Frau legt Mann die Hand auf die Schulter
Psychische Erkrankungen

Warum psychische Erkrankungen kein Tabu mehr sein sollten

Lesedauer unter 16 Minuten

Redaktion

  • Sarah Meerhaus

Qualitätssicherung

  • Andrea Jakob-Pannier (Diplom-Sozialpädagogin/ Psychologin/ Psychoonkologin, Barmer)
  • Dirk Weller (Diplom-Psychologe)

Depressionen, Burn-out-Syndrom, Angstattacken: Die Welt der psychischen Erkrankungen ist kompliziert. Viele sind verwirrt und verunsichert: bin ich noch „normal“, habe ich nur eine „Krise“, wann bin ich krank, sollte ich mich behandeln lassen? Die Barmer hilft bei der Orientierung. 

Warum leidet die Psyche so oft und was können wir tun, um sie zu stärken?

Es lohnt sich also, die Sprache dieser Welt zu verstehen, denn grundsätzlich kann es uns alle treffen: ob jung oder alt, männlich oder weiblich, in Deutschland geboren oder zugezogen. Bereits jetzt leidet jeder vierte Bundesdeutsche einmal im Laufe seines Lebens an einer depressiven Erkrankung, Tendenz steigend. Auch Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren sind immer häufiger von Depressionen betroffen.

Doch warum leidet die Psyche so oft und was können wir tun, um sie zu stärken? Was können wir für bereits psychisch Erkrankte tun, damit sie eine Chance haben, wieder gesund zu werden? Fragen, die wir als Barmer sehr ernst nehmen. Denn uns ist die psychische Gesundheit der Versicherten sehr wichtig und wir sehen die steigenden Zahlen psychischer Erkrankungen als Herausforderung. 

Deshalb sind wir überzeugt, dass das Thema zu Recht immer mehr an öffentlicher Beachtung gewinnt. Allerdings gibt es hier leider noch so einige Wissenslücken in der Bevölkerung. Andere Bereiche der Gesundheitskompetenz sind teilweise deutlich weiterentwickelt. 

Diese Lücken möchten wir mit unserem Themenspecial „Psychische Erkrankungen“ schließen und unsere Versicherten zugleich ermutigen, ihre psychische Gesundheit – soweit es irgend möglich ist – in die eigene Hand zu nehmen: Dazu widmen wir uns vielen wichtigen Aspekten und häufig gestellten Fragen rund um das seelische Wohlbefinden.

Die folgenden Fragen und Antworten richten sich nicht nur an Betroffene. Wir legen auch Freunden und Angehörigen nahe, sich über psychische Erkrankungen zu informieren. Depressionen zum Beispiel betreffen häufig auch das gesamte soziale und familiäre Umfeld. 

Aufklärung und Wissen über Symptome und Verlauf der Krankheit können nahestehenden Personen und den Betroffenen helfen, besser mit den Umständen fertig zu werden. Unsere Seele ist ein komplexer Ort, den wir mit Ihnen und für Sie erkunden möchten. Von A bis Z, von Ängste bis Zwänge.

Geben Sie mit uns einer Tabuisierung oder auch einer Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen keine Chance. Es zeugt von enormer Stärke, eine psychische Störung zu erkennen und behandeln zu lassen.

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Was ist psychische Gesundheit?

Betrachten wir einmal die Möglichkeiten, psychische Gesundheit zu definieren. Mythen, Klischees und subjektive Einschätzungen über psychische Erkrankungen sind weit verbreitet und haben sich so hartnäckig in der Gesellschaft festgesetzt, dass wir uns für das allgemeine Verständnis auf einen gemeinsamen Nenner bringen möchten. Erste Anregungen finden wir schon bei den alten Griechen.

Psyche – die unsichtbare Kraft

Denn die Bedeutung des Wortes „Psyche“ ist ursprünglich eine Metapher: Psyche ist das altgriechische Wort für „Atem“ oder „Hauch“, also eine unsichtbare Kraft, die uns komplett ausfüllt und am Leben hält. Die Gelehrten der Antike haben schon 800 Jahre vor unserer Zeit festgehalten, dass unsere Seele das Kostbarste und Wertvollste überhaupt ist. 

Denn mit ihr empfinden wir Liebe, Glück und Vorfreude, aber auch Trauer, Wut und Angst – die zwei Seiten der Medaille Mensch. Die Psyche ist die Kommandozentrale unseres Körpers, aus der sämtliche Entscheidungen getroffen werden, die das Leben in die eine oder andere Richtung lenken.

Heute formulieren wir es beispielsweise folgendermaßen: "Psychische Gesundheit ist ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und etwas zu ihrer Gemeinschaft beitragen kann." 

So lautet die Definition der World Health Organization (WHO) in der Ottawa Charta von 1986. Laut WHO ist die psychische Gesundheit für den einzelnen Bürger eine Voraussetzung dafür, dass er sein intellektuelles und emotionales Potenzial verwirklichen und seine Rolle in der Gesellschaft, in der Ausbildung und im Arbeitsleben finden und erfüllen kann. Auf gesellschaftlicher Ebene trägt die psychische Gesundheit zum wirtschaftlichen Wohlstand, zur Solidarität und zur sozialen Gerechtigkeit bei.

Den Belastungen des Alltags standhalten

Zusammengefasst ist psychische Gesundheit also ausschlaggebend dafür, dass wir den Belastungen des Alltags standhalten, einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten und unsere Fähigkeiten voll und ganz ausschöpfen können. Achtsamkeit und individuelle Lebensrezepte spielen beim Erfüllen dieser Lebensaufgaben eine ganz große Rolle. Achtsamkeit hilft uns dabei, geistesgegenwärtig, hellwach und ohne sich in alltäglicher Hektik zu verlieren unseren Körper und unseren Geist wahrzunehmen. Glücklicherweise sind wir als Gesellschaft so weit, dass Achtsamkeit immer häufiger praktiziert und gelehrt wird.

Übrigens ist psychische Gesundheit auch eine zentrale Voraussetzung für Gesundheit insgesamt. „Gesundheit“ ist aus Sicht der WHO ein „Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“. Damit hat die moderne Medizin anerkannt, dass der Mensch erst dann gesund ist, wenn wir körperlich und seelisch intakt sind. 

Dieses Wechselspiel kennen wir noch aus einem anderen medizinischen Begriff: die Psychosomatik. Diese ganzheitliche Lehre ist so alt wie die Medizin selbst und untersucht, wie sich psychische Einflüsse auf den Körper auswirken und umgekehrt körperliche Erkrankungen psychische Prozesse beeinflussen. Kurz gesagt, wie psychische Beschwerden und körperliche Beschwerden zusammenhängen. Bekannte psychosomatische Beschwerden sind Migräne, Reizdarm, Panikattacken, Schwindel oder Herzrasen.

Was machen psychische Erkrankungen mit mir und wie erkenne ich sie?

Viele Betroffene beschreiben eine psychische Erkrankung wie einen ungebetenen Gast, der einfach nicht gehen möchte. Ein ständiger Begleiter, der manchmal leise im Hintergrund summt oder – wenn ein erkrankungsbedingter Zustand akut ist – sämtliche Gedanken übernimmt und steuert. Mit diesem Gast im Schlepptau ist es unmöglich, wie gewohnt am Leben teilzunehmen.

Anzeichen für eine psychische Erkrankung

Einheitliche Anzeichen für alle psychischen Erkrankungen gibt es wenige, die Vielfalt ist erheblich. Experten beschreiben eine Psychische Störung als einen Zustand, der durch auffällig abweichende Erlebens- und Verhaltensweisen charakterisiert ist. 

Eine Abweichung von „normalem“ Verhalten ist jedoch kein hinreichendes Indiz für eine psychische Störung. Psychische Störungen sind typischerweise mit einem persönlichen Leidensdruck verbunden oder mit Einschränkungen in sozialen oder berufs- sowie ausbildungsbezogenen und anderen wichtigen Aktivitäten.

Betrachten wir noch einmal das häufigste Beispiel, die depressiven Erkrankungen. Antrieb, Hunger und Lebensfreude sind irgendwo, nur nicht anwesend und man hat das Gefühl, neben sich zu stehen. Oft kündigen sich solche psychischen Krisen über einen längeren Zeitraum an und sollten, sobald man häufige Anzeichen verstärkt wahrnimmt, sorgsam beobachtet werden:

  • leichte Reizbarkeit
  • Niedergeschlagenheit und Traurigkeit
  • Leistungsabfall
  • unberechtigte Schuldgefühle
  • starke Befürchtungen und Ängste
  • Rückzug von sozialen Kontakten
  • der Alltag kann kaum noch bewältigt werden
  • Appetitlosigkeit
  • Schlafstörungen
  • Rückenschmerzen
  • Verdauungsstörungen

Wenn sich die Persönlichkeit verändert

Ganz besonders niederschmetternd für Betroffene ist die Tatsache, dass die eigene „Natur“, die Persönlichkeit vor der Erkrankung, durch eine Krise wie eine Depression fast völlig überdeckt wird. Selbst Menschen, die von ihrer Familie und ihren Freunden als lebensfroh beschrieben werden, können von einer Depression betroffen sein. 

Darüber hinaus sind die Faktoren, die beispielsweise zu einer Depression führen können, nicht immer offensichtlich. Traumata aus der Kindheit, plötzliche Lebensumstellungen oder ein veränderter Hormonhaushalt können in Wechselwirkung oder alleinstehend für das Auftauchen psychischer Störungen verantwortlich sein.

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Wie unterscheide ich einen „schlechten Tag“ von einer psychischen Erkrankung?

Um zum Beispiel ein völlig normales Stimmungstief von einer Depression zu unterscheiden, ist der Faktor Zeit wichtig. Damit möchten wir sagen, dass das vorübergehende Empfinden von Trauer, Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit gerade in schwierigen Lebenssituationen völlig normal ist – solange sie von alleine abklingen und nicht mehrmals im Jahr über einen langen Zeitraum auftreten. 

Wir verstehen, dass es in unserer heutigen, nach Glück strebenden Welt schwierig sein kann, negative oder herausfordernde Gefühle zu akzeptieren und innerlich zuzulassen. Lassen Sie diesen Gedanken jedoch los – die gesamte Bandbreite an Emotionen gehört zum Leben dazu Einigen Wissenschaftlern zufolge kann hohe sogenannte „Emodiversity“, also Gefühlsvielfalt, sogar ein gesundheitlicher Schutzfaktor sein. Oftmals hilft schon unser Bauchgefühl beim Einordnen von Emotionen.

Auf die Dauer und Symptome kommt es an

Steht trotzdem alles Kopf? Nach dem internationalen Klassifikationssystem ICD-10 (International Classification of Diseases) sprechen Ärzte von einer leichten depressiven Episode, wenn Sie länger als zwei Wochen an zwei Hauptsymptomen wie einer depressiven Stimmung und Antriebsmangel und zwei sogenannten Zusatzsymptomen wie Schlafstörungen und Schuldgefühlen leiden. Falls Sie das Gefühl haben, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, raten wir Ihnen, psychologische oder ärztliche Hilfe an Anspruch zu nehmen.

Kann ich meine mentale Gesundheit mit persönlichen Lebensrezepten pflegen?

Ein heißes Vollbad, morgens reichlich strecken oder eine Maske, die unser Gesicht mit Feuchtigkeit versorgt: Wir lieben es, unseren Körper zu verwöhnen und fit zu halten und greifen dafür auf unterschiedlichste Pflegerituale zurück. Doch was tun wir für die Pflege unseres Geistes und unserer Psyche? Oft sind wir uns nicht bewusst darüber, doch fast jeder hat ein ganz persönliches Lebensrezept (oder sollte eins haben). 

Das kann ein langer Waldspaziergang, ausgiebiges Backen, Töpfern, Tanzen oder Yoga sein – Hauptsache ist, dass wir uns mehrere Stunden pro Woche oder pro Monat Zeit für unsere Seele nehmen und den Alltag einfach Alltag sein lassen. In unserer schnelllebigen Zeit sind diese Momente der bewussten Achtsamkeit auf das, was uns mental gut tut, essenziell, um psychischen Erkrankungen vorzubeugen oder sich ergänzend selbst zu behandeln.

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Stimmt es, dass es früher weniger psychische Erkrankungen gab?

War früher wirklich alles besser? Oder nur anders? Es ist wahrscheinlich Letzteres, denn unsere Welt verändert sich seit der Industrialisierung schneller denn je. Das betrifft auch den Umgang mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Ängsten und Angst. Emil Kraeplin, ein Psychiater und Gründer des heutigen Max-Planck-Instituts, hat bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlagen für das, was wir heute unter Depressionen verstehen, geschaffen. 

Wir wissen also schon seit über 100 Jahren, dass fehlende oder eingeschränkte mentale Gesundheit nicht einfach Launen, sondern tatsächliche psychische Krankheiten sind. Und doch haben wir erst in den letzten zehn Jahren wirklich damit angefangen, Krankheiten wie Depressionen als Volkskrankheit zu betrachten.

Als die Seele zum Breitenthema wurde

Im Umkehrschluss heißt das: Früher gab es wahrscheinlich nicht weniger psychische Erkrankungen – es gab schlichtweg keine offizielle Klassifizierung, kein gesellschaftliches Bewusstsein und daher auch keine Statistiken zu diesem Thema. Das lag einerseits daran, dass über das persönliche Seelenleben nicht offen gesprochen wurde, und andererseits an der Tatsache, dass Zufriedenheit und Glück viel stärker der Oberschicht vorbehalten waren. 

Arbeiter, Tagelöhner, Dienstboten und Mägde hatten schlichtweg keine Zeit, sich um ihre psychische Gesundheit zu kümmern. Erst Sigmund Freud, der berühmte Analytiker, hat die Seele im Westen zum Breitenthema gemacht.

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Wie sieht es heute aus? Warum nehmen psychische Erkrankungen zu?

„Selbstverwirklichung“ und „Erfüllung“ haben für die Mehrheit der Weltbevölkerung in traditionellen Gesellschaften im Alltag wenig stattgefunden. Was hat sich geändert? Je weiter die kulturelle Entwicklung zu einer modernen und seit den 60er Jahren auch zu einer postmodernen Gesellschaft gediehen ist, desto sensibler und anspruchsvoller fingen viele Menschen an, ihre mentale Gesundheit und später auch ihr psychisches Wachstum bzw. ihre bestmögliche Persönlichkeitsentwicklung zur Lebensaufgabe zu machen.

Durch die enorme Beschleunigung kultureller Entwicklung, durch Digitalisierung und die Globalisierung werden wir allerdings zugleich vor bisher unbekannte Herausforderungen gestellt, die unsere Psyche massiv unter Druck setzen: Ständige Erreichbarkeit, ein fehlender fester Platz in der Gesellschaft, Social Media als neue Quelle für sozialen Stress und die konstante Suche nach Erfüllung in der Beziehung und am Arbeitsplatz sind Fluch und Segen zu gleichen Teilen.

Ständige Suche nach Erfüllung

Soziale Ungleichheit spielt bei der Therapie von psychischen Erkrankungen auch heute noch eine Rolle. Studien belegen, dass die Tendenz, Depressionen anzusprechen, zu erkennen und behandeln zu lassen, mit sinkendem sozialen und ökonomischen Status abnimmt. Die Gründe sind auch hier, wie schon vor über 100 Jahren ähnlich: fehlende Zeit, fehlende Mittel, fehlende Akzeptanz in der unmittelbaren Umgebung. 

Das darf natürlich nicht sein – mentale Gesundheit darf im 21. Jahrhundert keine Frage von sozialem Status sein. Als Krankenkasse nehmen wir diese Herausforderungen der sogenannten „Public Health“ sehr ernst und sind täglich darum bemüht, Aufklärung und Therapie für alle transparent und zugänglich zu gestalten.

Männer und psychische Erkrankungen – immer noch ein Stigma?

Wenn man diese Frage mit reinen Zahlen beantwortet, muss man davon ausgehen. Die große Mehrzahl an Psychotherapien wird von Frauen in Anspruch genommen. Es fängt schon bei den Diagnosen an: im Laufe des Lebens erkranken beispielsweise etwa jede vierte Frau, aber nur jeder achte Mann an einer diagnostizierten Depression. Frauen wären demnach also doppelt so häufig betroffen.

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Das bedeutet jedoch vermutlich nicht, dass es Männern tatsächlich psychisch besser geht. Von den 9.396 Suiziden im Jahr 2018 in Deutschland wurden so 76 Prozent von Männern begangen – Männer nahmen sich deutlich häufiger als Frauen das Leben. Außerdem leiden sie häufiger an Suchterkrankungen, was auch nicht für ihr uneingeschränktes seelisches Wohlbefinden spricht.

Wissenschaftler nennen dafür, neben noch zu erforschenden somatischen (körperlichen) Gründen, zwei Hauptfaktoren: Traditionelle Männerbilder hindern viele Männer daran, sich eine Depression einzugestehen. Sie wird immer noch mit dem Verlust von Männlichkeit in Verbindung gebracht. 

Andererseits werden Männer, die mit ähnlichen Symptomen wie Frauen zum Arzt gehen, seltener gegen depressive Symptome behandelt. Verzerrt ist als nicht nur die Selbstwahrnehmung, sondern auch die Fremdwahrnehmung, und das teilweise sogar auch im Gesundheitswesen.

Stärke entwickeln – Schwäche zeigen

Glücklicherweise steht dem archaischen Rollenmuster ein neues, sich etablierendes Männerbild entgegen. Jungs und Mädchen werden zwar weiterhin, aber immer seltener in (emotionale) Schubladen gedrängt und heute in ihrer Erziehung vermehrt dazu angehalten, keine geschlechterspezifischen Muster anzunehmen. Männer dürfen, sollen heute sogar eine ganz neue Stärke entwickeln, nämlich auch Schwäche zu zeigen. 

Das ist wichtig, weil chronisch unterdrückte psychische Überlastungen schwere Folgen haben können. Mentale Hygiene, also Probleme, Ängste und Trauer offen anzusprechen, ist nicht unmännlich – sondern sehr menschlich.

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Sind psychische Erkrankungen vererbbar? Oder was ist ihre Ursache?

Diese Frage lässt sich nicht verallgemeinernd für alle psychischen Erkrankungen beantworten. Experten sind sich jedoch einig, dass die meisten psychischen Erkrankungen durch eine Vielzahl von Faktoren zustande kommen, zu denen sowohl genetische, biologische als auch sogenannte psychosoziale Faktoren zählen.

Das Diathese-Stress-Modell

Ein bekanntes Erklärungsmodell für die Entstehung von psychischen Störungen ist das sogenannte Diathese-Stress-Modell (auch Vulnerabilitäts-Stress-Modell). Diathese bzw. Vulnerabilität bedeutet dabei so viel wie Krankheitsneigung oder Verletzlichkeit. Nach diesem Modell geht man davon aus, dass sowohl die individuelle Veranlagung einer Person, genetisch und neurologisch, als auch ihre persönliche Lerngeschichte im Verhältnis zu erlebten Belastungen bzw. Stress bedeutsam für die Entstehung von psychischen Erkrankungen sind.

Wenn eine Person beispielsweise in schwierigen Verhältnissen aufwächst, wo neben fehlender emotionaler Sicherheit viele wichtige Verhaltensweisen und soziale Fähigkeiten nur unzureichend entwickelt werden konnten, kann sie im Vergleich zu einer Person, die in einer sicheren psychosozialen Umgebung aufwächst, eine erhöhte Anfälligkeit für die Entstehung von psychischen Störungen haben. Das heißt, dass schon weniger Belastungen zu einer Erkrankung führen können.

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Resilienz und andere Schutzfaktoren

Eine erhöhte Anfälligkeit im Sinne dieses Modells muss jedoch nicht zwangsläufig zu einer psychischen Erkrankung führen. Psychologische Faktoren wie z. B. Resilienz (also erlernte, angeeignete Widerstandskraft), soziale Unterstützung, positive Beziehungen und gute Stressbewältigungsstrategien können Schutzfaktoren darstellen.

Am Beispiel Depression: Es kann sein, dass alle Frauen einer Familie im Laufe ihres Lebens an Depressionen erkranken. Der Grund dafür muss aber kein genetischer oder körperlicher sein. Was diese Frauen – Großmutter, Tochter, Enkelin – dem multifaktoriellen Modell zufolge auch miteinander verbinden könnte, sind weichere Faktoren wie zum Beispiel gleiche Stressbewältigungsmuster, die von Generation zu Generation durch das Zusammenleben weitergegeben werden.

Muss ich mir also Sorgen machen, selbst psychisch zu erkranken, wenn ein enges Familienmitglied bereits betroffen ist? Nicht unbedingt. Es könnte aber hilfreich und spannend sein, sich mit Familienmitgliedern über Umgang mit Herausforderungen oder Belastungen auszutauschen, dabei Verhaltensmuster zu erkennen und die eigenen zu hinterfragen, um so vielleicht einer psychischen Erkrankung vorzubeugen.

Können psychisch Erkrankte im Arbeitsleben einen guten Job machen?

Psychische Erkrankungen sind behandelbar, in vielen Fällen heilbar, in manchen Fällen sogar vermeidbar. Genau wie bei körperlichen Erkrankungen kann es berufliche Auswirkungen geben, muss aber nicht. Selbst bei den eher seltenen, schwersten seelischen Erkrankungen kommt es bei einem Drittel der Patienten zur kompletten Heilung. Bei einem zweiten Drittel wird ein dauerhaft stabiler Zustand erreicht, der ein relativ normales Berufs- und Privatleben erlaubt. Die Teilnahme am Arbeitsleben ist ja sogar ein wichtiger gesundheitsförderlicher Faktor. Insbesondere, je mehr sie als sinnhaft, berechenbar und mitgestaltbar erlebt wird. 

Wichtig für Betroffene ist, dass ihnen wahrnehmbare Verhaltensänderungen frühzeitig, eindeutig und in einer empathischen Art und Weise zurückgemeldet werden. Seien Sie daher als Kollegen oder Führungskräfte sensibel bei Verhaltensveränderungen wie dauerhafter Niedergeschlagenheit, ausgeprägter Demotivation, starken Rückzugstendenzen oder gehäuften Stimmungsumschwüngen. 

Bringen Sie als Führungskraft Ihre Sorge um die Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Ausdruck und bieten Sie psychisch erkrankten MitarbeiterInnen Ihre Unterstützung an, in dem Sie beispielsweise auf geeignete Hilfsangebote verweisen. Wenn Sie Führungskraft sind, können Sie so dazu beitragen, psychisch erkrankten Beschäftigten so unkompliziert wie möglich eine erfolgreiche Fortführung ihrer Arbeit zu ermöglichen.

Auf das seelische Gleichgewicht achten

Am besten ist es natürlich, psychische Erkrankungen gar nicht erst entstehen zu lassen. Im Arbeitsleben gibt es viele Möglichkeiten, möglichst gut auf unser seelisches Gleichgewicht zu achten. Es fängt mit banalen Dingen an wie regelmäßigen Pausen und mit einem gesunden Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung. 

Regelmäßig sollten wir prüfen, ob zum Beispiel unser „innerer Kritiker“ zu streng mit uns selbst ist, ob wir zu Perfektionismus neigen, ob wir es auf eigene Kosten allen recht machen wollen, ob wir angemessen eingebunden und beteiligt werden, ob wir noch eine Sinnhaftigkeit unserer Arbeit empfinden können, und nicht zuletzt, ob ein gesundheitszuträglicher Führungsstil vorherrscht. Wenn wir arbeitsbezogene Schieflagen erkennen, die dauerhaft an uns nagen, gilt es, frühzeitig aktiv, kreativ und konstruktiv zu werden, bis sich das Arbeiten wieder gut oder zumindest deutlich besser anfühlt.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und Sucht?

In der Tat gibt es solche Zusammenhänge – nicht immer, aber auch nicht selten. Zum Beispiel haben wir bei depressiven Erkrankungen die zusätzliche Diagnose einer Alkoholabhängigkeit häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt. Das gleiche gilt umgekehrt: Bei diagnostizierter Alkoholabhängigkeit ist ebenfalls besonders häufig auch eine depressive Erkrankung festzustellen.

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Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist Alkohol buchstäblich ein „Depressivum“: Je mehr wir von dieser Substanz zu uns nehmen, desto mehr drückt sie auf Dauer die Stimmung. Zum anderen ist Alkohol jedoch kurzfristig „gefühlt“ entlastend: Bei psychischer Erkrankung geht es einem häufig emotional schlecht und Alkohol kann dies kurzfristig betäuben, Psychologen sprechen geradezu vom Versuch einer (teilweise unbewussten und längerfristig natürlich erfolglosen) „Selbstmedikation“. 

Derselbe Teufelskreis kann uns übrigens ebenfalls bei Medikamentensucht immer mehr in die Enge treiben: Kurzfristige Entlastung führt zu langfristiger zusätzlicher Belastung, was wiederum das Bedürfnis nach kurzfristiger Entlastung erhöht – es ist einleuchtend und man kann gut nachfühlen, dass man am besten mit guter Unterstützung aus einem solchen tückischen Strudel herauskommt.
Das ist Grund genug, im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen ebenfalls das Thema Sucht im Blick zu haben.

Literatur

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