Ein junger Mann arbeitet sehr konzentriert an seinem Rechner
Psychische Gesundheit

Perfektionismus: Wann er schädlich ist

Lesedauer unter 9 Minuten

Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Qualitätssicherung

  • Dr. med. Martin Waitz (Arzt, medproduction GmbH)

Hohe Ansprüche sind gut. Doch was, wenn sie zu hoch und sogar unerfüllbar werden? Wann Perfektionismus schadet – und wann nicht.

„Schon okay, die Wohnung, aber immer noch nicht so, wie sie sein soll. Im Katalog sieht das besser aus“, denkt sie. „Eigentlich müsste alles drinnen sein in der Präsentation“, glaubt er, „aber was, wenn doch etwas fehlt und ich blöd dastehe?“ Und dann, am Abend, fragt er sich: „Die Nudeln waren lecker, das Licht gemütlich, die Musik angenehm, die Unterhaltung auch interessant – wie konnte mir nur das Weinglas umkippen? Damit war das Date dann ja war wohl ein totaler Reinfall. Die sehe ich nie wieder!“ 

Es sind Sätze und Gedanken wie diese, die ganz typisch für eine perfektionistische Denkweise sind. Hinter ihnen verbergen sich hohe, sehr hohe und manchmal zu hohe Ansprüche an sich selbst oder andere. Der eigene Perfektionismus ist dabei ein zweischneidiges Schwert: Er kann zu großen Leistungen führen, doch er kann auch StressLeistungsdruck und Schuldgefühle erzeugen und letztlich der Psyche und dem Selbstwert schaden.

Perfektionismus: Definition

Doch mal einen Schritt zurück: Was genau ist Perfektionismus eigentlich? Eine einheitliche Definition gibt es in der Psychologie zwar nicht, doch nahezu alle Beschreibungen enthalten zwei zentrale Komponenten. Erstens setzen sich Perfektionisten extrem hohe Ziele und Standards, sie wollen Dinge so gut wie es nur geht erledigen – sie wollen es perfekt machen. Der zweite Teil, der im allgemeinen Sprachgebrauch oft vergessen wird, aber ebenso zum Perfektionismus dazugehört: das Streben nach Fehlerlosigkeit.

Menschen, die sich perfektionistisch verhalten, denken meist, dass Fehler mit Scheitern gleichzusetzen sind und fürchten sich deshalb sehr davor, womöglich etwas falsch zu machen.

Können Perfektionistinnen und Perfektionisten diese beiden Standards – perfekte Ausführung, keine Fehler – nicht erfüllen, dann werten sie sich und ihre Leistung oft ab und halten sie für wertlos. Auch dann, wenn sie vielleicht nicht ihren perfekten Standard erreicht haben, sondern „nur“ einen guten. 
Wer nach Perfektion strebt, der tut das nicht zwangsläufig immer in allen Bereichen des Lebens. Es gibt Menschen, die setzen sich extrem hohe Maßstäbe beim Sport, für die Arbeit, bei der Kindererziehung oder für ihre sozialen Beziehungen. Manchmal ist dann von Lifestyle-, Beziehungs- oder Leistungsperfektionismus die Rede. 

Der Psychotherapeut Nils Spitzer unterscheidet in seinem Buch Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen nochmal verschiedene Perfektionismus-Formen – je nachdem, woher die perfektionistischen Standards kommen und an wen sie sich richten:

  • Selbstgerichteter Perfektionismus: Jemand setzt sich selbst enorm hohe Standards. 
  • Sozialer Perfektionismus: Jemand glaubt, enorm hohe Standards erfüllen zu müssen, weil das andere so erwarteten.
  • Außengerichteter Perfektionismus: Jemand hat enorm hohe Erwartungen an sein Umfeld oder die Kollegen und akzeptiert es nicht, wenn sich jemand nicht entsprechend verhält.

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Warum Perfektionismus krank machen kann

Wird der Perfektionismus zu groß, dann kann das schädlich für eine Person werden. Das weiß Christine Altstötter-Gleich, die an der Universität Koblenz-Landau zu Perfektionismus forscht und auch ein Buch zum Thema geschrieben hat: „Es kann zu Burn-out oder einer Depression kommen oder auch zu sozialen Ängsten“, sagt die Psychologin. „Also zum Beispiel davor, vor anderen zu sprechen. Da kann die Angst aufkommen, nicht gut genug zu sein und sich etwa nicht elaboriert genug auszudrücken. Wer das denkt, sagt dann vielleicht lieber gar nichts und zieht sich immer mehr zurück.“

Auch Essstörungen und andere körperbezogene Störungen seien eng mit zu hohen Ansprüchen verknüpft. „Bei Frauen sind es meistens Anorexie oder Bulimie“; sagt Altstötter-Gleich. „Männer neigen eher zu einer Trainingsabhängigkeit, bei der sie sich aber auch in übertriebenem Maße mit ihrem Körper beschäftigen. Auch das kann zum Problem werden, denn viele ernähren sich dann sehr einseitig oder nehmen ungesunde Nahrungsergänzungsmittel oder gar Medikamente ein.“

Was Altstötter-Gleich dabei allerdings sehr wichtig ist: Nicht der Perfektionismus als Ganzes ist schädlich. Sie bezieht sich damit wieder auf diese Zweiteilung – das Streben nach Perfektion und das Vermeiden von Fehlern. „Das Streben danach, die Dinge besonders gut zu machen, das ist per se nichts Schlechtes. Ganz im Gegenteil sogar. Es ist ein zutiefst wichtiger Persönlichkeitszug, dass man erkennt, dass etwas nicht ganz in Ordnung ist, und dass man danach strebt, es besser zu machen“, sagt Altstötter-Gleich. „Das Problem beim Perfektionismus ist viel mehr, wie man damit umgeht, wenn etwas nicht klappt.“

Das Scheitern und die Angst davor – sie sind es, die für Perfektionisten im täglichen Leben problematisch werden können. Prüfungsangst ist so ein Beispiel. Man hat gelernt, man kennt die Antworten, die meisten zumindest. Doch dann kommt einem immer wieder die Sorge in den Kopf, die Prüfung doch zu vermasseln. Was wenn komische Fragen kommen? Was wenn mir die Antworten in der Situation nicht einfallen? Was wenn…?

„Es gibt Menschen, die sich vor lauter Angst zu scheitern schon im Vorfeld sehr viele Gedanken machen und verkrampfen“, sagt Altstötter-Gleich. „Die Angst kann so groß werden, dass einfache Dinge im Alltag nicht mehr richtig funktionieren.“ Es sei etwa ganz normal, eine E-Mail zu schreiben und sie vor dem Abschicken nochmal auf Rechtschreibung und Zeichensetzung zu prüfen. Wenn man sie aber nochmal und nochmal lese, immer wieder umschreibe, ewig nach einer noch besseren Formulierung suche und dafür so viel Zeit aufwende, dass man noch fünf andere E-Mails hätte schreiben können, dann werde die Angst vor dem Scheitern zum Problem. „In solchen Fällen sprechen wir von dysfunktionalen Perfektionisten“, sagt Altstötter-Gleich.

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Was sind die Ursachen von Perfektionismus?

Folgt man dem aktuellen Forschungsstand zum Perfektionismus, dann hat solch dysfunktionaler Perfektionismus seine Ursachen meist in der Kindheit. Es scheint auch genetische Ursachen zu geben – der eine neigt eher dazu, im Laufe des Lebens einen starken Perfektionismus auszuprägen, die andere weniger. Doch einen größeren Einfluss scheinen enge Bindungspersonen wie die Eltern zu haben. Auf welchem Weg das geschehen kann, beschreibt Nils Spitzer in seinem Buch. Demnach kann sich ein hoher Perfektionismus durch ganz viele verschiedene elterliche Verhaltensweisen ausprägen:

  • Fehlende Erwartungen der Eltern – etwa bei Vernachlässigung – können dazu führen, dass Kinder sich selbst viel zu hohe Anforderungen setzen, die dann durch andere nicht wieder nach unten korrigiert werden.
  • Verhalten sich Eltern perfektionistisch, imitieren Kinder das oftmals.
  • Ein raues familiäres Umfeld (zum Beispiel Chaos, Misshandlung, Demütigung, harsche Kritik) kann ebenfalls dazu führen, dass Kinder perfektionistische Standards entwickeln, weil sie hoffen, dass dies die ihnen gegenüber gezeigten negativen Verhaltensweisen minimiert.
  • Schließlich kann auch Überfürsorglichkeit den Perfektionismus verstärken. Eine große Sorge der Eltern – beispielsweise aus Angst um das Kind – verbunden mit vielen Warnungen und Hinweisen, kann dazu führen, dass auch die Kinder den Fokus auf mögliche negative Konsequenzen ihres Handelns verschieben und stark darauf achten, bloß keinen Fehler zu machen.

Darüber hinaus scheint der gesellschaftliche Druck in den vergangenen Jahren eine immer größere Rolle in der Entstehung perfektionistischer Verhaltensweisen eingenommen zu haben. Eltern bekommen teils unrealistische Bilder vermittelt, was ihre Kinder leisten können sollten und geben das weiter. Kinder vergleichen sich auf Social Media mit unrealistischen Vorbildern und wollen dann das Gesehene nacheifern.  

Perfektionismus-Test: Woran erkenne ich, dass ich zu perfektionistisch bin?

Selbsttest Perfektionismus: Diese Gedanken sind typisch für Perfektionisten

Selbsttest Perfektionismus: Diese Gedanken sind typisch für Perfektionisten

Wer nun den Verdacht hat, selbst möglicherweise ein Perfektionist zu sein, für den hat Christine Altstötter-Gleich eine Art Selbsttest zur Hand. Mit ihm lässt sich recht schnell einordnen, ob der eigene Perfektionismus schon schädliche Züge angenommen hat. „Wer das wissen will, der kann sich überlegen, wann er das letzte Mal wirklich zufrieden mit etwas war, das er gemacht hat“, so die Psychologin.

Finde man da überhaupt nichts und denke bei allem, was man selbst macht, dass es aber noch besser gegangen wäre, dann könne das ein Indiz für zu viel Perfektionismus sein. „Außerdem wenn man nach dem Erreichen eines selbst gesteckten Zieles denkt, dass es dann ja schon nicht so anspruchsvoll gewesen sein kann“, sagt Altstötter-Gleich. „Oder auch, wenn man merkt, dass man viele Dinge gar nicht erst versucht, weil man das Gefühl hat, dass man es eh nicht schafft.“

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Das hilft bei perfektionistischem Denken

Merken Menschen, dass ihr eigener Drang zur Perfektion für sie zum Problem wird, ist Gegensteuern angesagt. Dafür ist es wichtig, sich erstmal selbst zu analysieren: In welchen Lebensbereichen bin ich ein Perfektionist? Ist es nicht vielleicht eher die Versagensangst, die mir Probleme bereitet? Wie gehe ich damit um, wenn ich Fehler mache?

Die Psychotherapeutische Beratungsstelle der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat in einem Infoblatt einige Tipps zusammengestellt, die Menschen ausprobieren können, wenn sie das Gefühl haben, dass ihr perfektionistisches Streben zu groß wird: 

  • Vor- und Nachteile klarmachen: Was sind die Nachteile, die der Perfektionismus in meinem Fall bringt? Und welche Vorteile hat er?
  • Grenzen anerkennen: Wann überlasten mich zu hohe Ansprüche? Ab welchem Punkt war die Grenze überschritten und woran lag das?
  • Flexible Standards: Daran denken, dass je nach Situation und Auslastung ein verschieden hohes Maß an Perfektion möglich sein kann.
  • Was würden Sie einem Freund raten? Wäre ein Nicht-Erfüllen der Standards wirklich ein Versagen? Wie würden Sie das einstufen, wenn es nicht um Sie selbst, sondern um jemand anderes geht?
  • Experimente machen: Testen Sie in verschiedenen Situationen, wie es Ihnen damit geht, die Standards mal ein wenig zu senken.
  • Keine Eile: Sich anders zu verhalten (etwa geringere Standards zu setzen) fühlt sich erstmal komisch an. Nicht gleich nach dem ersten Versuch ein Urteil fällen, wenn es vielleicht nicht gleich geklappt hat.
  • Belohnungen: Schritte in die richtige Richtung mit kleinen Belohnungen feiern.
  • Nicht immer nur „Muss“, sondern auch „Genuss“: Erinnern Sie sich daran, warum Sie manche Dinge gerne tun. Das kann den Leistungsdruck senken.

Sich selbst ein guter Freund sein – das ist leichter gesagt als getan. Diese Übungen können dabei helfen, mehr Selbstvertrauen und Selbstliebe aufzubauen. Auch Eltern können viel dazu beitragen, die Resilienz und das Selbstvertrauen ihrer Kinder zu fördern – damit sie für die Herausforderungen des Lebens gerüstet sind und gut mit eigenen Fehlern umgehen können.

Perfektionisten können ihre Denkweise nicht einfach von jetzt auf gleich ablegen, doch kann eine solche Selbstanalyse dabei helfen, herauszufinden, wo genau das Problem liegt und wie man sich das Leben etwas leichter machen kann. Zum Beispiel indem man lernt, dass Fehler auch einmal passieren können.

Wobei dies Menschen mit hohem Perfektionsdrang oft gar nicht so leicht falle, sagt Christine Altstötter-Gleich. „Viele Perfektionisten schauen sich das gar nicht gerne an, weil sie natürlich diesen Wunsch, sehr gut zu sein, auch auf ihre Psyche und ihr Verhalten und ihr Erleben übertragen.“ Das habe einen weiteren negativen Effekt zur Folge, wenn der Perfektionismus überhandnehme: „Viele kümmern sich deshalb zu spät um Unterstützung“, sagt Altstötter-Gleich. „Sie wollen das selbst hinbekommen, verbergen ihre Ängste, vor sich selbst, aber auch vor anderen. Ich mache deswegen immer wieder darauf aufmerksam: Sich Hilfe zu suchen ist kein Scheitern.“ 

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Literatur und weiterführende Informationen

  • Psychotherapeutische Beratungsstelle (PBS) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) (Abruf vom 11.07.2022): Tipps zum Umgang mit Perfektionismus
  • Christine Altstötter-Gleich und Fay Geisler: Perfektionismus: Mit hohen Ansprüchen selbstbestimmt leben (2017)
  • Nils Spitzer: Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen: Ein Leitfaden für Psychotherapie und Beratung (2016)
  • Karina Limburg,, Hunna J. Watson, Martin S. Hagger und Sarah J. Egan: The relationship between perfectionism and psychopathology: A meta‐analysis (2017)
  • Fuschia M. Sirois und Danielle S. Molnar: Perfectionism, Health, and Well-Being (2016)
  • Joachim Stoeber und Julian H. Childs: Perfectionism. In: Roger J. R. Levesque: Encyclopedia of adolescence (2011)
  • American Psychological Association (Abruf vom 26.07.2022): Young People’s Perceptions of Their Parents’ Expectations and Criticism Are Increasing Over Time: Implications for Perfectionism


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