Illustration künstlicher Intelligenz
CDR-Bericht

Erstkontakt mit Dr. KI

Lesedauer unter 11 Minuten

Redaktion

  • Christin Kaufmann

Qualitätssicherung

  • Maria Hinz (Barmer.i)

Künstliche Intelligenz revolutioniert viele Anwendungen in der Medizin. Darüber, wie sich die Technik sicher und verantwortungsvoll im Gesundheitswesen einsetzen lässt, wird derzeit noch diskutiert. Ein Werkzeug, das helfen soll, mehr Menschen an dieser Debatte zu beteiligen, kommt von einem jungen Design-Team: eine Box für die KI-Diagnose.

Computer und Algorithmen assistieren schon heute in vielen Bereichen des Gesundheitswesens. Aus der Medizin von morgen ist Künstliche Intelligenz (KI) gar nicht mehr wegzudenken. In diesem Punkt sind sich Forschende und Behandelnde weitgehend einig. Auch die Patientinnen und Patienten rechnen damit, dass KI zukünftig verstärkt in Diagnose und Therapie eingesetzt wird. Was genau das bedeutet, bewerten die Beteiligten jedoch sehr unterschiedlich. Behandelnde setzen darauf, dass die neuen Technologien sie in ihrem Arbeitsfeld entlasten: weniger Routinevorgänge, mehr Zeit für die Menschen. Oder sie fürchten um ihren Job, weil KI-Systeme heute in manchen Disziplinen schon erstaunliche Ergebnisse erzielen. Eine Medizinethikerin sieht andere Herausforderungen auf die Gesellschaft zukommen als ein Experte für Datenschutz. Und auch unter den Patientinnen und Patienten gibt es keine einheitliche Haltung. Das Spektrum reicht von „Ich würde meine Gesundheit sofort Dr. KI anvertrauen“ über „Keine Algorithmen bei der Anamnese“ bis zu „Ich weiß nicht mal, was mit KI genau gemeint ist.“ 

Kiana Screen Abbildung

Eine KI namens Ana unterstützt bei der Diagnoseerstellung.

Das vorweg: Der Begriff Künstliche Intelligenz bezeichnet Maschinen, die Prozesse wie Denken, Lernen und Argumentieren ausführen – ähnlich, wie es Menschen tun, aber sehr viel schneller und auf Grundlage immenser Datenmengen. Das lernende Diktiersystem zum Beispiel, das der Hausarzt nutzt, um seine Arztbriefe einzusprechen, basiert ebenso auf einer KI wie der Algorithmus, der beim Röntgen die Strahlung präzise auf die zu untersuchende Stelle richtet. Viele Anwendungen, über die bereits in den Medien berichtet wird, befinden sich erst in der Testphase. Doch Fachleute sind überzeugt, dass in den kommenden Jahrzehnten kein Bereich in der Medizin von ihr unberührt bleiben wird. Gerade weil mit KI soviel gemeint sein kann und sie die Menschen auf sehr unterschiedliche Weise betrifft, brauchen Debatten über sie eine gemeinsame Basis. Denn es geht alle an, welche Aufgaben diese Systeme künftig im Gesundheitswesen übernehmen.

Diskussionsgrundlage aus Karton 

Ein Vorschlag, wie so eine Gesprächsgrundlage aussehen kann, kommt von drei Studierenden der Hochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd. Michelle Duchow, Johannes Ruf und Felix Weißhaar machen dort ihren Master in Strategischer Gestaltung. In einem Kurs sollten die Studierenden Zukunftsszenarien so ausgestalten, dass diese sich auch Außenstehenden sofort erschließen. Gegenstand des Kurses, den die Barmer als Kooperationspartnerin begleitete: „Design for Care“, also ein Ausblick auf die Zukunft der Gesundheitsversorgung. „Die Studierenden waren in ihrem Vorgehen völlig frei“, sagt der Bereichskoordinator Daniel Höffner, der das Projekt von Seiten der Barmer begleitete. Um den Rahmen zu stecken, traf sich das Design-Team mit Kolleginnen und Kollegen der Barmer zum Workshop. Etwas, das alle beschäftigte: Der Einsatz von KI. „Das Thema wurde schnell sehr groß und theoretisch“, sagt der Designer Felix Weißhaar. „Gerade das hat uns interessiert. Wir wollten es greifbar machen.“

Kiana Mitarbeiter vor einer Kiana Box

Felix Weißhaar erklärt die KIANA Box.

Ihr Ansatz: den Arztbesuch der Zukunft gestalten. Die Studierenden bildeten eine Fokusgruppe mit Nutzenden und interviewten Fachleute, darunter einen Gefäßchirurgen. Aus den gesammelten Informationen entwickelten sie über mehrere Monate KIANA, eine begehbare Box, etwas größer als ein Passbildautomat. Diese „Health-Box“ kombiniert künstliche Intelligenz und menschliches Können: Eine KI namens Ana erstellt die Diagnose, die dann von Ärztin oder Arzt bestätigt wird. Das Szenario biete eine „effiziente Diagnostik und eine anonymisierte, sowie menschenzentrierte Forschungsumgebung“, heißt es in der Projektbeschreibung. „Es ging uns allerdings nicht darum, ein perfektes KI-Produkt zu entwickeln“, sagt Johannes Ruf. „Wir wollten etwas kreieren, das für Fachleute und Laien gleichermaßen erlebbar ist, damit alle auf der gleichen Grundlage miteinander diskutieren können.“ Und das mit möglichst geringem Aufwand: „Dachlatten, Karton und ein wenig Technik“, so Felix Weißhaar. Ein Minimum Viable Product (MVP), also ein minimal einsatzfähiges Produkt, wie es im Design-Jargon heißt. Wer die Box betritt, sieht sich einem Bildschirm gegenüber. Die darauf simulierte KI führt Schritt für Schritt eine – vom Design-Team voreingestellte – Anamnese durch. Eine Erkrankung, die sich mit KIANA durchspielen lässt: das Volksleiden Rückenschmerzen.

Innenraum mit Screen der Kiana Box

Die KIANA Box als möglicher Ausblick auf die Zukunft der Gesundheitsversorgung?

Die Computerstimme Ana fragt dann ab, wo die Schmerzen auftreten, seit wann diese bestehen und ob ein Unfall oder Sturz sie ausgelöst hat. Ana fordert die Person in der Box auch auf, verschiedene Bewegungen auszuführen. So, wie es der Praxisleitfaden für den ärztlichen Bereitschaftsdienst vorgibt. Und mit dem Duktus von Telefonbots, wie die meisten Menschen sie von Anrufen bei Großunternehmen kennen: „Habe ich Sie richtig verstanden? Sagen Sie bitte: Ja...“ Wer sich schon immer mal gefragt hat, wie es sich anfühlen mag, von einer KI untersucht zu werden, findet hier eine Antwort.

Einsetzen oder aussetzen?

Mehr als die Hälfte der Deutschen bewertet es in Umfragen positiv, dass Künstliche Intelligenz zunehmend in der Medizin eingesetzt wird. Gemeint sind damit zum Beispiel Roboter, die chirurgische Fachkräfte während der OP unterstützen, aber auch Computer, die in Sekundenschnelle Millionen von Krankheitsdaten nach Übereinstimmungen durchforsten. Gerade in der Früherkennung von Krankheiten erzielen neuronale Netzwerke oft erstaunliche Ergebnisse. Eine auf Schriftsprache trainierte KI beispielsweise erkannte in einer Studie mit 70-prozentiger Genauigkeit, ob Menschen in den kommenden Jahren an Alzheimer erkranken würden – allein anhand ihrer Wortwahl und ihrer Schreibfehler. Ein anderes KI-System prognostizierte basierend auf Unterhaltungen, ob Jugendliche innerhalb von zwei Jahren eine Psychose entwickeln würden. Die Maschine lag in 85 Prozent der Fälle richtig. Auch bei der Darmspiegelung identifizieren KI-Systeme treffsicher auffällige Veränderungen – häufig sogar präziser als Ärztinnen und Ärzte.

All diese Erkrankungen setzen schleichend ein. Bis sie in einer herkömmlichen Untersuchung entdeckt werden, sind sie oft schon zu weit fortgeschritten, um gut therapierbar zu sein. KI-Systeme diagnostizieren sie anhand anderer Informationen und damit oft früher als Menschen das können. Die Algorithmen sind meist auch schneller darin als das menschliche Auge, Bilddaten, Laborbefunde oder Blutwerte nach Auffälligkeiten zu durchsuchen. Sie haben zwar nicht den geschulten Blick von Fachleuten, können immer nur das eine Symptom erkennen, auf das sie trainiert wurden. Aber sie entdecken das eine Bild mit Krebszellen, genetischer Veränderung oder Einblutungen in der Netzhaut unter Tausenden Scans. Dass viele Menschen den Einsatz dieser Technik in der Medizin begrüßen, verwundert also kaum. Doch eine medizinische Innovation auf dem Papier – das heißt bei einer Umfrage – gut zu finden, ist das eine. Das andere ist, ihr im Untersuchungszimmer gegenüber zu stehen. Wenn Dr. KI zur Visite bittet, geht es nicht mehr um die theoretische Gesundheit aller Menschen. Es geht um die eigene. In einem extremen Szenario beträte ein Mensch mit Rückenschmerzen die KIANA-Box und erhielte neben dem erwünschten Rezept für Physiotherapie auch eine unerwartete Überweisung an eine psychologische Fachkraft.

Risiken und Nebenwirkungen

Die Barmer hat den Anspruch, ihre Versicherten bestmöglich zu versorgen. Dazu zählt auch, die Herausforderungen einzuschätzen, die medizinische Neuerungen mit sich bringen. Oft sind es Startups, die neue Anwendungen entwickeln. Das von jungen Tech-Firmen gern zitierte Motto „move fast and break things“ – etwa: Sei schnell, auch wenn dabei Dinge zu Bruch gehen – klingt bezogen auf medizinische KI vielleicht ein wenig zu dynamisch. Was, wenn ein Algorithmus fehlerhaft ist? Oder er hat eine unabsichtlich eingebaute Verzerrung: Wurde eine KI zum Beispiel überwiegend mit Daten junger weißer Männer trainiert, können ihre Diagnosen kaum für alle Patientengruppen repräsentativ sein. Dass das medizinische Personal, das diese KI einsetzt, auch geschult darin ist, so einen Bias zu bemerken, ist – zumindest bei heutigen Ausbildungsstandards – unwahrscheinlich.

Portrait Johannes Ruf

Johannes Ruf, Student der HfG in Schwäbisch Gmünd

Datenschutz, Diskriminierung, Ausgrenzung, technisches Versagen – mit jeder neuen Technologie eröffnen sich auch neue Fehlerquellen. Die Barmer setzt auf interne und externe Expertise, um Chancen und Risiken abzuwägen. Die Kooperation mit der Hochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd verdeutlichte, wie junge Designerinnen und Designer medizinische Fragestellungen erörtern. „KIANA war eines von mehreren Projekten, das uns begeistert hat“, sagt der Barmer-Bereichskoordinator Daniel Höffner. „Wir haben uns als Krankenkasse in den vergangenen Jahren neu ausgerichtet und fokussieren uns auf die Kundenperspektive“, so Höffner. „Was wir denken, das die Versicherten brauchen, ist nicht relevant. Wir fragen sie und binden sie in unsere Entscheidungen mit ein.“ Mit der von Michelle Duchow, Johannes Ruf und Felix Weißhaar entworfenen Box kann die Krankenkasse die Diskussion nun mit wenig Aufwand dorthin bringen, wo sie Menschen akut betrifft: in Krankenhäuser, zu Medizin-Kongressen oder auf öffentliche Plätze.

Zukunft mitgestalten

„Die KIANA-Box lässt sich schnell überall aufstellen“, sagt Johannes Ruf. „Alle, die sie betreten, erleben etwas Vergleichbares, unabhängig von ihrem individuellen Background.“ Selbst bei Menschen, die sich schon viel mit KI befasst haben, triggert diese Erfahrung zuweilen neue Fragen – zum Beispiel, wenn die Computerstimme darum bittet, man möge sich für die Anamnese in der Box ausziehen. Was sich im Empfangsbereich einer Praxis vielleicht noch normal anfühlt, ist plötzlich unangenehm, wenn die Box in einer Fußgängerzone steht. Auch, welcher Firmenname auf der Box zu sehen ist, mache für Probanden einen Unterschied, sagt Ruf. „Steht darauf Barmer, ist das Vertrauen, dass die erhobenen Daten sicher sind, wohl größer als bei einem unbekannten Unternehmen.“

Portrait Felix Weißhaar

Felix Weißhaar, Student der HfG in Schwäbisch Gmünd

Getestet hat das Design-Team die KIANA-Box während der Abschluss-Ausstellung an der Hochschule. „Wir haben in diesen zwei Tagen eigentlich durchgehend mit Besuchenden diskutiert“, sagt Felix Weißhaar. Ein älterer Mediziner sei begeistert gewesen von der Idee einer KI-Anamnese. „Der Bürgermeister fand, so eine Box wäre eine gute Sache für die Erweiterung des Wartebereichs des örtlichen Krankenhauses“, sagt Johannes Ruf. Der 11-jährige Sohn eines Barmer-Mitarbeiters, der die Box betrat, fand sich auf Anhieb zurecht und konnte diese bedienen. Eine Rollstuhlfahrerin hätte KIANA gerne ausprobiert, ihr Rollstuhl passte aber nicht durch die Tür. Auch das sei ein wichtiger Punkt für eine Debatte, so Ruf: „Ist das Produkt inklusiv und barrierefrei?“

Portrait Michelle Duchow

Michelle Duchow, Studentin der HfG in Schwäbisch Gmünd

Etliche Menschen äußerten nach dem Boxen-Stopp jedoch auch Bedenken. Symptome, die einem ernsthafte Sorgen bereiten, möchte man vielleicht nicht mit einer Maschine besprechen. Gerade schwerwiegende Diagnosen wollen die meisten wohl auch lieber von einem Menschen hören. Die Designer sagen von sich selbst, sie seien für KI-Untersuchungen offen. „Als Gestalter gehören wir zu denjenigen, die heute daran mitwirken, was morgen Wirklichkeit wird. Deswegen sind wir Neuerungen gegenüber generell offen eingestellt“, sagt Johannes Ruf. Für einen großen Teil der Bevölkerung gilt das nicht. Die meisten Menschen wissen zwar, dass die Einsatzbereiche von KI in der Medizin zunehmen. Aber sie haben nur begrenzte Möglichkeiten, diese Entwicklung mitzusteuern. Die Barmer versucht deswegen, eine breite Öffentlichkeit in die Diskussion einzubinden: Patientinnen und Patienten sollen sich nicht ausgeliefert fühlen. Denn wer für sich keinen Handlungsspielraum sieht, reagiert ängstlich. Gerade, wenn es um die eigene Gesundheit geht, ist das keine gute Voraussetzung. „Wir setzen uns für ein transparentes Gesundheitswesen ein, damit die Menschen souveräne, informierte Entscheidungen für sich treffen können“, so Daniel Höffner. Derzeit prüfe die Barmer, ob sich die KIANA-Box in wechselnden Geschäftsstellen aufstellen lasse. So hätten Versicherte die Möglichkeit, die KI-Visite zu testen und sich eine Meinung zu bilden. Ein erster Kontakt mit der Medizin der Zukunft – dank Dachlatten, Karton und ein wenig Technik.

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