Eine Frau läuft durch den Wald
Nachhaltigkeitsbericht

Telemedizin für Versicherte und Klima

Lesedauer unter 9 Minuten

Redaktion

  • Christin Kaufmann

Geht es um Telemedizin, dreht sich die Diskussion oft um Erleichterungen für Patientinnen und Patienten oder den Datenschutz. Um die Auswirkungen auf die Umwelt geht es bislang eher selten. Dabei können digitale medizinische Lösungen einen erheblichen Beitrag zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz leisten.

Als es zu Beginn der Corona-Pandemie darum ging, Direktkontakte zu vermeiden, standen viele Ärztinnen und Ärzte vor einem Problem. Wie weiterhin die Menschen behandeln, die Hilfe oder zumindest Diagnose und Rat benötigen – ohne sie in vollen Wartezimmern zusätzlichen Gesundheitsrisiken auszusetzen? Viele taten aus der Not heraus das, wovor sie zuvor lange zurückgeschreckt waren: Sie boten an, Sprechstundentermine per Videotelefonat durchzuführen. Was anfangs eher wie ein Notnagel wirkte, setzt sich immer mehr durch. Dieser Wandel unterstützt auch den Klimaschutz: Telemedizin kann einen entscheidenden Beitrag zur Klimaneutralität des Gesundheitswesens leisten.

Portrait von Steffen Hardtmann

Steffen Hardtmann, Barmer-Teamleiter Digitale Versorgung

„Telemedizin ist ein weit gefasster Begriff, aber letztlich umfasst er Medizin, bei der mindestens ein Aspekt des direkten Kontakts im Gesundheitswesen durch eine digitale Verbindung ersetzt wird“, beschreibt es Steffen Hardtmann, der als Teamleiter Digitale Versorgung für den Barmer Teledoktor mitverantwortlich ist. In Deutschland hatte es Telemedizin zunächst sehr schwer: Das sogenannte Fernbehandlungsverbot untersagte bis Mai 2018 digitale medizinische Dienstleistungen wie beispielsweise eine Sprechstunde per Videochat. Doch in den Folgejahren ebneten TSVG (Terminservice- und Versorgungsgesetz), DVG (Digitale-Versorgung-Gesetz) und DVPMP (Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz) den Weg in die digitale Zukunft. Was in anderen Branchen also oft schon jahrelang gang und gäbe ist, kann nun auch im Gesundheitswesen umgesetzt werden.

Gesparte Wege, weniger Räumlichkeiten, bessere Logistik

Rund 5 Prozent aller in Deutschland emittierten Treibhausgase stammen aus dem Gesundheitswesen – das ist deutlich mehr als beispielsweise die Passagierflugzeuge hierzulande jährlich verursachen. Dies bedeutet aber auch, dass sich ein großes Einsparungspotenzial bietet, um die Gesundheitsversorgung klimafreundlicher zu machen. Das wünscht sich auch die Weltgesundheitsorganisation: „Die Einrichtungen des Gesundheitssektors sind das operative Herzstück der Leistungserbringung, schützen die Gesundheit, behandeln Patienten und retten Leben“, sagt der WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. „Doch die Einrichtungen des Gesundheitssektors sind auch eine Quelle von Kohlenstoffemissionen und tragen zum Klimawandel bei.“ Und weiter: „Orte der Heilung sollten eine Vorreiterrolle spielen und nicht zur Krankheitslast beitragen“.

Betrachtet man den Klimaschutzaspekt, so kann man die Auswirkungen der Telemedizin grob in drei Bereiche unterteilen: Patientensicht, Arztsicht und Systemsicht. „Aus Sicht der Patientinnen und Patienten bedeutet eine Videosprechstunde beispielsweise, dass der Weg in die Praxis ebenso entfällt wie der Rückweg“, sagt Hardtmann. „Das können gerade in ländlichen Gebieten eine Menge Autokilometer sein.“ Auch sogenanntes Telemonitoring fällt in diesen Bereich, das den Fokus auf regelhafte gesundheitliche Kontrolle setzt: Statt beispielsweise regelmäßig zum Blutdruckmessen in die Apotheke fahren zu müssen, kann eine Patientin die Werte zuhause erfassen und wird bei abweichenden Werten gewarnt. Ebenso ihre medizinischen Betreuenden.

Aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte können ebenfalls Wege entfallen, beispielsweise wenn ein Tag in der Woche komplett für Fernsprechstunden reserviert wäre und die oder der Behandelnde an diesem Tag gar nicht in die Praxis fahren müssten. „Aber auch der Platzbedarf in einer Arztpraxis kann mittelfristig sinken, wenn Telemedizin stärker zum Einsatz kommt“, so Hardtmann. „Die Praxen müssen dann weniger Räumlichkeiten vorhalten, und weniger Platzbedarf bedeutet auch weniger CO2-Emissionen.“ Auch Telekonsile – also der fachliche Austausch von mehreren Behandelnden der gleichen oder unterschiedlichen Fachrichtungen – können Wege sparen. Weder müssen die Ärztinnen und Ärzte an einem Ort zusammenkommen, noch muss die Patientin oder der Patient mehrere Ärzte der Reihe nach besuchen.

Die Systemsicht zu guter Letzt „beinhaltet alles, was nicht das unmittelbare Arzt-Patienten-Verhältnis betrifft“, so Hardtmann. „Darunter können beispielsweise Logistikfragen fallen wie die Vorratshaltung von Medikamenten in Apotheken oder Hilfsmitteln in Sanitätshäusern.“ Von der elektronischen Patientenakte (ePA) über die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum E-Rezept umfasst dieser Bereich viele unterschiedliche Facetten, von denen viele bereits in Arbeit, aber noch nicht alle abgeschlossen und komplett einsatzfähig sind. Letztlich ist eine komplette Neukonzeption der Prozesse im Gesundheitswesen durch den Einsatz von Telemedizin möglich, die in vielerlei Hinsicht effizienter und damit kostengünstiger aber vor allem auch umweltfreundlicher gestaltet werden können.

Aus der Komfortzone gedrängt

„Es gibt zahlreiche Belege für die Wirksamkeit und Kosteneffizienz von Telemedizinprojekten, aber nur sehr wenige für die Auswirkungen auf die Umwelt“, schreiben die Autorinnen und Autoren einer Metastudie zum Thema im Future Healthcare Journal. 14 Studien aus 6 verschiedenen Ländern kämen einstimmig zu dem Ergebnis, dass der Einsatz von Telemedizin zu einer signifikanten Reduktion an CO2-Emissionen führe, so die Forscher. Wie groß diese Reduktion genau ausfällt, hinge in erster Linie von der Entfernung ab, die Patientinnen und Patienten normalerweise zur Praxis zurücklegen müssen.

Eine Frau mit Thermometer in der Hand vor einem Bildschirm

Auch das Wexner Medical Center der amerikanischen Ohio State University warf im Zuge der Corona-Pandemie einen genaueren Blick auf das Klimaschutzpotenzial von Telemedizin. Um erfassen zu können, wie sich die Umstellung auf Videosprechstunden und andere Telemedizinlösungen auswirkt, wurden die entsprechenden Daten anonymisiert erfasst und auf einem digitalen Dashboard dargestellt. „Wir fanden heraus, dass wir rund 80 Millionen gefahrene Kilometer und somit etwa 8,2 Millionen Liter Benzin einsparen konnten“, sagt Aparna Dial, die als Direktorin für Nachhaltigkeit und strategische Dienste das Projekt leitete. „Ebenso wurden 17.500 Tonnen Kohlendioxid eingespart – das entspricht in etwa dem Energieverbrauch von 2.500 Haushalten in einem Jahr. Und diese Einsparungen gingen keineswegs zu Lasten der Patientenzufriedenheit, die wir ebenfalls erhoben.“ Das Wexner Medical Center ist ein Großklinikum mit über 100 Gebäuden und etwa 23.000 Mitarbeitenden. „Seit Beginn der Pandemie haben wir 768.970 Telesprechstunden durchgeführt”, sagt Dial. „Zum Vergleich: Zwischen Juli 2019 und Februar 2020 waren es gerade mal 800. Wenn die Pandemie also etwas Positives hatte, dann, dass sie sowohl Behandelnde als auch Patientinnen und Patienten aus ihrer Komfortzone gedrängt und dazu gebracht hat, Telemedizin auszuprobieren.“

Mutiger in die digitale Zukunft

Natürlich muss man bei einer Gegenüberstellung der jeweiligen CO2-Fußabdrücke auch die Herstellung der verwendeten Computer-Hardware und den Stromverbrauch digitaler Geräte erfassen. Doch auch, wenn man dies miteinrechnet, liegt die Telemedizin deutlich vorne. Zu diesem Ergebnis kam eine schwedische Untersuchung der Universitätsklinik von Umeå. Dort wurden Kontrolluntersuchungen und Reha-Maßnahmen nach Handoperationen sowie Sprachtherapiesitzungen ausgewertet, die per Videochat durchgeführt wurden. Das Ergebnis: Selbst, wenn man ein sogenanntes Life-Cycle-Assessment durchführt – also von der Herstellung der Webcam der Ärztin bis zum Stromverbrauch des Routers des Patienten alles anteilig miteinberechnet – sorgten die Fernsprechstunden für einen 40- bis 70-mal niedrigeren CO2-Ausstoß, verglichen zu einem Termin vor Ort. „Wir kommen zu dem Schluss, dass eine breitere Einführung der Telemedizin einen erheblichen Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen leisten könnte, die den Klimawandel vorantreiben“, so die Studie. Aparna Dial von der Ohio State University kann bislang ebenfalls keine Anzeichen dafür erkennen, dass Telemedizin mehr Ressourcen verbraucht als sie einspart: „Wir untersuchen gerade, wie sich unser Telemedizin-Angebot auf den Stromverbrauch auswirkt“, sagt sie. „Aber wir erwarten keinen starken Anstieg, denn zumindest auf Seiten der Behandelnden würde ja auch bei einem Termin vor Ort ein Computer zum Einsatz kommen.“

Auch Steffen Hardtmann ist davon überzeugt, dass Telemedizin ein wichtiger Baustein für ein klimaneutrales Gesundheitswesen ist. „Natürlich sind nicht alle Krankheiten für Telemedizin geeignet“, sagt er. „Ein gebrochenes Bein muss vor Ort behandelt werden, nicht per Videosprechstunde.“ Aus diesem Grund schildern die Versicherten zuerst einmal ihre Symptome, wenn sie die Barmer Teledoktor-App nutzen. „Stellt sich heraus, dass eine Videosprechstunde geeignet ist, vermittelt die App auf Wunsch eine geeignete Praxis, die eine telemedizinische Behandlung anbietet.“ Neben dem Teledoktor arbeite die Barmer auch noch an verschiedenen anderen telemedizinischen Projekten – teils alleine, teils mit anderen Kassen zusammen – die sich in verschiedenen Testphasen befänden. „Wir arbeiten an neuen digitalen Lösungen für elektronische Verordnungen, beispielsweise von Arznei- oder Hilfsmitteln.“

Die Corona-Pandemie habe der gesamten Digitalisierung im Gesundheitswesen einen großen Schub verpasst, so Hardtmann. Davon profitierten am Ende alle: Die Versicherten, die Behandelnden, die Krankenkassen – und eben auch die Umwelt. Nun geht es darum, das Momentum nicht wieder zu verlieren: „Ich würde mir wünschen, dass alle Beteiligten ein wenig mutiger in die digitale Zukunft gingen“, sagt Hardtmann. „Natürlich hat eine einzelne Videosprechstunde nicht denselben Klimaschutzeffekt wie ein geschlossenes Kohlekraftwerk. Aber damit wir die Klimakrise abwenden können, müssen alle Branchen ihre Prozesse optimieren und Ressourcen sparen, wo immer sie können – natürlich ohne dabei die Qualität der Versorgung zu opfern.“

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