Aus Patientensicht erscheint das Gesundheitswesen mitunter wie eine undurchsichtige Black Box. Solange es nur um Routine-Checks in der Hausarztpraxis oder mal einen Schnupfen geht, ist alles gut. Handelt es sich aber um eine schwerwiegende Erkrankung – ein kaputtes Knie, eine Krebserkrankung oder Beschwerden ohne eindeutige Diagnose – dann wird es ganz schnell unübersichtlich: Wer ist eigentlich wofür zuständig? Soll ich mich wirklich operieren lassen? Und was hängt an der Entscheidung noch alles dran? Was kann ich überhaupt selbst entscheiden?
Berlin, Januar 2022 – Intransparenz im Gesundheitswesen hat mehrere Facetten. Die Medizin im Speziellen, aber auch das Gesundheitswesen insgesamt sind gekennzeichnet durch eine strukturelle Informationsasymmetrie. Das bedeutet: Patientinnen und Patienten verfügen oft nicht über alle relevanten Informationen, um ihre Situation richtig einzuschätzen und eine selbstbestimmte Entscheidung treffen zu können.
"In Diagnostik und Therapie geht es um derart spezifisches Fach- und Erfahrungswissen, dass Patientinnen und Patienten auch mit Dr. Google, Wikipedia und KI-basierter Diagnose-App meist keine fundierte Entscheidung treffen können. Das bedeutet aber nicht, dass sie zu Unmündigkeit und Ahnungslosigkeit verdammt sind."
Gute Patienteninformationen verbessern den Krankheitsverlauf
Ich habe in meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu patientenzentrierter Versorgung geforscht. Das ist jetzt 30 Jahre her. Schon damals wurde diskutiert, dass sich die ärztliche Profession das Teilen von Wissen viel stärker zur Aufgabe machen muss. In der Medizin hatte man erkannt, dass gemeinsam mit Patientinnen und Patienten getroffene, informierte Entscheidungen, wichtig für eine gute Versorgung sind. Das setzt Transparenz in der Arzt-Patienten-Beziehung voraus und wirkt sich direkt auf den Therapieverlauf aus. Die Studienlage ist da sehr klar. Wenn Diabetikerinnen oder Diabetiker verstehen, warum sie eine Insulintherapie erhalten und wie diese funktioniert, treten Komplikationen seltener auf. Auch bei Krebs sehen wir deutlich: Wer die Krankheit und die Wirkungsweise der Therapie verstanden hat, zeigt einen positiveren Krankheitsverlauf.
Sicherlich hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten neben der professionellen Einsicht auch die zunehmende Digitalisierung dazu beigetragen, die Informationsasymmetrie zu reduzieren. Ganz beseitigen lässt sie sich aber nicht. In Diagnostik und Therapie geht es um derart spezifisches Fach- und Erfahrungswissen, dass Patientinnen und Patienten auch mit Dr. Google, Wikipedia und KI-basierter Diagnose-App keine fundierte Entscheidung treffen können. Das bedeutet aber nicht, dass sie zu Unmündigkeit und Ahnungslosigkeit verdammt sind.
Empathie in der Arzt-Patienten-Beziehung
Eine wesentliche Voraussetzung für mündige Entscheidungen ist wissenschaftlich fundiertes und zugleich verständliches und leicht zugängliches Wissen. An Informationen zu medizinischen Themen herrscht heute kein Mangel, das Internet ist voll davon. Daraus resultiert aber schnell Überforderung, weil in der Informationsflut niemand mehr unterscheiden kann zwischen relevant und unwichtig, zwischen belastbar und irreführend. Das hat sich in der Pandemie wieder deutlich gezeigt. Da haben sich Halbwahrheiten und teils wirklich gefährliche Fehlinformationen rasend schnell in der Öffentlichkeit verbreitet.
Das ist der Grund, warum die Barmer seit Beginn der Pandemie eine umfassende Corona-Wissensplattform aufgebaut hat oder auf ihrer Website ein Portal „Gesundheit verstehen“ pflegt. Dort finden sich zu vielfältigen Fachthemen Artikel, die von Redakteuren verständlich aufbereitet und immer auch von Expertinnen überprüft und ständig an den aktuellen Forschungsstand angepasst werden. Im Gesundheitswesen gibt es zahlreiche weitere Organisationen, die über das nötige Wissen verfügen und auch entsprechende Informationsangebote bereitstellen. Dabei bleibt es immer eine Herausforderung, den Spagat zwischen verständlich und fachlich fundiert zu meistern.
Ein zweiter Punkt ist die sprechende Medizin. Der Berufsstand hat sich dafür diesem Aspekt in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich geöffnet. Wenn Sie heute mit jungen Medizinerinnen und Medizinern sprechen, dann ist es für diese selbstverständlich, aufzuklären und Entscheidungen gemeinsam mit Patientinnen und Patienten zu treffen. Das war nicht immer so. Auch hier kann Technologie heute zusätzlich unterstützen, etwa durch Apps, die in die Therapie integriert Hintergrundwissen zur Erkrankung vermitteln und die Therapietreue stärken. Vor allem kommt es aber auf Empathie und eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung an.
Zugriff auf die eigenen Gesundheitsdaten
Schließlich spielt auch die Verfügbarkeit von individuellen Gesundheitsdaten eine wesentliche Rolle für Transparenz und gut informierte Entscheidungen. Grundsätzlich konnten Patientinnen und Patienten auch bisher Einsicht in ihre medizinischen Unterlagen verlangen. Das war aber mühsam und unübersichtlich. Wirklich praktikabel wird es erst jetzt mit der Einführung der elektronischen Patientenakte, kurz ePA. Hier sind alle medizinischen Daten an einer Stelle gebündelt und ganz einfach per Smartphone abrufbar. Eine wichtige Entscheidung des Gesetzgebers war, die Hoheit über diese Daten ganz klar und zweifelsfrei bei den Patientinnen und Patienten zu verankern. Sie haben künftig selbst in der Hand, wem sie welche Daten für welchen Zeitraum freigeben wollen. Sie haben sogar die Möglichkeit, Daten vollständig zu löschen. Das ist ein großer Schritt auf dem Weg zu mündigen Patientinnen und Patienten, überträgt aber auch viel Verantwortung in deren Hand.
Wir haben es hier mit einer neuen und bisher nicht eingeübten Verantwortung zu tun. In den nächsten Jahren braucht es daher niedrigschwellige Angebote, um Versicherte aufzuklären und sie beim Kompetenzaufbau zu unterstützen. Zugleich müssen wir ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Datenschutz und Nutzerfreundlichkeit für die Weiterentwicklung der ePA erreichen. Derzeit führen wir die Diskussion zu einseitig. Zweifellos, der Schutz solcher hochsensiblen Daten ist zentral für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Wir vergessen dabei aber, dass die Patientenakte auch ohne Informatikstudium bedienbar sein muss, sonst überfordern wir weite Teile der Bevölkerung mit der technischen Komplexität und grenzen sie systematisch aus.
Die transparente Krankenkasse
Das oben beschriebene Prinzip der Informationsasymmetrie gilt nicht nur für die Medizin, wir finden es auch in anderen Feldern des Gesundheitswesens, beispielsweise im Verhältnis zwischen Versicherten und ihrer Krankenkasse. Eine schwere Erkrankung, ein Unfall, eine anstehende Operation – solche Lebensphasen sind belastend und die Menschen suchen Sicherheit und Unterstützung. Aber dann verzweifeln sie an komplexen Anträgen und undurchsichtigen Prozessen, weil sie eben keine Sozialrechtsexperten sind.
"Transparente Qualitätskriterien, verständliche Abläufe und nachvollziehbare Entscheidungen machen Patientinnen und Patienten handlungsfähig und schaffen Vertrauen und Sicherheit."
Ich kann gut verstehen, dass sich Versicherte in solchen Situationen hilflos fühlen, traurig oder auch wütend werden. Das darf nicht sein. Deshalb engagiert sich die Barmer seit Langem für mehr Transparenz und macht eigene Prozesse und Entscheidungen nachvollziehbar. Ein konkretes Beispiel ist der Barmer Kompass in der Barmer-App. Seit dem Jahr 2020 können Versicherte über diesen digitalen Service jederzeit mit verfolgen, wie ihr individuelles Anliegen bearbeitet wird. Der Kompass zeigt im Detail den aktuellen Bearbeitungsstand, ob Unterlagen fehlen, warum es zu einer Verzögerung kommt und welche Schritte folgen. Das gibt Sicherheit, verleiht Handlungsfähigkeit und stellt eine Innovation unter den gesetzlichen Krankenkassen dar.
Im Juni 2021 hat die Barmer nun ihren ersten Transparenzbericht veröffentlicht und wird ab sofort jährlich über Leistungskennzahlen wie Bearbeitungsdauer oder genehmigte und abgelehnte Anträge berichten. Damit machen wir Arbeitsabläufe, Entscheidungsprozesse und Leistungsqualität nachvollziehbar. Mit diesem Bericht möchten wir ein Zeichen für mehr Transparenz im Gesundheitswesen setzen – für Krankenkassen, aber ebenso für Therapeutinnen und Therapeuten, Krankenhäuser oder Reha-Einrichtungen. Denn transparente Qualitätskriterien, verständliche Abläufe und nachvollziehbare Entscheidungen machen Patientinnen und Patienten handlungsfähig und schaffen Vertrauen und Sicherheit.