Die digitale Welt so mitgestalten, dass alle Teile der Gesellschaft teilhaben können: Diesem Ziel hat sich die Barmer verpflichtet. Wie die Krankenkasse diese Verantwortung und andere Aspekte ihrer Digital Corporate Responsibility (CDR) nach innen und außen wahrnimmt, erläutern die Digitalkoordinatorin Maria Hinz und der Chief Digital Officer Marek Rydzewski im Interview.
Frau Hinz, Herr Rydzewski, 2021 ist die Barmer der CDR-Initiative des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) beigetreten. Wie würden Sie die Ziele dieser Initiative beschreiben?
Marek Rydzewski: Die teilnehmenden Unternehmen bekennen sich zu ihrer Digital Corporate Responsibility, kurz CDR. Sie verpflichten sich also freiwillig, verantwortungsvoll mit der Digitalisierung und deren Folgen für die Umwelt, die Gesellschaft und die Wirtschaft umzugehen. Gemeinsam wollen wir neue Maßstäbe für digitale Verantwortung setzen, die über die gesetzlich vorgeschriebenen hinausgehen. Denn viele Bereiche der Digitalisierung sind noch nicht gesetzlich geregelt.
CDR ist noch ein relativ junges Themengebiet. Wo steht die Initiative derzeit?
Marek Rydzewski: Die Themen, die diese behandelt, sind gesellschaftlich hochrelevant. Gerade haben wir zum Beispiel gemeinsam mit der CDR-Initiative das Whitepaper „Klare Kante gegen Desinformation und Hate Speech!“ veröffentlicht. Dieses zeigt, wie sich Unternehmen erfolgreich gegen Desinformation engagieren können. Dass die Wirtschaft erkennt, dass Digitalisierung nicht nur bedeutet, Online-Shops zu betreiben oder digitale Produkte anzubieten, ist für mich bereits ein erster Erfolg.
Warum ist digitale Verantwortung speziell für die Barmer ein wichtiges Thema?
Marek Rydzewski: Das Thema Gesundheit war schon immer ein sehr ethisches. Das ist Teil unserer DNA. Als Krankenkasse kommen wir jedoch aus einer analogen Welt. Verantwortungsvoll zu digitalisieren, heißt für uns, fortschrittlich zu sein, ohne dabei jemanden auszugrenzen: Wir dürfen nicht ausschließlich auf digitale Kanäle setzen. Denn manche Menschen hätten dann nur noch eingeschränkten Zugang zu unseren Leistungen. Auch der Umgang mit Daten ist ein wichtiger Aspekt.
Ein Aspekt von CDR ist die Digitalkompetenz. Wie steht es um diese in der deutschen Bevölkerung?
Maria Hinz: Das erfasst das Netzwerk D21, eine Initiative aus Politik und Wirtschaft, mit dem wir eng zusammenarbeiten. Mit dem D21-Digital-Index veröffentlicht das Netzwerk dazu einen jährlichen Bericht. Die Digitalkompetenz variiert demnach zum Beispiel abhängig von der Bildungsschicht. Menschen mit niedrigerem Bildungsstand fällt es eher schwer, an der digitalen Welt aktiv teilzuhaben. Das liegt unter anderem daran, dass ihnen der Zugang zu Informationen und Technik fehlt. Auch das Alter beeinflusst, wie sicher sich jemand in digitalen Fragen fühlt. Ältere Menschen sind häufig nicht so versiert darin, Nachrichten ihren Quellen zuzuordnen. Junge Menschen sind zwar überwiegend digital kompetent. Da sich bei ihnen aber auch die sozialen Beziehungen im digitalen Raum abspielen, haben sie häufiger mit Desinformation, Hate Speech oder Cybermobbing zu tun. Das kann überfordern.
Seit 2020 sind die Gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, die digitale Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu fördern. Was versteht man darunter?
Marek Rydzewski: Gesundheitskompetent zu sein heißt, relevante Informationen zu finden, zu beurteilen und im Alltag anzuwenden, um gesund zu bleiben oder mit einer Erkrankung besser umzugehen. Die digitale Komponente umfasst die dafür zur Verfügung stehenden E-Health-Anwendungen: Videosprechstunden, Migräne-Apps, Monitoring chronischer Krankheiten oder die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Also all die Angebote, welche die klassische analoge Gesundheitsversorgung entweder ergänzen oder ersetzen.
Das heißt, Ihre Aufgabe ist es, solche digitalen Services nicht nur anzubieten, sondern auch zu erläutern. Wie gut erreichen Sie die Versicherten mit diesen Inhalten?
Marek Rydzewski: Die Bereitschaft, sich mit Gesundheitsthemen zu beschäftigen, hängt meist sehr stark von der jeweiligen persönlichen Situation ab. Sie stellen sich die Frage: Ist das für mich relevant? Ein chronisch kranker Mensch interessiert sich deswegen vielleicht eher für die elektronische Patientenakte und erkennt schneller deren Vorteile als ein gesunder. Wenn wir neue digitale Services anbieten, versuchen wir deswegen auch gezielt die Personen anzusprechen, die einen akuten Bedarf haben und direkt von diesen Gesundheitstools profitieren würden.
Für das Präventionsprogramm DURCHBLICKT!, das digitale Gesundheitskompetenz fördern soll, wurde die Barmer gerade bei den CDR-Awards ausgezeichnet. Was leistet dieses Programm?
Maria Hinz: DURCHBLICKT! richtet sich an Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch an Eltern. Es bietet Materialien rund um die Frage: Wie kann ich Gesundheitsinformationen aus dem Internet einordnen und für mich verwenden? Wir haben dazu in Kooperation mit der TU München und der Hochschule Fulda Unterrichtsmaterial entwickelt. Dieses lässt sich in verschiedenen Fächern einsetzen, ist praxistauglich und aktuell. Die Teilnahme am Programm ist für Schulen kostenlos, diese können nach der Registrierung direkt loslegen.
Ein weiteres Programm, das die digitale Gesundheitskompetenz Ihrer Versicherten fördern soll, heißt KundiG. An wen richtet sich dieses Angebot?
Maria Hinz: Damit wenden wir uns vor allem an Menschen mit chronischen Erkrankungen, deren Angehörige und eigentlich alle, die wissen wollen, wie sie digitale Gesundheitsservices nutzen können. Zusammen mit der Patientenuniversität an der Medizinischen Hochschule Hannover bieten wir dafür sechs jeweils zweieinhalb-stündige Online-Kurse an. Diese behandeln Themen wie die elektronische Patientenakte oder den Medikationsplan. Danach ist man in allen wichtigen Belangen schlauer.
Ein großes Thema für die gesetzlichen Krankenkassen ist die digitale Identität, die diese ihren Versicherten künftig zur Verfügung stellen sollen. Um was handelt es sich dabei?
Marek Rydzewski: In der digitalen Versorgung haben wir es mit sehr sensiblen Daten zu tun. Wir müssen sicherstellen, dass nur diejenigen Zugriff darauf erhalten, die dazu auch berechtigt sind. Also zuerst die Patientinnen und Patienten, im nächsten Schritt aber auch Leistungserbringer wie etwa Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken. Die digitale Identität ist eine Kombination aus dem Versichertenausweis, also der elektronischen Gesundheitskarte, und dem Personalausweis mit Chip. Zusammen auf dem Smartphone hinterlegt, sind sie wie ein individueller Schlüssel, der Zugang zu einer Vielzahl digitaler Gesundheitsanwendungen ermöglicht. Die Person, die ihn nutzt, kann sich darüber eindeutig identifizieren. Die Daten sind so optimal geschützt.
Vor welche Herausforderungen stellt Sie die Einführung?
Marek Rydzewski: Bislang nutzen nur wenige Menschen den neuen Personalausweis mit ID-Funktion. Das liegt auch daran, dass es derzeit kaum Services gibt, für die er gebraucht wird. Wir haben unsere Versicherten deshalb in die Entwicklung der digitalen Identität eingebunden: Wir wollten wissen, welche Erfahrungen sie mit Identifizierungsverfahren im Netz haben und wie sich diese möglichst niedrigschwellig gestalten lassen. Denn dieses Verfahren dient den Versicherten nur, wenn es unkompliziert anzuwenden ist.
Das gilt auch für andere digitale Angebote wie die elektronische Patientenakte, kurz ePA. Seit Januar 2021 bieten alle gesetzlichen Krankenkassen diese an. Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist jedoch nicht so hoch, wie sie sein sollte. Woran liegt das?
Maria Hinz: Die ePA lässt sich noch nicht überall so nutzen, wie man sie nutzen möchte. Nehmen Sie Menschen mit einer chronischen Erkrankung. Bitten diese in ihrer Arztpraxis darum, dass die relevanten Daten in die Akte eingetragen werden, heißt es: Wir können diese nicht befüllen. Die Praxissoftware lässt das meist noch nicht zu. Das Erlebnis ist also nicht optimal, weil es technisch an manchen Stellen hakt. Da sind einerseits die Hersteller der Praxisverwaltungssysteme gefragt, die das Verfahren in ihre Software implementieren müssen. Aber auch die Praxen, ohne deren Unterstützung es nicht geht.
Marek Rydzewski: Alle Beteiligten müssen hier zusammenarbeiten. Es geht schließlich um die bestmögliche Versorgung der Versicherten. Ein Beispiel ist das Medikationsmanagement für Menschen, die langfristig mehrere Medikamente einnehmen. Dieses lässt sich mit digitaler Unterstützung maßgeblich verbessern. Wir konnten im Rahmen eines Projektes zeigen, dass sich damit deutschlandweit pro Jahr bis zu 65.000 durch unerwünschte Wirkungen von Medikamenten bedingte Todesfälle verhindern ließen. Dennoch gibt es Menschen, die sich gegen digitale Anwendungen stemmen, weil deren Einrichtung oder Nutzung zu Beginn vielleicht einen Mehraufwand bedeutet. Wir müssen also versuchen, die Zugangshürden abzubauen und den Mehrwert der Nutzung noch stärker in den Vordergrund zu stellen.
Als wir für den letzten CDR-Bericht miteinander sprachen, war die Barmer beim Thema Einsatz von Chatbots in der Kommunikation noch verhalten. Kurz darauf wurde die auf Künstlicher Intelligenz basierende Anwendung ChatGTP frei im Netz verfügbar. Menschen auf der ganzen Welt probierten plötzlich die Möglichkeiten sogenannter generativer KIs aus. Hat das die Einstellung der Barmer gegenüber solchen Anwendungen verändert?
Maria Hinz: Wir schauen uns an, welche Einsatzbereiche sich ergeben und welche Chancen und Risiken diese Technologie mit sich bringt. Die möglichen Einsatzgebiete sind vielfältig: Die Marketingabteilung könnte mit einer generativen KI zum Beispiel Überschriften texten. Das ist eine eher harmlose Anwendung. So eine KI ließe sich aber auch als Chatbot nutzen – und das besser als frühere Generationen. Ältere Modelle eigneten sich gut für schematische Prozesse wie zum Beispiel, um eine neue Gesundheitskarte zu bestellen. Dafür genügt es, wenn ein einfacher Algorithmus eine Auswahl vorgefertigter Antworten parat hat. Empathische Antworten hingegen konnten diese Modelle nicht geben. Das ist bei den neuen KI-Modellen anders. Eine Studie hat die Antworten von Ärztinnen und Ärzten mit denen einer generativen KI verglichen. Die Maschine stand den Menschen in Sachen Einfühlsamkeit in nichts nach, war in manchen Fällen sogar empathischer.
Marek Rydzewski: Ein wichtiger Punkt ist hier, ob wir so eine generative KI mit Sozialdaten arbeiten lassen wollen und dürfen. Wir können diese sensiblen Daten nicht einem x-beliebigen KI-Anbieter überlassen. Eine Lösung wäre ein geschlossenes System, das die Informationen auswertet, diese aber nicht abfließen lässt. Über solche Fragen diskutieren wir derzeit.
Digitale Verantwortung ist etwas, das ein Unternehmen nicht nur nach außen übernimmt, also in Ihrem Fall gegenüber den Versicherten, sondern sie sollte auch nach innen etabliert werden. Welche Schritte hat die Barmer hier unternommen?
Maria Hinz: Digitalkompetenz ist ein Fokus in unserer Digitalstrategie. Wir haben schon einige Maßnahmen umgesetzt. Da sind zum einen unsere rund 600 DigiCoaches in allen Einheiten. Das sind Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Abteilungen wie der Kundenbetreuung, der Sachbearbeitung oder auch den Fachbereichen, die eine besondere Affinität zu digitalen Themen haben. Neuerungen stellen wir zuerst ihnen vor und sie tragen diese dann in ihre Teams. Mitarbeitenden, die vielleicht nicht ganz so viel Digitalkompetenz mitbringen, fällt es unter Umständen leichter, diese Kolleginnen oder Kollegen um Unterstützung zu bitten.
Das DigiTal, ebenfalls eine interne Maßnahme, hat bei den CDR-Awards Gold gewonnen. Worum handelt es sich dabei?
Maria Hinz: Das ist ein webbasiertes Lernprogramm, das bildreich digitale Themen aus unserem Arbeitsalltag erklärt. Wir haben dafür unsere Mitarbeitenden befragt, was sie als Unterstützung brauchen. Die Antwort: kurze, knackige Informationen, die sie jederzeit schnell abrufen können. Bei der Entwicklung haben ebenfalls viele verschiedene Kolleginnen und Kollegen mitgearbeitet. So können viele bei Digitalisierungsthemen mitreden und diese besser verstehen.
Welches sind die nächsten Schritte für die Barmer, um CDR bekannter zu machen und im Gesundheitswesen ein Bewusstsein dafür zu schaffen?
Marek Rydzewski: Wir machen uns weiter dafür stark, indem wir unsere Mitarbeitenden und unsere Versicherten beim bewussten Umgang mit der Digitalisierung unterstützen. Wir wollen das Thema aber auch noch mehr nach außen tragen, zum Beispiel durch unser Engagement in der CDR-Initiative. Die Glaubwürdigkeit eines Unternehmens wird in Zukunft auch daran gemessen werden, wie verantwortungsvoll es sich in diesen Fragen verhält. Ich bin überzeugt, dass es für viele Menschen einen Unterschied macht, wie mit ihren Daten umgegangen wird und ob sie sich befähigt und aufgeklärt fühlen. Derzeit sind wir noch die einzige Krankenkasse in der CDR-Initiative. Das möchten wir gerne ändern.
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