- Herzinfarkte bei Frauen werden später erkannt
- Östrogen schützt vor dem Infarkt, aber nicht immer
- Zu wenig Aufmerksamkeit für weibliche Symptome
- Lungenkrebs wird weiblich
- Auch Männer erkranken an Brustkrebs
- Frauen werden bei der Behandlung benachteiligt
- Mehr Aufmerksamkeit für eine geschlechtersensible Behandlung
- Unterschiede zwischen Menschen brauchen mehr Beachtung
Die Medizin hat sich in Ausbildung und Forschung traditionell am männlichen Körper orientiert. Besonders Arzneimittelstudien wurden überwiegend mit Männern mittleren Alters durchgeführt. Doch Frauen sind nicht einfach kleinere, leichtere Männer. Der weibliche Körper und Stoffwechsel funktioniert anders: Frauen zeigen bei manchen Erkrankungen andere Symptome als Männer, sie reagieren anders auf Medikamente und benötigen eine auf ihre Physiologie abgestimmte Therapie.
Berlin, September 2021 – Die Erkenntnis, dass Frauen und Männer sich aus medizinischer Sicht eben nicht nur in ihren Geschlechtsorganen unterscheiden, erscheint aus heutiger Sicht naheliegend und selbstverständlich. Die bewusste Auseinandersetzung mit diesen Unterschieden ist aber noch ein recht junges Feld in der Medizin. Erst in den 1980er- und 1990er-Jahren entwickelte sich die Gendermedizin und Ärztinnen und Ärzte wurden allmählich sensibler dafür, dass sie mit einer einseitigen Orientierung an einem männlichen Standardkörper Fehler machen. Obwohl wir heute sehr viel über die Unterschiede wissen, finden wir in der medizinischen Praxis von der Diagnostik bis zur Therapie noch immer zahlreiche Beispiele, dass auf solche Unterschiede zu wenig geachtet wird.
Herzinfarkte bei Frauen werden später erkannt
Schauen wir zunächst auf die Diagnostik und damit auf die Frage, wie früh und wie zuverlässig eine Erkrankung erkannt wird. Eines der bekanntesten Beispiele für die mangelnde Sensibilität für Unterschiede zwischen den Geschlechtern ist der Herzinfarkt. Er wird bei Frauen schlechter und später erkannt als bei Männern. Das kann dramatische Folgen haben bis hin zum Tod, denn beim Herzinfarkt kommt es auf jede Minute an. Ein wesentlicher Grund dafür ist die oft „untypische“ Symptomatik bei Frauen. Sie ist jedenfalls dann untypisch, wenn man die Krankheitszeichen beim Mann als Orientierungspunkt betrachtet. Die typischen Symptome sind auch in der breiten Bevölkerung recht gut bekannt: Ein anhaltender, stechender Schmerz in der Brust, der in den linken Arm ausstrahlt und von einem intensiven Angstempfinden begleitet wird. Dieses Phänomen wird oft als Vernichtungsschmerz bezeichnet. Auch bei Frauen können diese Symptome auftreten, oft äußert sich der Infarkt bei ihnen aber anders. Sie berichten häufiger von Schwindel, Übelkeit und Schmerzen im Bauch.
Östrogen schützt vor dem Infarkt, aber nicht immer
Tatsächlich tritt der Herzinfarkt statistisch gesehen bei Männern häufiger auf. Besonders vor der Menopause besitzen Frauen eine Art natürlichen, hormonellen Schutzschild, den sogenannten Östrogenschutz. Aber auch junge Frauen können Herzinfarkte erleiden. Das kommt allerdings vergleichsweise selten vor. Tritt dieser Fall aber ein, folgt häufig eine Kette von Verzögerungen, die eine optimale Behandlung erschweren und letztlich das Sterblichkeitsrisiko erhöhen: Der Rettungswagen wird später oder womöglich gar nicht gerufen, ein EKG seltener noch während des Transportes an die Klinik übermittelt und zwischen Infarkt und lebensrettender Wiedereröffnung der Blutgefäße im Herzen verstreicht bei Frauen im Durchschnitt mehr Zeit als bei Männern.
Zu wenig Aufmerksamkeit für weibliche Symptome
Gerade der Herzinfarkt ist mit Blick auf die Geschlechter sehr gut erforscht. Ich erinnere mich, dass das unterschiedliche Symptom-Erleben bereits während meines Studiums gelehrt wurde und das ist gut 30 Jahre her. Und trotzdem sehen wir die beschriebenen Phänomene bis heute: Der Herzinfarkt bei Frauen wird schlechter erkannt und es wird weniger konsequent gehandelt. Obwohl Ärztinnen und Ärzte in ihrer Ausbildung die genderspezifischen Unterschiede beim Herzinfarkt lernen, erkennen Sie ihn im entscheidenden Moment bei einer jungen Frau mit „untypischen“ Symptomen mitunter trotzdem nicht. Dieses Beispiel zeigt allerdings gut, dass das Problem noch weiterreicht: Auch in der Bevölkerung ist kaum bekannt, wie sich ein Herzinfarkt bei Frauen äußern kann. Wir alle denken an die typische Szene, die wir aus unzähligen Filmen kennen: Der ältere Mann greift sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust.
Lungenkrebs wird weiblich
Neben den teils unterschiedlichen Symptomen zwischen den Geschlechtern liegt ein weiteres Problem in vorurteilsbehafteten Krankheiten, die als typisch männlich oder weiblich gelten. Diese Annahmen sind meist nicht ganz unbegründet, weil manche Erkrankungen bei einem Geschlecht tatsächlich häufiger auftreten oder zumindest in der Vergangenheit häufiger auftraten. Nur bedeutet das nicht, dass sie ausschließlich bei diesem Geschlecht vorkommen. Lungenkrebs gilt beispielsweise als männliche Erkrankung. Früher waren tatsächlich fast nur Männer betroffen, weil sie viel häufiger geraucht haben als Frauen. Das hat sich aber bereits in den 1960ern und 1970ern deutlich verändert. Und heute sehen wir als Spätfolge, dass der Lungenkrebs zunehmend weiblich wird. Trotzdem wird bei Frauen seltener nach einem Bronchialkarzinom gesucht, auch wenn die Symptome zwischen den Geschlechtern gleich sind. Beim Lungenkrebs ist es oft ein über Wochen anhaltender Husten, ohne dass eine Infektion vorliegt.
Auch Männer erkranken an Brustkrebs
Das Phänomen der vorurteilsbehafteten Erkrankungen tritt auch bei Männern auf. Depression oder auch Osteoporose gelten als weiblich und werden bei Männern erst mit Verspätung diagnostiziert. Auch Brustkrebs ist ein solches Beispiel. Natürlich kommt er bei Männern im Vergleich zu Frauen sehr viel seltener vor. Allerdings gehe ich davon aus, dass nur sehr wenige Männer überhaupt wissen, dass auch sie an Brustkrebs erkranken können.
Frauen werden bei der Behandlung benachteiligt
Die mangelnde Geschlechtssensibilität betrifft nicht nur das Erkennen von Krankheiten, sondern auch die Behandlung. Besonders Frauen profitieren bei manchen Erkrankungen weniger von der Therapie als Männer, zeigen ungünstigere Krankheitsverläufe und eine höhere Sterblichkeit. Ein Beispiel ist die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK). Umgangssprachlich wird sie auch als „Schaufensterkrankheit“ bezeichnet, weil Betroffene beim Gehen teils starke Schmerzen in den Beinen spüren und stehen bleiben müssen, bis die Schmerzen abklingen. Das sieht dann so aus, als würden sie sich Schaufenster anschauen. Die Erkrankung tritt relativ häufig auf. In Deutschland könnten Schätzungen zufolge vier bis fünf Millionen Menschen betroffen sein. Gerade im frühen Stadium ist sie schwer zu diagnostizieren, kann im weiteren Verlauf aber zur Amputation von Gliedmaßen führen oder tödlich enden. Auch wenn die Krankheit erkannt und behandelt wird, wissen wir aus Studien, dass Frauen nach der Operation im Durchschnitt eine weniger geeignete medikamentöse Behandlung erhalten als Männer. Das führt zu ungünstigeren Verläufen und einer höheren Sterblichkeit.
Mehr Aufmerksamkeit für eine geschlechtersensible Behandlung
Von der ursprünglich starken Orientierung am männlichen Durchschnittskörper haben wir uns in der Wissenschaft und in der Ausbildung weitgehend gelöst. Dass wir eine geschlechtssensible Medizin brauchen, ist Konsens. Auch in der Forschung sind wir schon weit, was eine ausgewogene Berücksichtigung von Frauen und Männern bei der Entwicklung von Medikamenten betrifft. Noch vor zehn Jahren war es ein echtes Problem, dass Wirkstoffe zu einseitig nur an Männern getestet wurden. In der Praxis sehen wir aber, dass viel mehr Aufmerksamkeit für eine geschlechtersensible Behandlung notwendig ist. Und ich sehe auch einen großen Aufklärungsbedarf in der Bevölkerung, wenn es darum geht, falschen Annahmen und Vorurteilen etwas entgegenzusetzen, gerade bei Krankheiten wie Herzinfarkt oder auch Depression.
Unterschiede zwischen Menschen brauchen mehr Beachtung
Hinter der weiterhin zu schwach ausgeprägten Geschlechtssensibilität steht aber ein noch weitreichenderes Problem: Wir orientieren uns in der Medizin generell zu stark an einem Durchschnittsmenschen, den es so nicht gibt. Frauen sind eben keine kleineren, leichteren Männer. Aber auch Kinder sind keine kleinen Erwachsenen – ihr Organismus funktioniert an vielen Punkten noch anders, ihre Organe sind meist erst in der Entwicklung. Oft wissen wir aber nur sehr wenig darüber, wie beispielsweise Medikamente im Kinderkörper wirken. Gleiches gilt für ältere Menschen: Auch über sie wissen wir nur wenig, gerade wenn es um neue Therapien und Wirkstoffe geht. Kinder und Ältere werden aus mehreren, gut nachvollziehbaren Gründen bei der Entwicklung von Medikamenten kaum oder gar nicht in Studien berücksichtigt. Umso wichtiger ist es, dass wir das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer individualisierten Medizin schärfen, die sich viel mehr auf die Unterschiede und die daraus resultierenden unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen konzentriert.