“, so das Versprechen.
Tatsächlich gibt es einige Belege dafür, dass eine positive Grundhaltung die psychische Gesundheit verbessern kann. Doch ist positives Denken kein Allheilmittel für die Herausforderungen des Lebens. Wenn man sich selbst regelmäßig eine positive Haltung abringt, obwohl man das Gegenteil empfindet, kann dieser Zwangsoptimismus nach hinten losgehen.
Denn der Druck, positiv zu bleiben, kann die eigenen Gefühle unterdrücken, zu Schuldgefühlen und Scham führen und verhindern, dass man um Hilfe bittet. Unangenehme Gefühle werden abgetan, auf Notlagen reagiert man bei sich selbst und anderen mit Beschwichtigungen statt mit Empathie. Die Positivität wird toxisch.
Ursprünglich wurde das Phänomen in den USA benannt. Seit einigen Jahren entwickelt sich ein Verständnis davon auch hierzulande und verbreitet sich unter dem Begriff „Toxische Positivität“. Gemeint ist damit die Überzeugung, dass man, egal wie schlimm oder schwierig eine Situation ist, eine positive Einstellung beibehalten sollte.
Doch die Haltung, dass nur „gute" Gefühle erlaubt sind und dass eine positive Einstellung alle Probleme lösen kann, ist ein Irrglaube. Denn das Leben läuft nicht immer rund. Wir alle haben neben schönen Erlebnissen auch mit negativen Gefühlen zu leben. Wer sie zulässt und akzeptiert, kann sie besser verarbeiten und konstruktiv nutzen.
Natürlich sind Empfindungen wie Trauer, Enttäuschung oder Angst für die meisten Menschen unangenehm. Doch sind sie Teil einer emotionalen Vielfalt, die wichtig für unsere Gesundheit zu sein scheint. So haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausgefunden, dass Personen mit einem großen Spektrum an unterschiedlichen Gefühlen, also mit einer großen „Emodiversity“, eine niedrigere Konzentration an entzündungsfördernden Stoffen im Blut aufweisen und damit ein geringeres Risiko für bestimmte chronische Erkrankungen haben.
Wie sich Toxic Positivity zeigt
Toxische Positivität treibt das positive Denken in ein überzogenes Extrem. Diese Haltung betont nicht nur die Bedeutung des Optimismus, sondern verdrängt und verleugnet menschliche Emotionen, die nicht ausschließlich glücklich oder positiv sind. Damit ist diese Haltung eigentlich unbewusst negativ, nämlich schwierigen Gefühlen oder schmerzlichen Einsichten gegenüber. Sichtbar wird sie in Sprüchen und Glaubenssätzen, mit denen man Menschen begegnet, die in einer schwierigen Situation um Rat bitten, oder mit denen man sich selbst beschwichtigt. Zum Beispiel:
- „Alles geschieht aus einem bestimmten Grund."
- „Du hast 100 Prozent deiner schlimmsten Tage überlebt."
- „Wachse durch das, was du durchmachst."
- „Das Comeback ist immer stärker als der Rückschlag."
- „Jede Krise birgt eine Chance.“
- „Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus.“
- „Was dich nicht umbringt, macht dich härter.“
Wie Toxic Positivity schaden kann
Der Versuch, in Zeiten einer Krise optimistisch zu bleiben, ist eine gute Sache. Das bedeutet jedoch nicht, dass negative Gefühle unterdrückt werden sollten. Denn durch Verdrängung kann man zwar das Symptom überdecken, aber nicht das eigentliche Problem. Auch ist eine annehmende, optimistische Haltung kein Garant dafür, ohne Hürden und Rückschläge durch das Leben zu kommen.
In ihrem Buch Die Happiness-Lüge stellt die Autorin Anna Maas die Frage: „Ist tatsächlich etwas dran an dem viel zitierten ‚Law of Attraction‘, das unser Schicksal ganz allein in unsere Hände legt, frei nach dem Motto ‚Wer positiv denkt, dem widerfährt Gutes‘?“. Und sie hat eine klare Antwort darauf: „Nein, denn durch die allgegenwärtige Glückssuche entsteht Druck: „Jede und jeder muss immer positiv denken, für schlechte Gefühle ist kein Platz. Wer es nicht ‚schafft‘, optimistisch zu bleiben, hat versagt.“
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Besonders in schweren Lebensphasen wird das zum Problem. So erklärte der Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung schon Anfang des 20. Jahrhunderts: „Was man ablehnt, bleibt nicht nur bestehen, sondern wird immer größer." Wer einen Teil seines Gefühlsspektrums verdrängt, verleugnet einen essentiellen Teil seiner selbst und riskiert, emotional abzustumpfen und seine eigene Lebensenergie auszubremsen. Auch der Kontakt mit anderen Menschen kann durch toxische Positivität vergiftet werden, weil echte Verbundenheit nur dann entsteht, wenn man sich authentisch zeigen und in allen Facetten zumuten kann – in guten wie in schlechten Zeiten.
Hinzu kommt: Durch eine krampfhaft positive Haltung werden Herausforderungen mit watteweichen Floskeln überdeckt. Anstatt nach Lösungen zu suchen und um Unterstützung zu bitten, gibt man den Anschein, als wäre alles in Ordnung. Wütender Antrieb, inneres Wachstum oder echte Veränderung können so nur schwer entstehen. Denn: Negative Gefühle weisen uns auch darauf hin, wenn eine Situation für uns nicht stimmig ist, unsere Bedürfnisse ignoriert werden oder etwas unseren wichtigsten Werten widerspricht.
So wirkt sich Toxic Positivity auf andere Menschen aus
- Fehlende Empathie: Wenn jemand leidet, muss er wissen, dass die eigenen Gefühle berechtigt sind und dass er in seinem Freundeskreis oder seiner Familie Unterstützung finden kann. Toxische Positivität jedoch signalisiert den Menschen, dass ihre Gefühle anders sein müssten.
- Schuldgefühle: Toxische Positivität führt zu einem schlechten Gewissen. Denn sie vermittelt die Botschaft, dass man etwas falsch macht, wenn man keinen unmittelbaren Weg aus der Enttäuschung, dem Ärger, der Trauer oder dem Schmerz findet.
- Distanz: Toxische Positivität fungiert als Vermeidungsmechanismus. Denn sie ist ein Weg, emotionalen Situationen auszuweichen, die unangenehm sein könnten. Durch eine zwanghaft positive Einstellung werden schwierige Gefühle überdeckt und ein falsches Bild erzeugt: Alles gut bei mir – und du so? Entspricht diese Botschaft nicht der Wahrheit, wirkt das unehrlich und erzeugt Distanz in einer Beziehung.
- Oberfläche statt Tiefgang: Toxische Positivität verhindert, dass wir wachsen. Sind wir immer positive minded, halten wir uns von Dingen fern, die schmerzhaft sein könnten. Das verwehrt uns die Chance, uns herausfordernden Gefühlen zu stellen, die zu tieferen Einsichten führen können. Wir bleiben emotional stehen – mit der Folge, dass die Verbundenheit zu anderen leidet, kein tieferer Austausch möglich ist und der Kontakt oberflächlich bleibt.
Statt Toxic Positivity: Emotionen als Werkzeuge nutzen
Ausschließlich positive oder negative Emotionen zuzulassen, ist nicht gesund. Denn über den Tag verteilt durchschreiten wir ganz normal emotionale Täler und erklimmen psychische Höhen. „Einige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich Menschen, die ihren eigenen negativen Emotionen ausweichen, später noch schlechter fühlen", schreibt Tabitha Kirkland, Psychologin und außerordentliche Professorin an der Fakultät für Psychologie der Universität Washington.
„Wir müssen Emotionen als Werkzeuge oder Informationen betrachten, anstatt uns nur darauf zu konzentrieren, wie sie uns fühlen lassen. Wenn Sie Ihre eigenen Emotionen immer wieder verdrängen, werden diese Sie so lange verfolgen, bis Sie sich endlich mit ihnen auseinandersetzen.“
Alle Emotionen seien funktional und hätten einen Zweck, meint Kirkland. Sie sind ein Signal für die Person, die sie erlebt, oder für die Person, der sie mitgeteilt werden. Sie beinhalten also eine wichtige Botschaft, die wahrgenommen werden will. Grundsätzlich, so die Professorin, sei an einer positiven Einstellung nichts auszusetzen. Toxische Positivität allerdings lehnt Emotionen ab, anstatt sie zu bejahen, und könnte aus einem Gefühl des Unbehagens heraus entstehen. „Statt Gefühle – auch negative – zu unterdrücken, sollte man sie annehmen und einen ausgeglichenen Umgang mit ihnen finden.“
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Gefühle ausbalancieren: So klappt es in der Praxis
- Übe dich in emotionaler Akzeptanz. Hinter diesem Ansatz steckt die Idee, Gefühle zu akzeptieren, ohne sie zu bekämpfen oder zu beurteilen. Indem wir lernen, unsere Emotionen wahrzunehmen oder einfach zu fühlen, ohne etwas zu tun, lernen wir, nicht vor ihnen wegzulaufen. Helfen können dabei Meditationskurse oder Achtsamkeitstrainings.
- Schau hinter die Kulissen. Woher kommt das schlechte Gefühl? Was steckt wirklich hinter meiner Sorge, meinem Ärger, meinem Frust? Der konstruktive Umgang mit Gefühlen ist auch ein kognitiver Prozess. Indem wir unseren Emotionen eine Erklärung geben und Muster erkennen, können wir sie ein Stück weit regulieren.
- Ändere deine Sprache, wenn dir jemand ein Problem schildert, und verkneife dir Floskeln wie „Denk doch mal positiv". Die Botschaft, „deine Gefühle sind berechtigt; wie kann ich helfen?" ist für dein Gegenüber sehr viel hilfreicher.
- Gib eigene Fehler zu. Wenn du merkst, dass du die negativen Gefühle eines nahestehenden Menschen übergangen oder ignoriert hast, obwohl er sich dir anvertrauen wollte, gestehe den Fehler ein.
- Hinterfrage deinen Impuls, negative Gefühle von anderen zu relativieren oder wegzudrücken. Welche Ängste stecken dahinter? Welche schlechten Erfahrungen hast du vielleicht gemacht? Was lösen bestimmte Emotionen in dir aus, wenn andere sie dir offenbaren?
- Mach Sätze wie "Mach dir nichts draus" oder "Das wird schon wieder" niemals zur Maxime. Vielleicht trösten sie dich selbst in bestimmten Situationen über eine Enttäuschung oder ein frustrierendes Erlebnis hinweg. Aber andere Menschen machen andere Erfahrungen und bringen einen anderen Hintergrund mit. Womöglich werden sie durch deine Ratschläge verletzt.
- Geh mit Gefühlen ehrlich um. Nur wer sich als ganze Person und mit dem kompletten Gefühlsspektrum zeigt, kann Empathie erfahren oder in schwierigen Situationen Verbundenheit erleben. Wer offen ist, dem werden sich auch andere Menschen eher öffnen.
- Sortiere auf Social Media-Kanälen alles aus, was durch toxische Positivität Druck bei dir erzeugt. Allen voran Posts mit Hashtags wie #goodvibesonly oder #totallyawsome. Sie spiegeln nicht das echte Leben wider, sondern zeigen nur einen inszenierten, pastellgetünchten Ausschnitt, der nicht als Modell funktioniert und falsche Erwartungen sowie die berühmte FOMO, also Fear of missing out, schürt.
- Mute dich zu, auch wenn du dich schlecht fühlst. Es wird Menschen geben, die nicht vor deinen Gefühlen zurückschrecken und die sie mit dir zusammen aushalten können. Du wirst merken, wie gut es tut, wenn jemand signalisiert: „Ich sehe, dass es dir gerade nicht so gut geht. Das ist ok.“
- Rede nicht immer alles schön. Einem Freund, der um Rat bittet, hilft deine ehrliche Meinung mehr, als die toxische Antwort: „Ist doch alles super.“ Das Gleiche gilt für dich selbst. Sei gnädig zu dir, besonders, wenn es nicht gut läuft, und stelle nicht zu hohe Erwartungen an deine Gefühlslage.
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