Transparenz schafft Vertrauen – zwischen Krankenkassen und Versicherten, aber auch zwischen Behandelnden und ihren Patientinnen und Patienten. Darüber hinaus bringt Transparenz die Versorgung voran. Jessica Braun im Gespräch mit den Barmer Bereichsleitenden Petra Brakel und Michael Hübner über bessere Vernetzung, neue digitale Angebote und einen Erfolg in der Forschung.
Frau Brakel, Sie leiten den Bereich Sektorübergreifende Versorgung und Versorgungsstrategie der Barmer – ein Thema, das die Krankenkasse voranbringen möchte. Können Sie erläutern, was mit „Sektorübergreifende Versorgung“ gemeint ist?
Petra Brakel: Der Begriff Sektorübergreifende Versorgung ist tatsächlich etwas sperrig. Es gibt auch keine allgemein anerkannte Definition. Gemeint ist damit, dass die Versorgung enger vernetzt werden soll, um sie so zu verbessern. Dazu muss man wissen, dass das deutsche Gesundheitssystem in verschiedene Bereiche, die sogenannten Sektoren, untergliedert ist: in Krankenhäuser, niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Apotheken oder auch Heilmittelpraxen, etwa von Ergotherapeutinnen oder Physiotherapeuten. Sie alle versorgen die Patientinnen und Patienten. Durch die Sektorübergreifende Versorgung sollen die Schnittstellen insbesondere zwischen den niedergelassenen Praxen und den Krankenhäusern stärker miteinander verbunden werden. Patientinnen und Patienten sollen sich darauf verlassen können, dass alle an ihrer Behandlung Beteiligten eine abgestimmte Strategie verfolgen und jederzeit Zugang zu den dafür relevanten Informationen haben.
Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein?
Petra Brakel: Um die beiden genannten Bereiche besser zu verzahnen, benötigen wir eine sektorübergreifende Planung: Wo gibt es welchen Versorgungsbedarf und wie greifen die beiden großen Versorgungsbereiche ambulant und stationär, also Praxen und Kliniken, ineinander? Im Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung verschiedene Maßnahmen angekündigt, die in die richtige Richtung gehen. Das stimmt uns positiv. Aus unserer Sicht ist es aber auch wichtig, dass die Akteurinnen und Akteure des Gesundheitssystems, beziehungsweise ihre Interessenvertretungen, diese Veränderungen nicht nur mittragen, sondern aktiv voranbringen.
Herr Hübner, Sie leiten den Bereich Versorgungsinnovation, Pflege und Digitale Versorgung. Können Sie ein Beispiel aus dem Alltag geben, das die aktuelle Situation veranschaulicht?
Michael Hübner: Im derzeitigen System gehen Informationen zu oft verloren. Wir sprechen hier von Medienbrüchen. Sagen wir, ich muss wegen eines Knochenbruchs ins Krankenhaus. Dort erstellt jemand Röntgenbilder. Diese liegen meinem niedergelassenen Orthopäden aber nach meiner Entlassung nicht automatisch vor. Also macht er neue Röntgenbilder. Überweist er mich dann zu einer Physiotherapeutin, ist es an mir, viele der für sie nötigen Informationen bereitzustellen. So kommt es häufig zu Doppeldiagnostik, Doppelbehandlungen und es verlangsamt die Versorgung.
Das Gesundheitssystem, aber auch die Patientinnen und Patienten sollen also durch einen verbesserten Informationsfluss entlastet werden?
Michael Hübner: Mehr Transparenz würde auf jeden Fall dazu beitragen, die Prozesse in der Versorgung zu optimieren. Deren Qualität ist derzeit noch stark davon abhängig, wie organisiert und engagiert die Patientinnen und Patienten sind. Unser Ziel sind mündige Versicherte, die selbstbestimmt und informiert Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen. Indem wir bestimmte Abläufe digitalisieren, können wir die Versorgung jedoch einfach und niederschwellig verbessern – und das unabhängig davon, mit welchen Informationen eine Patientin oder ein Patient unterwegs ist. Dafür müssen wir die Sektoren so vernetzen, dass die notwendigen Daten jederzeit bereitstehen.
Die Digitalisierung macht es einfacher, Informationen zusammenzuführen und zu analysieren. Inwieweit trägt sie auch dazu bei, die an einer Behandlung beteiligten Personen miteinander zu vernetzen?
Michael Hübner: Die Telemedizin beispielsweise macht Expertise weniger ortsabhängig. Nicht nur, indem sie Versicherte per Videokonferenz mit ihrer Praxis kommunizieren lässt, sondern auch, indem sie Ärztinnen und Ärzte zusammenschaltet. Die Herzspezialistin einer Fachklinik kann so zu einer Behandlung hinzugezogen werden, selbst wenn die Patientin oder der Patient in einem anderen Krankenhaus liegt. Ich sehe hier nicht nur ein großes Effizienzpotential. Die Qualität lässt sich ebenfalls deutlich steigern.
Petra Brakel: Das gilt auch für die Kommunikation zwischen den Krankenkassen und ihren Versicherten. Wir haben bei der Barmer Anfang 2020 als erste deutsche Krankenkasse eine Art Sendungsverfolgung für Krankschreibungen eingeführt. Der Barmer Kompass ist eine digitale Anwendung in unserer Barmer App. Er macht den aktuellen Bearbeitungsstand zum Beispiel beim Krankengeld transparenter. Im Idealfall sehen Versicherte damit schon beim Verlassen der Praxis, dass die Auszahlung des Krankengeldes veranlasst ist. Seit der Einführung der digitalen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung haben wir damit einen vollständig digitalen Prozess. Das zeigt, dass wir mit Digitalisierung zwei Effekte erzielen: Einmal haben wir eine höhere Transparenz für die Patienten und Patientinnen und einen besseren Zugang zu den Leistungen. Gleichzeitig kann die Barmer Anliegen von Versicherten schneller und effizienter bearbeiten.
Herr Hübner, die Digitalisierung ermöglicht es auch, Prävention neu zu denken. Die Darmkrebsfrüherkennung ist so ein Beispiel: Barmer-Versicherte können den Test zuhause durchführen. Welche Vorteile hat das aus Ihrer Sicht?
Michael Hübner: Zunächst gibt die Digitalisierung uns die Möglichkeit, die Früherkennung zu fördern. In Deutschland ist es leider immer noch so, dass vorausgesetzt wird, dass alle Menschen wissen, was in ihrem Alter für ihre Versorgung zählt und dass sie das gezielt nachfragen. Dabei könnten wir dank der Digitalisierung viel weiter sein. Anhand von Geschlecht und Alter der Versicherten können wir sehr niederschwellig ablesen, in welcher Lebenssituation sich diese gerade befinden. Das erlaubt es uns, Versicherte proaktiv zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Maßnahme hinzuweisen. Und genau das forcieren wir als Barmer mit diesem Angebot. Die digitalisierte Darmkrebsfrüherkennung ist direkt und schnell. Wir haben bereits weit über eine Million Versicherte dazu eingeladen. Am immunologischen Stuhltest selbst ändert sich dabei nichts – außer, und das ist ein weiterer Vorteil, dass er zuhause durchgeführt werden kann. Versicherte müssen nicht erst einen Termin in ihrer Arztpraxis vereinbaren, um sich das Test-Kit aushändigen zu lassen. Wir informieren sie digital, dass es dieses Angebot gibt, und sie können in der App mit einem Klick den Test bestellen. Sie führen ihn zuhause durch und senden ihn direkt ans Labor. Das ist eine absolute Innovation.
Darmkrebs wird häufig erst spät entdeckt, weil er anfangs keine Symptome verursacht. Erreichen Sie durch das digitale Angebot auch Menschen, die sonst nicht zur Vorsorge gehen?
Michael Hübner: Ja. Wir können auch Menschen adressieren, die ansonsten nicht in eine Arztpraxis gehen. Rund sechs Prozent der mit der Post im Labor eingereichten Tests zeigen ein positives, also ein auffälliges Ergebnis. Eine Auffälligkeit im Stuhltest bedeutet noch lange nicht, dass ein Befund vorliegt. Die Diagnostik muss in einer Arztpraxis erfolgen. Aber es veranschaulicht, wie effektiv dieses niederschwellige und nicht teure Zusatzangebot ist. Denn Darmkrebs operativ zu behandeln, ist aufwändig und für die erkrankte Person sehr belastend.
Frau Brakel, auch die Arzneimitteltherapiesicherheit ist für die Barmer ein wichtiges Thema. Warum?
Petra Brakel: Arzneimittel sind bei sehr vielen Erkrankungen ein wesentlicher Bestandteil der Behandlung. Dabei kann es jedoch zu ungewollten Wechselwirkungen kommen. Zum Beispiel, wenn bei einer Therapie mehrere Medikamente eingenommen werden, oder auch, wenn Patienten multimorbide sind, also an mehreren Erkrankungen leiden. Hier birgt die Arzneimitteltherapie zum Teil schwere gesundheitliche Risiken. Um diese zu verringern, setzen wir uns für mehr Transparenz ein: Alle an einer Behandlung beteiligten Personen sollten informiert sein, welche Medikamente einer Patientin oder einem Patienten verschrieben wurden und wie diese eingenommen werden. Nur so ist ersichtlich, welche Risiken bestehen, wenn ein weiteres Präparat hinzukommt.
Wieso ist die Kommunikation zwischen den an der Behandlung Beteiligten hier oft lückenhaft?
Petra Brakel: Die Daten zur Arzneimitteltherapie einer Patientin oder eines Patienten werden derzeit noch nicht zusammengeführt. Das heißt, jede behandelnde Ärztin und jeder behandelnde Arzt sowohl in den Praxen als auch im Krankenhaus, sieht nur das, was sie oder er jeweils verschrieben hat. Die Barmer hat deshalb in Innovationsfondsprojekten erforscht, wie sich mit Hilfe digitaler Prozesse das Risiko bei der Einnahme von Medikamenten minimieren lässt. Das erste Projekt hieß AdAM und erfolgte in Zusammenarbeit mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Mit Einverständnis der Patientinnen und Patienten haben wir für die teilnehmenden Hausärztinnen und -ärzte aus unseren Abrechnungsdaten eine Übersicht erstellt. Anhand dieser konnten sie sehen, welche Medikamente bereits verschrieben wurden. Zusätzlich erhielten sie digitale Hinweise darauf, welche möglichen Nebenwirkungen durch Kombinationen von Arzneimitteln entstehen können. Ein Zusatznutzen für die Behandelnden, vor allem aber für die Patientinnen und Patienten. Denn eine Evaluation des Projekts zeigte, dass dieses Vorgehen das Sterberisiko signifikant verringert. Hochgerechnet auf Deutschland würden sich so bis zu 65.000 Todesfälle pro Jahr verhindern lassen.
Michael Hübner: Wir haben noch weitere zwei Projekte, die auf das Thema Arzneimitteltherapiesicherheit einzahlen. Das erste nennt sich TOP und integriert neben Arztpraxen auch Krankenhäuser. Denn auch diese müssen strukturierte Informationen über die Medikation erhalten. Dieses Projekt läuft noch bis 2024. Das dritte nennt sich eRIKA. Hier geht es darum, auch die Apotheken einzubeziehen. Ab Sommer dieses Jahres wird das elektronische Rezept verpflichtend. Wenn ein solches Rezept eingelöst wird, sehen teilnehmende Apotheken in ihrem System, welche Wechselwirkungen das neu verordnete Medikament mit den bislang verschriebenen haben kann. Erhalten sie eine Warnmeldung, können sie die ausstellende Praxis anrufen und auf das Risiko hinweisen.
Warum ist dieses Verfahren nicht längst bundesweit etabliert?
Petra Brakel: Wir arbeiten bei diesen drei Projekten mit den Daten unserer Versicherten. In Modellprojekten ist das rechtlich möglich - das Einverständnis der Versicherten vorausgesetzt - , außerhalb von solchen Studien gibt es dafür derzeit keine gesetzliche Grundlage. Das heißt, wenn man dieses Modell tatsächlich bundesweit ausweiten wollte, müsste man das Gesetz so ändern, dass diese Behandlungsdaten tatsächlich auch allen Beteiligten für eine Optimierung der Behandlung zur Verfügung gestellt werden dürfen. Natürlich immer unter der Voraussetzung, dass die Patientin oder der Patient zustimmt.
Michael Hübner: Darauf setzen wir. Es ist ein großer Erfolg, dass wir aus unseren Forschungsergebnissen so konkret ein Handeln ableiten und dieses systemisch umsetzen konnten. Wir haben eine technische Lösung gefunden, die einen entscheidenden Unterschied macht – nicht nur für die Barmer-Versicherten, sondern für alle Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis alle davon partizipieren. Viel zu oft bleiben solche Evaluationsstudien ohne Einfluss. Das ist hier anders und darüber freuen wir uns alle.
Petra Brakel leitet den Bereich Sektorübergreifende Versorgung und Versorgungsstrategie bei der Barmer. Michael Hübner leitet den Bereich Versorgungsinnovation, Pflege und Digitale Versorgung.
Innovative Versorgung dank Forschung
Mit innovativen Forschungsprojekten trägt die Barmer dazu bei, die Versorgung für seltenere Erkrankungen zu verbessern.
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