Eine Frau hält eine Medikamentendose in ihrer Hand.
Gendermedizin

Brauchen wir Männer- und Frauen-Medikamente?

Lesedauer unter 7 Minuten

Redaktion

  • Karoline Weik (Medical Writer, TAKEPART Media + Science GmbH)

Qualitätssicherung

  • Dr. med. Ursula Marschall (Fachärztin für Anästhesie, Barmer)

Eine Frau und ein Mann nehmen das gleiche Medikament – doch das Risiko für Nebenwirkungen ist für die Frau höher. Wie kann das sein? Das Geschlecht und auch das Alter beeinflussen, wie schnell der Körper ein Medikament abbaut und damit auch, wie lange und wie stark es wirkt. Zusätzlich können soziokulturelle Einflüsse eine Rolle spielen. Ärztinnen und Ärzte stimmen daher bei bestimmten Medikamenten die Dosierung individuell auf geschlechtsspezifische Unterschiede ab.

Werden Medikamente wirklich nur an Männern getestet?

Jedes neue Medikament muss in klinischen Studien umfassend nachweisen, dass es sicher und wirksam ist. An solchen sogenannten Zulassungsstudien nehmen häufig mehrere Tausend Patientinnen und Patienten teil. Damit ein Arzneimittel später für Frauen und für Männer geeignet ist, müssen auch beide Geschlechter in der Studie untersucht werden. Das Argument, dass Medikamente „nur an Männern getestet werden“ und es deshalb für Frauen kaum Daten gibt, stimmt also nicht ganz.

Richtig ist, dass in klinischen Studien der Phase I – wenn ein Medikament das erste Mal an Menschen untersucht wird – in der Regel nur Männer teilnehmen. Aber warum? Grund sind die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Frauen kommen mit einer bestimmten Menge an Eizellen auf die Welt und bilden im Laufe ihres Lebens keine neuen mehr. Männer produzieren ständig neue Spermien. 

Falls ein zu testendes Medikament die Fruchtbarkeit beeinträchtigen sollte, kann das für Frauen langfristigere Folgen haben als für Männer. Ein zweiter Punkt ist, dass sich der Hormonhaushalt von Frauen deutlich stärker verändert als der von Männern. Die weiblichen Geschlechtshormone schwanken im Lauf des Monatszyklus und werden je nach Zyklusphase mehr oder weniger gebildet. Wie sich ein neues Medikament im Körper verhält, lässt sich daher bei Männern zunächst einmal einfacher untersuchen.

Besondere Einschlusskriterien für Frauen in klinische Studien

Im späteren Verlauf der Studienphasen, wenn bereits mehr Daten zur Sicherheit des neuen Medikaments vorliegen, nehmen auch Frauen teil. Die Frauen dürfen nicht schwanger sein und – je nach Alter – müssen sie sicherheitshalber zwei Verhütungsmethoden anwenden, um eine Schwangerschaft während der Studiendauer vollkommen auszuschließen. So lässt sich sicherstellen, dass weder die Frauen noch ungeborene Kinder unnötigen Risiken ausgesetzt werden.

Auf Grund des Contergan-Skandals durften Frauen im gebärfähigen Alter tatsächlich für eine Weile nicht an Studien teilnehmen. In den 1960er Jahren hatten viele schwangere Frauen das Beruhigungsmittel Contergan eingenommen, das in zahlreichen Fällen zu schweren Fehlbildungen neugeborener Kinder führte. Als Konsequenz aus dem Skandal durften Frauen in Deutschland viele Jahre nicht an Studien teilnehmen.

Seit 2004 ist es in Deutschland verpflichtend, dass klinische Studien mögliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern untersuchen. Da Studien jedoch häufig im Ausland oder über mehrere Länder verteilt durchgeführt werden, gibt es immer noch Studien, in denen Geschlechterunterschiede zu wenig berücksichtigt werden. Auch für ältere Arzneimittel, die schon lange zugelassen sind, gibt es dazu teilweise kaum Daten hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Wirksamkeit.

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Warum Medikamente bei Frauen anders wirken (können) als bei Männern

Warum wirken nicht alle Medikamente bei allen Menschen gleich? Wie schnell ein Medikament aufgenommen wird, welche Konzentration es im Blut erreicht und wie schnell es wieder ausgeschieden wird, hängt auch von individuellen Faktoren ab. Dazu zählen:

  • Alter
  • Körpergewicht
  • Anteil an Muskel- und Fettgewebe
  • Nieren- und Leberfunktion
  • Lebensgewohnheiten wie die Ernährung (was und wann?) sowie Genussmittel (was ist die Leber gewohnt?)
  • Genetische Unterschiede, die zu einem unterschiedlichen Stoffwechsel führen

Zusätzlich beeinflussen die weiblichen und die männlichen Geschlechtshormone die Verstoffwechselung von Medikamenten.

Geschlechterunterschiede beim Medikamenten-Stoffwechsel

Heutzutage nehmen in der Regel immer Frauen und Männer an klinischen Studien teil, damit Fachleute untersuchen können, ob es geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. Neben den Geschlechtshormonen wie Östrogenen, Progesteron und Testosteron gibt es auch Unterschiede zwischen der Aktivität der Leberenzyme von Männern und Frauen. Diese Leberenzyme sind verantwortlich für den Abbau von bestimmten Medikamenten, sodass der Körper die Abbauprodukte ausscheiden kann. 

Auch die Anzahl der Andockstellen für Medikamente (Rezeptoren) unterscheiden sich je nach Geschlecht. Wie schnell der Körper ein Medikament nach der Einnahme um- und abbaut, wie lange es im Blut ist und wie schnell es ausgeschieden wird, nennen Fachleute Pharmakokinetik.

Männer bauen Medikamente meistens schneller ab, denn wie bei der Nahrung läuft der Transport durch Magen und Darm bei ihnen flotter ab als bei Frauen. Aufgrund der Größe und des spezifischen Körperbaus haben Männer zudem ein größeres Blutvolumen und eine stärkere Durchblutung der Organe. Diese Faktoren können ebenfalls die Wirkspiegel von Arzneimitteln beeinflussen. Zusätzlich filtern die Nieren bei Männern im Schnitt mehr Blut als die Nieren von Frauen, wodurch die Abbauprodukte der Medikamente rascher über den Urin wieder ausgeschieden werden.

Geschlechterunterschiede bei Medikamenten

Frauen und Männer brauchen bei Medikamenten unterschiedliche Dosierungen. 

Es gibt also viele kleine Unterschiede, die man im Labor messen kann oder die man in der Statistik von großen Datenmengen sieht. Sie haben aber nicht unbedingt Auswirkungen für eine Einzelperson. Bei manchen Medikamenten wirken sich die Geschlechterunterschiede jedoch so stark aus, dass bei einer Standarddosis die Gefahr für eine Unter- oder Überdosierung bestehen würde.

Weshalb bekommen so viele Menschen die gleiche Dosierung, obwohl die Medikamenten-Wirkung von so vielen individuellen Faktoren abhängen kann?

Ein Medikament wird so entwickelt, dass nicht nur eine Dosis, sondern ein ganzer Dosis-Bereich sicher und wirksam ist. Dieser Bereich heißt therapeutische Breite oder therapeutisches Fenster. Die therapeutische Breite ist so ausgerichtet, dass ein Medikament bei Frauen nicht überdosiert und bei Männern nicht unterdosiert ist. Ausnahmen sind zum Beispiel bestimmte Antibiotika bei Menschen mit einer eingeschränkten Nierenfunktion. Hier muss die Dosis angepasst werden – bei Frauen und bei Männern. Auch Chemotherapeutika werden häufig nach Alter, Geschlecht und Körpergewicht dosiert.

Individuelle Dosierung von Medikamenten für Frauen und Männer

Wichtig zu wissen ist, dass es nicht für alle Medikamente eine Standarddosierung gibt. Es ist also nicht unbedingt ratsam, beispielsweise einfach eine Tablette mehr zu schlucken, bloß weil das dem Arbeitskollegen von seiner Ärztin so empfohlen wurde. Bei folgenden Medikamentengruppen ist es besonders entscheidend, dass die Dosis individuell auf die Patientin oder den Patienten abgestimmt wird:

  • Blutzuckersenker bei Diabetes mellitus
  • Medikamente gegen Krampfanfälle bei einer Epilepsie
  • Blutverdünner
  • Blutdrucksenker

In solch einem Fall legt die Ärztin oder der Arzt die Dosis und eventuell eine Medikamentenkombination anhand der individuellen Eigenschaften wie Geschlecht, Körperbau, Alter und Gesundheitszustand fest.

Frauen sind häufiger von Nebenwirkungen betroffen

Manche Studien gehen davon aus, dass Frauen im Vergleich zu Männern durchschnittlich ein fast doppelt so hohes Risiko für Nebenwirkungen haben. Auch das Risiko für eine schwere Nebenwirkung, die einen Aufenthalt im Krankenhaus notwendig macht, ist für Frauen größer. 

Doch weshalb unterscheiden sich Nebenwirkungen zwischen Frauen und Männern? Eine Ursache liegt in den schon beschriebenen Unterschieden im Medikamenten-Stoffwechsel. Dazu kommt, dass Frauen häufiger als Männer mehrere Medikamente zur gleichen Zeit nehmen – eine sogenannte Polymedikation. Neben ärztlich verordneten Medikamenten kommen bei Frauen im Schnitt mehr freiverkäufliche Präparate dazu. Durch die verschiedenen Medikamente kann es zu Wechselwirkungen kommen und so zu Beschwerden führen. Deshalb sollte die behandelte Ärztin oder der behandelnde Arzt stets über alle Medikamente informiert sein – auch über selbstgekaufte und pflanzliche Präparate.

Medikamente, die ungeborene Kinder schädigen können

Während einer Schwangerschaft sind zahlreiche Medikamente tabu. Und teilweise gilt das sogar schon vor einer Schwangerschaft: Manche Medikamente darf eine Frau nicht einnehmen, wenn sie schwanger werden möchte. Diesem Thema widmet sich der Barmer Arzneimittelreport 2021.

Daraus geht hervor: Von 100 jüngeren Frauen bekamen etwa 8 Frauen Medikamente verordnet, die ein ungeborenes Kind schädigen könnten. Fachleute bezeichnen solche Medikamente als „potenziell teratogen“. Vor der Einnahme eines solchen Mittels sollten Frauen ausführlich beraten werden. In den ersten Wochen einer Schwangerschaft ist das Risiko besonders groß – und die Schwangerschaft oft noch nicht bekannt. Laut Arzneimittelreport 2021 werden bei jüngeren Frauen die Medikamente noch deutlich zu selten vor Eintritt einer Schwangerschaft von einer Ärztin oder einem Arzt auf mögliche Risiken gecheckt. Außerdem haben jüngere Frauen meistens keinen Medikationsplan.

Medikationspläne sorgen in jedem Alter für mehr Sicherheit und eine optimale Gesundheitsversorgung. Dadurch weiß beispielsweise die Frauenärztin genau, was der Hausarzt verordnet hat. Besonders für Frauen, die überlegen schwanger zu werden oder einfach nur im passenden Alter sind, kann ein Medikationsplan helfen. So lassen sich alle Medikamente im Überblick behalten und sie können bei Bedarf schon vor Beginn einer Schwangerschaft angepasst werden.

Entspannter bis zur Geburt: Der Barmer Schwangerschaftsnewsletter

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Geschlechtersensible Medizin – für individuell passende Medikamente

Die Gendermedizin erforscht die Unterschiede in der Wirkung von Medikamenten zwischen den Geschlechtern. Bisher stehen dabei vor allem Unterschiede zwischen sogenannten cis-Frauen und cis-Männern im Vordergrund – also Menschen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, dem sie bei ihrer Geburt zugeordnet wurden. Damit eine geschlechtersensible Behandlung für alle Menschen möglich ist, öffnet sich der Blick auf die Geschlechteridentitäten immer weiter und bewegt sich von den binären Kategorien „Frauen und Männer“ weg zu einer ganzen Bandbreite von möglichen Geschlechtern. Besonders in der medizinischen Forschung ist es wichtig, alle Geschlechter zu berücksichtigen – damit jeder Mensch die passende Behandlung erhält.

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