Auf Social Media, in der Fernseh-Werbung oder auch im Familien-Chat bei WhatsApp: überall fröhliche Gesichter, alle am Lachen und Lächeln, Grinsen und Glucksen – gute Laune weit und breit. Wut, Angst, Neid oder Scham? Finden nicht statt. Es scheint, als gebe es in dieser Welt keinen Raum für negative Emotionen. Und wer doch mal welche erlebt, der kann sich ja mit einem der unzähligen Ratgeber wieder in die Bahn bringen, die dabei „helfen“, ein Leben ohne Wut, Neid oder Angst zu führen.
Alles Quatsch. Gefährlicher Quatsch sogar: Der Begriff „toxic positivity“ bringt das gut zum Ausdruck. Denn: Vermeintlich „negative“ Emotionen sind gar nicht so negativ, sondern nützlich und wichtig. Doch wozu dienen Wut, Angst, Neid, Scham, Schuld, Trauer und Ekel, was ist ihre Bedeutung? Das sagt die Psychologie dazu.
Wut: Produziert Motivation und Stärke
Wut macht kaputt. Wut ist zerstörerisch. Wer wütend wird, seine Wut rauslässt, der hat sich nicht richtig im Griff, kann seine Emotionen nicht kontrollieren. Stimmt. Wirklich? Aber Moment mal. Wäre die Wut wirklich nur schlecht, dann dürfte sie sich in der Evolution des Menschen kaum durchgesetzt haben. Die Wut muss also auch Vorteile bringen.
Und tatsächlich: Sie entsteht, wenn uns Unrecht widerfährt. Dann werden wir wütend und die Wut verleiht uns Courage. Der Körper schüttet Noradrenalin aus, der Herzschlag steigt, der Blutdruck schnellt in die Höhe. Andere Personen sehen das in unseren Gesichtern – die Wut wird dann als Zeichen der Stärke interpretiert. Und: Wut motiviert uns, das erfahrene Unrecht wieder auszugleichen. Nachteile, die wir dabei erleben, werden ausgeblendet. Wir haben nur noch ein Ziel: Gerechtigkeit.
Angst: Freund statt Feind
Die eigene Angst, die gilt es zu überwinden. Angst ist für die Schwachen, die Zögerer, die Bedenkenträger. Wer an seinen Träumen festhalten mag, dem steht die Angst ohnehin nur im Weg. Also: raus aus der Komfortzone und … – Moment mal! Angst soll negativ sein?
Das mag ja vielleicht stimmen, wenn sie ein paar Dimensionen zu hoch ausfällt, so wie bei Flugangst oder einer Spinnenphobie. Oder wenn sie den Betroffenen den Alltag kaputt macht, so wie bei Angststörungen. Aber ansonsten ist Angst doch grandios. Denn sie ist der vielleicht größte Lebensretter der Welt: Da besser nicht runter, das ist zu hoch, geh mal lieber noch einen Schritt zur Seite! Die gelbe Linie hat schon ihren Grund, mach mal langsamer jetzt! Man denke auch mal an den Steinzeitmenschen, der keine Angst hatte: „Hallihallo, du Säbelzahntiger! Ich …“ – gefressen. Anstatt sie immer überwinden zu wollen, könnte man der eigenen Angst auch Folgendes sagen: Danke.
Danke, liebe Angst, dafür, dass du mir immer zeigst, was mir gefährlich werden könnte, damit ich dem dann aus dem Wege gehen kann.
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Neid und Eifersucht: Wie Bruder und Schwester
Neid, Eifersucht – wo ist denn da bitte der Unterschied? Mal nachlesen. Neid: wenn ich was haben will, das jemand anderes hat. Eifersucht: wenn ich was haben will, das jemand anderes hat und das mal meins war.
Ach, das ist ja wie bei unseren Kleinen: Wenn der eine mit dem Ball vom anderen spielen will, ist er neidisch. Wenn der andere mit dem Ball vom einen spielt und der eine will ihn zurück, dann ist er eifersüchtig. Okay, verstanden. Und wozu soll das nun gut sein? Der eine könnte ja einfach warten. Neid und Eifersucht motivieren dazu, sich aus einer schlechter gestellten Situation zu verbessern. Bezogen auf das, was einem wichtig ist. Klar: Ball haben ist besser als keinen Ball haben. Oder, evolutionär gesehen: Nahrung oder Partner zu haben ist besser als keine Nahrung und keinen Partner zu haben.
Also auch dir, Neid, und deiner kleinen Schwester, der Eifersucht, herzlichen Dank dafür, dass du uns zeigst, was uns wichtig ist und uns motivierst, es zu besorgen.
Scham: Sympathiepunkte bei anderen
Oh Gott, nein. Nein, nein, nein, wie peinlich! Das Gesicht wird rot, die Blicke der anderen werden tunlichst gemieden. Ausgerechnet jetzt, ausgerechnet hier! Verlegenes Lächeln, nervöses Zuppeln am Pulliärmel. Wo ist nochmal das Loch, um im Boden zu versinken? Scham. Jeder kennt das Gefühl, jeder würde es lieber nicht kennen. Und trotzdem hat auch diese Emotion ihren Zweck: Das Schamgefühl entsteht, wenn man den Blick auf sich selbst richtet, sich selbst betrachtet. Und dann ein bisschen Angst bekommt, etwas falsch zu machen. Forscher sagen: Wenn man Angst davor bekommt, einen eigenen Mindeststandard oder eine verinnerlichte soziale Norm zu verletzen.
So, dass einen andere am Ende blöd finden. Oder, vielleicht noch schlimmer, dass man sich am Ende selbst blöd findet. Oder beides. Scham ist zwar ein richtig blödes Gefühl – doch auch sie hat ihren Zweck für die Gesellschaft. Denn: Andere Menschen finden es sympathisch, wenn sich jemand schämt. Wer was Blödes macht, etwas umwirft oder fallen lässt, und sich anschließend schämt, den mögen die, die das gesehen haben, umso mehr. Sie sehen: Da weiß jemand, dass er einen Fehler gemacht hat, und bedauert es. Der ist also okay, mit dem geht es gerecht zu, der ist menschlich.
Schuld: Erst Reue, dann Wiedergutmachung
Das ging in die Hose, das war Mist. Sozusagen ein Verstoß gegen gesellschaftliche Standards, beziehungsweise Regeln, die der Gemeinschaft dienen. Ach Mensch, so will man sich ja auch selbst gar nicht verhalten, egal, was die anderen denken: Die Aktion war einfach falsch. Danke, liebe Schuld, dass du mir das mitteilst. Hast ja doch immer recht, auch wenn man das nicht immer gleich erkennt. Zum Glück zeigst du mir ja auch meistens gleich mit, wie das wieder in Ordnung gebracht werden kann. Also: Pardon! Oder Schwamm drüber?
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Trauer: Für Mut zur Veränderung
Das Herz so schwer, die Sicht ganz trüb, dumpf sind die Geräusche. Ob das jemals wieder weggeht? Traurigkeit, ach Traurigkeit. Auch die Trauer hat ihre … – naja, „guten Seiten“ wäre wohl nicht so treffend. Aber sogar Trauer hat eine Funktion. Denn Menschen sind traurig, wenn sie jemanden oder etwas verlieren, das ihnen wichtig war.
Oder wenn sie eine Niederlage erleben. Das heißt, dass auch die Trauer zeigt, was einem wichtig ist. Dazu fällt das Nachdenken leichter, wenn man traurig ist: Ziele werden neu bewertet, Trauer motiviert dazu, das eigene Leben anzupassen, vielleicht zu verändern. Und auch für die Gemeinschaft ist Trauer wichtig, denn man kann sie sehen. Und wer traurig aussieht, zum Beispiel weil er weint, dem spenden die anderen Mitgefühl und Hilfe.
Ekel: Zuverlässiger Schutz vor Gefahren
Bah! Igittigitt! Pfui Spinne, ist das eklig. Ach, schon klar, auch der Ekel ist zu was gut. Okay, mal sehen. Was findet man denn so alles ekelhaft? Fäkalien, Erbrochenes, Blut, Krabbelzeug wie Maden, Würmer oder Kakerlaken. Und vor allem: verdorbene, schmutzige Lebensmittel.
Hm, also alles Dinge, die einen krank machen können, wenn sie in den Körper geraten, weil man zum Beispiel verdorbenes Fleisch gegessen hat. Das passt ja auch dazu, dass das Hauptmerkmal von Ekel Brechreiz ist. Wer sich übergibt, der entledigt sich etwas, das dem Körper schadet, wirft es aus dem eigenen System, um nicht krank zu werden. Na gut, auch dir, lieber Ekel, herzlichen Dank dafür.
So what? Gefühle immer rauslassen?
Sollten die eigenen Gefühle also der oberste Maßstab sein und immer rausgelassen werden? Natürlich nicht. Ein Gefühl zu würdigen und zuzulassen, bedeutet lediglich zuzulassen, dass man es spürt. Bis es sozusagen zu Ende gefühlt ist und von allein verklingt. Was dann oft überraschend schnell geht. Ein Gefühl zuzulassen heißt aber nicht, alles zu tun, wonach einem währenddessen gerade ist vor lauter Wut oder Neid.
Ein paar Beispiele:
- Wut auf sein Kind zu haben ist durchaus ok. Das Gefühl ist manchmal verständlich und darf sein. Trotzdem darf man das Kind nicht schlagen. Auch nicht anschreien oder beleidigen.
- Angst vor einer Prüfung zu haben ist auch ok. Diese Angst darf dabei sein. Trotzdem sollte man hingehen zur Klausur oder zum Test.
- Eifersucht, wenn der Ex-Partner eine Neue hat, ist total in Ordnung und normal. Trotzdem sollte man die Trennung akzeptieren können.
- Neid auf die Leistung des Konkurrenten beim Sport? Ok, darf sein. Trotzdem greift man deshalb nicht zum Dopingmittel.
- Ekel, etwa bei der Pflege eines Angehörigen, darf man fühlen. Man sollte aber trotzdem helfen.
Es klingt ein wenig paradox. Aber am besten würdigen wir negative Gefühle, wenn wir ihnen in unserem Innern bereitwillig Raum geben, sie akzeptieren – und ihnen zugleich eben nicht die Regie über unser Handeln überlassen.