Gemeinsam mit dem F.A.Z-Institut hat die Barmer eine umfassende Studie zum Thema Klimaschutz im Gesundheitswesen erstellt. Denn die Krankenkasse will nicht nur mit eigenen Maßnahmen in Sachen Nachhaltigkeit voranschreiten – sondern auch beleuchten, was sich im gesamten Gesundheitsbereich tut.
„Was nicht gemessen wird, kann nicht verbessert werden.“ Diese Weisheit wird meist dem Management-Pionier Peter Drucker zugeschrieben – auch wenn er den Satz wohl niemals gesagt hat. Doch egal, von wem er wirklich stammt: Der Gedanke dahinter zählt. Um etwas zu verbessern, ist es wichtig, regelmäßig objektive Kennzahlen und Daten zu erheben. Wer sparen will oder muss, sollte ein Haushaltsbuch führen. Wer sein Gewicht verändern will, ist gut beraten, sich regelmäßig zu wiegen. Und wer die Zeit verringern möchte, die sie oder er täglich auf den Screen seines Smartphones starrt, erlebt vielleicht eine Überraschung, wenn ein Blick in die Geräteeinstellungen offenbart, welche Apps die größten Zeitfresser sind.
Auch im Kampf gegen die Klimakrise ist es unerlässlich, regelmäßig sowohl den aktuellen Stand zu prüfen als auch die Fortschritte – beispielsweise im Bereich CO2-Emissionen. Gerade das Gesundheitswesen steht noch viel zu wenig im Fokus, wenn es um Klimaschutz geht. Dabei ist es für rund fünf Prozent der Treibhausgase in Deutschland verantwortlich.
Umfangreiche Studie und eine Kennzahl
„Die Gesundheitsbranche ist ein großer Emittent, aber gleichzeitig überdurchschnittlich vom Klimawandel betroffen“, sagt Dr. Janine Voß, Bereichsleiterin bei der Barmer. „Deshalb wollten wir erheben, wie die Akteure im Gesundheitswesen die Bedeutung des Klimaschutzes und den Handlungsbedarf einschätzen und wo sie auch mit der Implementierung von entsprechenden Maßnahmen stehen. Mit unserer Befragung konnten wir einen tiefen Blick in das Innere des Gesundheitswesens werfen.“ Mit dieser Befragung – und um die Verbesserung transparent, nachverfolgbar und vergleichbar zu machen – hat die Barmer den Transformationsindex Klimaschutz im deutschen Gesundheitssektor entwickelt – kurz TIKG. Dieser Index soll Aufschluss geben, wie sich die Klimaschutzmaßnahmen der Branche von Jahr zu Jahr verändern. Es handelt sich dabei um eine Zahl, die auf zwei Einschätzungen basiert: Wie beurteilen Befragte den aktuellen Beitrag des Gesundheitssektors zur CO2-Reduktion? Und wie schätzen sie die Bedeutung in den nächsten 12 Monaten ein? Aus diesen Werten zur aktuellen Lage und zur zukünftigen Relevanz wird der Index gebildet, der sich zwischen -100 (wenig Bemühungen aktuell, keine Verbesserung erwartet) und +100 (aktuell sehr große Einsparungen und noch höhere zukünftige Relevanz) bewegen kann. „Das Gesundheitswesen ist ein sehr komplexes Gebilde, mit sehr unterschiedlichen Akteuren – vom Pharmaunternehmen bis zur kleinen Arztpraxis“, sagt Dr. Janine Voß. „Auch deshalb war es uns so wichtig, einen ganzheitlichen Blick darauf zu werfen – aber zugleich eine Art Gesamtwert zu haben, den man über die Zeit beobachten und vergleichen kann.“
Der Wert für das Jahr 2022 liegt bei 23,5 – was mangels Vergleichswerten noch eingeschränkt aussagekräftig ist. Doch so, wie man für Fitnessfortschritte seine Trainingseinheiten über einen gewissen Zeitraum verfolgen muss, wird auch der TIKG jährlich erhoben werden. Denn er ist Teil einer Studienreihe, welche die Barmer gemeinsam mit dem F.A.Z.-Institut gestartet hat und ab jetzt regelmäßig durchführen wird. Für die Studie „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ werden dabei Akteurinnen und Akteure aus Praxen, Krankenkassen, Kliniken, Apotheken und Sanitätshäusern sowie der medizintechnischen und pharmazeutischen Industrie befragt. In der ersten Befragung im Spätsommer 2022 wurden 551 Personen interviewt. „Wir haben mit einem standardisierten Online-Fragebogen gearbeitet, der jedoch auf die einzelnen Zielgruppen angepasst wurde. Ein Klinikverbund hat also teilweise andere Fragen bekommen als eine freiberufliche Physiotherapeutin“, sagt Jacqueline Preußer, Head of Research bei F.A.Z. Business Media, die die Befragungen geleitet hat. „Am Ende wurden die Antworten dann gemäß der Mitarbeiterzahlen des jeweiligen Sektors gewichtet.“
Gute Expertise zu Klimathemen an vielen Stellen der Branche
Die Ergebnisse geben einen detaillierten Einblick, wie weit der Gesundheitssektor bereits auf seiner Reise zur Klimaneutralität ist und welche Bereiche bereits weiter sind als andere. „73 Prozent der Befragten sagen, dass sie sich schon aktiv mit dem Thema Klimaschutz beschäftigen oder dies vorhaben. Das finde ich schon mal eine sehr positive Nachricht“, so Dr. Janine Voß. „Und es hat sich gezeigt, dass es im Gesundheitssektor zumindest an einigen Stellen schon eine gute Expertise zu Klimathemen gibt. Diese Kenntnisse und Erfahrungen weiterzugeben und somit den gesamten Gesundheitsbereich klimafreundlicher zu machen – das wird eine der zentralen Aufgaben für die kommenden Jahre sein.
Angekommen ist das Thema Klimaschutz also. Woran es jedoch fehlt, sind die strategische Umsetzung und die konkreten Maßnahmen. Von den Befragten, die sich bereits mit CO2-Vermeidung beschäftigen oder dies planen, berechnen beispielsweise nur 21 Prozent den CO2-Fußabdruck ihrer Organisation. Auf erneuerbare oder lokale Energiequellen setzen nur 34 Prozent aller Befragten. Auf Recycling und kreislauffähige Materialströme setzt immerhin fast die Hälfte. „Leider wird Klimaschutz zu oft noch als mühsame Hausaufgabe gesehen und zu wenig als Chance“, sagt Jacqueline Preußer. „Dabei kann eine Optimierung in Sachen CO2-Emissionen auch Kosten sparen und dafür sorgen, dass man beispielsweise in einer Energiekrise resilienter ist.“ Als Beispiel nennt sie eine Zahnarztpraxis, die von Plastik- auf Mehrwegbecher umstellt. „Das vermeidet Rohstoffverbrauch und Emissionen, aber spart der Praxis auch Geld.“
Größe der Organisationen macht den Unterschied
Auffällig bei fast allen Themen ist der Unterschied zwischen kleinen und großen Organisationen. So werden in der medizinischen Industrie bereits 73 Prozent der Befragten in Sachen Emissionen aktiv, unter den Arztpraxen sind es nur 40 Prozent. Und während bei großen Organisationen wie Krankenkassen oder Industriebetrieben bereits mehr als die Hälfte auf energetische Sanierung und Modernisierung setzt, sind es bei den Apotheken und Sanitätshäusern 40 Prozent, bei den Arztpraxen nur 29. „Es liegt in der Natur der Sache, dass große Organisationen beim Klimaschutz oft schon weiter sind als kleine“, sagt Studienleiterin Preußer. „Große Firmen können gezielt Personal für Nachhaltigkeit abstellen und sind ab einer gewissen Größe verpflichtet, einen Nachhaltigkeitsbericht vorzulegen, sie müssen sich also um das Thema kümmern. Eine Arztpraxis oder Apotheke wiederum hat es oft gar nicht in der Hand, ob und wann ihr Gebäude energetisch saniert wird und das ganze Thema Klimaschutz muss personell eher so mitlaufen.“
Die Barmer ist mit ihren 16.000 Mitarbeitenden und 8,7 Millionen Versicherten sicherlich einer der größeren Player im deutschen Gesundheitswesen. Das bedeutet auch eine besondere Verantwortung und ist der Grund, warum das Unternehmen beim Thema Nachhaltigkeit und damit auch CO2-Vermeidung vorangehen will. Als erste deutsche Krankenkasse ist die Barmer seit 2022 an allen ihren Standorten klimaneutral. Und ist damit ihrer Zeit voraus – denn von den 551 Befragten der Studie „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ waren gerade mal 11 Prozent der Ansicht, dass ein klimaneutrales Gesundheitswesen bis 2030 – wie es zum Beispiel vom Deutschen Ärztetag gefordert wurde – überhaupt noch möglich ist. Auch die Website der Barmer wird komplett klimaneutral betrieben. Viele weitere Maßnahmen zur CO2-Reduzierung wurden umgesetzt oder sind in Arbeit. „Aktuell stehen für uns die Themen Flächenoptimierung und Gebäudesanierung ganz oben auf der Agenda“, sagt Dr. Janine Voß. „Wir haben beispielsweise Optimierungspläne für unsere eigenen Immobilien entwickelt, weil wir durch Desk Sharing dauerhaft weniger Platz benötigen.“ Dies sei jedoch ein deutlich komplexerer Veränderungsprozess, weil es jeden einzelnen Arbeitsplatz betrifft und auch in einem engen Verhältnis zur Unternehmenskultur steht. „Das ist nicht wie eine Umstellung auf Ökostrom, die zentral erfolgt und dann erledigt ist.“
Gemeinsame Agenda statt regulatorischer Hemmnisse
Die Studie der Barmer und des F.A.Z.-Instituts beleuchtet jedoch nicht nur den Status Quo, sie fragte auch nach den Hindernissen: Was hält die Befragten und ihre Organisationen davon ab, klimaneutral zu operieren? Infrastrukturelle Hindernisse, ungeklärte Zuständigkeiten und fehlende emissionsärmere Produkte waren hierbei oft genannte Punkte. Als größtes Hindernis wurden jedoch – von 53 Prozent der Befragten – mangelnde finanzielle Mittel beziehungsweise Zweifel an der Rentabilität von Klimaschutzmaßnahmen beklagt.
Auch der Ruf nach einer ausdrücklichen Verankerung von ökologischer Nachhaltigkeit im Sozialgesetzbuch wird lauter. Auch die Barmer ist der Ansicht, dass Nachhaltigkeit eine Grundbedingung des Verwaltungshandelns sein und deshalb im Sozialgesetzbuch verankert werden sollte.
Doch so wünschenswert ein regulatorischer Rahmen sowie Anreize und klare Vorgaben durch den Gesetzgeber sind: Klimaneutralität kann nicht verordnet, sondern muss von allen Beteiligten selbst gewollt und eigenverantwortlich vorangetrieben werden. Deshalb setzt sich die Barmer für eine bessere Vernetzung und Kooperation der unterschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen ein. Erfahrungen und Best Practices miteinander zu teilen ist ebenso wichtig, wie gemeinsame Standards und eine gemeinsame Agenda der verschiedenen Sektoren. Denn die Herausforderung, die Klimakrise dauerhaft zu stoppen, ist zu groß und komplex, um sie im Alleingang zu bewältigen. Die Studie „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ soll zu dieser Zusammenarbeit einen Beitrag leisten – ganz im Sinne von Peter Druckers Originalzitat: „Solange wir nicht festlegen, was gemessen werden und was der Maßstab in einem Gebiet sein soll, können wir das Gebiet selbst nicht sehen.“
Die ausführliche Studie „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ (Studienjahr 2022, auf das sich dieser Artikel bezogen hatte) der Barmer können Sie sich beim F.A.Z.-Institut herunterladen.
Das zwischenzeitlich vorliegende Studienjahr 2023 können Sie hier als barrierefreies pdf lesen.
Eine interaktive Online-Darstellung aller Ergebnisse (2022 und 2023) finden Sie hier.
Das Universitätsklinikum Freiburg hat einen CO2-Rechner für Gesundheitseinrichtungen veröffentlicht.
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