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Schmerzen

Medikamentöse Behandlung von Schmerzen sicherer machen - Arzneimittelreport 2023

Lesedauer unter 9 Minuten

Redaktion

  • Barmer Internetredaktion

Qualitätssicherung

  • Dr. Birgit Heltweg

So wenig vermeidbare Schmerzen wie möglich und zugleich so wenig Behandlungsrisiken wie möglich – das möchte die Barmer für Ihre Versicherten erreichen. In der Behandlungssicherheit gibt es nach unseren Erkenntnissen derzeit ganz erhebliche Steigerungsmöglichkeiten. Das zeigen die Analysen zur Verordnung von Schmerzmitteln im aktuellen Arzneimittelreport 2023 der Barmer. 

Schmerzen sind weit verbreitet - Schmerzbehandlung mit Medikamenten ebenfalls

Ein großer Teil der erwachsenen Versicherten leidet unter Schmerzen. 53 Prozent der Männer und 67 Prozent befragter Frauen gaben an, im letzten Jahr Schmerzen gehabt zu haben. Jeder Dritte Versicherte (34,4 Prozent) und jeder Zweite ab 80 Jahren (52,8 Prozent) hat 2021 eine Verordnung medikamentöser Schmerztherapie erhalten – hierbei sind Krebspatientinnen und -patienten nicht mitgerechnet. 

Bei Frauen und bei älteren Menschen sind Schmerzbehandlungen mit Medikamenten noch häufiger als im Durchschnitt. Frauen erhalten rund 20% mehr Schmerzmittel verschrieben als Männer. Und über 80-Jährige erhalten mehr als 80% mehr Schmerzmedikamente (gemessen in Tagesdosen) als Menschen unter 65 Jahren. Fast 17% sind bei den über 80-Jährigen von einer Langzeitschmerztherapie von mindestens drei Monaten betroffen. 

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Was passt gut zusammen? Bei Tabletten eine wichtige Frage. 

Je älter wir Menschen werden, desto häufiger benötigen wir Schmerztherapien, desto häufiger sind am Behandlungsprozess mehrere Ärztinnen und Ärzte unabhängig voneinander beteiligt und desto häufiger nehmen wir vor Beginn der Schmerztherapie bereits andere Medikamente. Weniger häufig betrifft das jüngere und gesündere Menschen, aber auch hier können entsprechende Fälle jederzeit eintreten und daher ist das Thema für sie genauso relevant. 

Eine risikofreie medikamentöse Schmerztherapie gibt es nicht. Die Risiken müssen deshalb sehr genau betrachtet, abgewogen und beobachtet werden.

Arzneimitteltherapiesicherheit – ein zentrales Handlungsfeld der Barmer

Bereits 2022 hat die Barmer mit dem Projekt AdAM und dem Arzneimittelreport 2022 gezeigt, dass mit dem konsequenten Einsatz verfügbarer digitaler Technik in der Arzneimitteltherapie hochgerechnet bis zu 70.000 Todesfälle jährlich vermeidbar sind.

Unser Ziel ist vor diesem Hintergrund ein nachhaltiger Sicherheitsfortschritt in der sogenannten Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) in Deutschland

Der Arzneimittelreport 2023 bringt mehr Transparenz in die medikamentöse Therapie von Schmerzen. Den Schwerpunkt Schmerzmedikamente haben wir ausgewählt, da es sich hier um eine besonders weit verbreitete Gruppe von Arzneimitteln handelt. 

Medikamentöse Schmerztherapie in der Arztpraxis: 
Zentrale Ergebnisse des Arzneimittelreport 2023

Was wurde im Arzneimittelreport 2023 analysiert?

Der diesjährige Arzneimittelreport analysiert die ambulante Therapie mit Schmerzmitteln bei Erwachsenen. Im Folgenden stellen wir zentrale Ergebnisse zu besonders wichtigen Gruppen von Arzneimitteln in diesem Bereich, den sogenannten Nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) und den Opioiden, im Zusammenhang mit häufigen und bedeutsamen Risikofaktoren heraus. 
Im Fokus der Analyse stehen hierbei all jene, bei denen die Schmerzen nicht mit einer diagnostizierten Krebserkrankung im Zusammenhang stehen. 

Vorerkrankungen: Häufiger Einsatz sogenannter NSAR trotz bekannter Herzschwäche oder trotz bekannter eingeschränkter Nierenfunktion

Große Bedeutung haben die Analyseergebnisse zu der meistverbreiteten Wirkstoffgruppe unter den Schmerzmedikamenten. Zu den NSAR gehören so bekannte Wirkstoffe wie Acetylsalicylsäure, Ibuprofen, Naproxen und Diclofenac. 

Leitlinien, das sind laut Bundesgesundheitsministerium „systematisch entwickelte Handlungsempfehlungen, die Ärzte und Patienten bei der Entscheidungsfindung über die angemessene Behandlung einer Krankheit unterstützen“, raten davon ab, NSAR zu verordnen und einzunehmen, wenn zugleich eine Herzinsuffizienz, also eine Herzschwäche vorliegt. Eine klare Gegenanzeige ist es sogar, wenn es sich um eine schwere Herzschwäche handelt. 

Die Barmer schaltet ab sofort eine Hotline zum Thema Schmerz. 

An der Hotline beantworten Expertinnen und Experten auch Fragen zur Sicherheit der Arzneimitteltherapie. Welche Arznei-Kombinationen sind riskant? Kann es zu unerwünschten Wechselwirkungen kommen? Ist das Schmerzmittel bei einer bestimmten Vorerkrankung überhaupt das richtige? 
Die Hotline ist bis auf Weiteres  geschaltet und täglich von 6 bis 24 Uhr unter der kostenlosen Rufnummer 0800 84 84 111 erreichbar.

Bei Herzschwäche besteht durch NSAR das Risiko, dass sich die Symptome verschlechtern und eine Krankenhausaufnahme notwendig wird.  

Vor diesem Hintergrund ist es bedenklich, dass jeder Elfte, dem NSAR verschrieben werden und der zwischen 65 und 79 Jahren alt ist, zugleich eine bereits diagnostizierte Herzinsuffizienz hat. Er ist als Herzpatient durch diese Verordnung einem vermeidbaren Risiko ausgesetzt. Bei den ab 80-jährigen, denen NSAR verordnet werden, ist sogar bei jedem fünften zugleich eine Herzschwäche bekannt, so dass er das Medikament eigentlich nicht bekommen sollte. 

Auch bei eingeschränkter Nierenfunktion stellen NSAR ein Risiko dar, hier können sie ein akutes Nierenversagen auslösen. Dennoch hat bei den über 80-jährigen jeder Neunte, dem NSAR verordnet werden, eine diagnostizierte Niereninsuffizienz.

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Vermeidbare Wechselwirkungsrisiken beim Einsatz von NSAR – „Triple Whammy“ weit verbreitet

Nicht nur die häufigen Vorerkrankungen Herzschwäche und Nierenschwäche kommen oft nicht als wichtiges „Stoppschild“ für NSAR zur Geltung. Auch bekannte Wechselwirkungsrisiken werden im Behandlungsalltag oft übersehen. 

In einer Leitlinie zur Behandlung von Menschen mit mehreren Krankheiten heißt es: „Die Dreifachkombination von ACE-Hemmern, Diuretika und NSAR soll wegen des Risikos für ein akutes Nierenversagen nicht eingesetzt werden“. Internisten sprechen von einem „Triple Whammy“ – einem Dreifachschlag gegen die Niere, der zu vermeiden ist. 

Dennoch geht aus den Barmer-Daten hervor, dass jeder dritte 80-jährige und jeder vierte 65-79-jährige mit einer NSAR-Verordnung genau diese gefährliche, nicht den Leitlinien entsprechende Dreierkombination verschrieben bekommt. 

Vermeidbare Nebenwirkungsrisiken beim Einsatz von NSAR: Schützt die Mägen! 

Um die Magenschleimhaut zu schützen, sollte bei Einnahme von NSAR, gerade bei Kombinationen mit bestimmten anderen Medikamenten, ebenfalls ein Magenmittel, ein im Fachjargon sogenannter Protonenpumpeninhibitor (PPI), eingenommen werden. In den Verschreibungsdaten der Barmer ist festzustellen, dass dies in 40% der Fälle versäumt wird. 

Fortschritt mit Sicherheit – im Gesundheitswesen genauso machbar wie im Autoverkehr

Ist es überhaupt realistisch, zehntausende Todesfälle durch innovative Sicherheitsstrategien zu vermeiden? Wir sind optimistisch und denken, dass das möglich und auch realistisch ist. 

Ein anschaulicher Vergleich: Im Straßenverkehr gab es 1970 in Deutschland über 19.000 Verkehrstote. Im Jahr 2022 gab es, trotz deutlich mehr Verkehr, trotz stärker motorisierter Fahrzeuge, weniger als 3.000 Verkehrstote. Eine Vielzahl an Innovationen und Maßnahmen haben dieses enorme Plus an Sicherheit ermöglicht. 

In einem Projekt namens AdAM hat die Barmer getestet, wie es sich auswirkt, wenn Hausarztpraxen die Behandlungsdaten erhalten, die standardmäßig bei der Krankenkasse gespeichert sind. Die Hausarztpraxis erhielt mit Einverständnis der Patienten Informationen zur medizinischen Vorgeschichte, zu allen Arzneimitteln und allen Diagnosen gemäß den Abrechnungsdaten der Krankenkasse. Außerdem wurden vermeidbare Risiken wie Wechselwirkungen von Arzneimitteln automatisch digital überprüft. 

Das Ergebnis war: Das Sterberisiko der Patienten verringerte sich eindeutig. Hochgerechnet auf Deutschland würde das erzielte Plus an Sicherheit jährlich bis zu 70.000 Todesfälle vermeiden. 

Nebenwirkungen von Opioiden: Risiko Darmverschluss nicht konsequent gegengesteuert

Auch bei einer anderen wichtigen Gruppe von Schmerzmitteln, den sogenannten Opioiden, gibt es große Probleme im Nebenwirkungs- und Risikomanagement. Opioide sind zwar besonders stark wirksam, müssen aber auch entsprechend umsichtig eingesetzt werden. Zum Beispiel machen sie den Darm träge – bis hin zum Risiko eines Darmverschlusses. Ein Darmverschluss ist ein akuter und oft lebensgefährlicher medizinischer Notfall. 

Eigentlich ein beherrschbares Problem, wenn zusätzlich Abführmittel eingenommen werden, weshalb diese laut Leitlinie sicherheitshalber dazugehören. Die Daten zeigen jedoch, dass sie in 30% der mit Opioiden langzeitbehandelten Menschen nicht mitverordnet werden und dass diese Patienten tatsächlich ein stark erhöhtes Risiko einer Krankenhauseinweisung wegen eines Darmverschlusses aufweisen. 

Wechselwirkungen bei Opioiden: Gemeinsam mit Tranquilizern ein vermeidbares, aber häufig eingegangenes Risiko

Werden Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioide mit Beruhigungsmitteln, sogenannten Tranquilizern, kombiniert, kommt es Studien zufolge zu deutlich mehr Todesfällen. Deshalb empfehlen Leitlinien, Beruhigungsmittel immer erst abzusetzen, wenn eine Schmerztherapie mit Opioiden erforderlich wird. 

Die Datenanalyse zeigt jedoch, dass jeder zehnte Patient, der eine Schmerztherapie mit Opioiden erhält, sie in genau dieser gefährlichen Kombination mit Beruhigungsmitteln erhält. 

Chronische Schmerzen früh vermeiden – mit multimodaler Schmerztherapie 

Bei der multimodalen Therapie gegen chronische Schmerzen werden Sie von Schmerzexpertinnen und -Experten behandelt. Sie müssen hierfür nicht in ein Krankenhaus, sondern profitieren von einer berufsbegleitenden, ambulanten Behandlung. Für Barmer-Mitglieder, die am Versorgungsangebot teilnehmen, ist die Therapie kostenfrei.


Mehr erfahren

Wie kommt es zu vermeidbaren Gefahren in der Therapie mit Schmerzmedikamenten?

Angesichts des hochentwickelten und professionellen Gesundheitswesens in Deutschland fragt man sich, wie vermeidbare Gefahren in großem Umfang überhaupt zustande kommen können. Als die wichtigsten Ursachen werden derzeit eingeschätzt: 

  • Behandelnde Ärztinnen und Ärzte haben keine vollständige Übersicht über die Medikation ihrer Patientinnen und Patienten, da diese zeitgleich auch bei anderen Ärztinnen und Ärzten in Behandlung sind und Medikamente verschrieben bekommen.
  • Sie wissen zudem nicht in ausreichendem Maß über bestehende Vorerkrankungen und Unverträglichkeiten Bescheid.
  • An der Behandlung Beteiligte stimmen sich unzureichend ab und haben auch gar nicht die Möglichkeiten, dies zu tun.
  • Patientinnen und Patienten werden unzureichend im Umgang mit ihren Medikamenten aufgeklärt und geschult. 
  • Die Beschaffung aller wichtigen Informationen und die Durchführungen der Prüfungen zur Sicherheit der Behandlung erfordern zu viel Zeit. 
     

Es liegt also nicht immer an einzelnen Akteuren, wenn es zu vermeidbaren Risiken oder gar Fehlern in der Schmerztherapie kommt, sondern in erster Linie am unkoordinierten Zusammenspiel aller Beteiligten. Dieses Zusammenspiel kann nur dann optimal sein, wenn der erforderliche Datenaustausch gewährleistet ist. Im Vordergrund steht aus unserer Sicht also die strukturelle Herausforderung, dass Ärztinnen und Ärzte gegenseitig keinen Einblick in die Behandlung eines Patienten durch andere haben. 

Was Sie selbst tun können, um Gefahrenquellen zu reduzieren 

Mit einfachen Maßnahmen können Sie für sich selbst und Ihre Angehörigen gewährleisten, dass vermeidbare Risiken von Medikamenten minimiert werden. So machen Sie sich unabhängig von übergreifenden Reformen, die leider viel Zeit benötigen.  

Medikamente sicherer einnehmen mit der eCare-App

Mit der eCare-App, der elektronischen Patientenakte der Barmer, sind Sie für eine sichere Arzneimitteltherapie sehr gut aufgestellt. 
Der Medikationsplan liefert Ärztinnen und Ärzten alle wichtigen Medikations-Infos und erinnert auch die Patientinnen und Patienten regelmäßig an die korrekte Einnahme. 
Die Behandlungshistorie liefert den Behandelnden einen vollständigen Überblick über zurückliegende Behandlungen. 

eCare-App entdecken

Fazit: Was folgt aus den Ergebnissen des Arzneimittelreports 2023? 

Wir sind der Auffassung, dass die Ergebnisse unserer Analyse zur Schmerzmedikation zwei Dinge deutlich zeigen: Mehr Sicherheit ist nötig und mehr Sicherheit ist auch möglich. 

Die Leitlinien stellen den aktuellen wissenschaftlichen Stand der Bewertung von Behandlungsmöglichkeiten dar. Daher müssen alle Beteiligten bestmöglich in die Lage versetzt werden, sie auch umzusetzen. Dazu müssen Ärztinnen und Ärzten alle Daten zur Verfügung gestellt werden, die sie für eine risikominimierende Therapieplanung benötigen. Wie das geht, hat die Barmer mit dem Projekt AdAM bereits erfolgreich gezeigt. 

Barmer-Versicherte können die erprobte Technologie bereits in der eCare nutzen und sich hier automatisch ihre Behandlungshistorie erstellen lassen. 

Damit Sie ihre Schmerzen so sicher wie nur irgend möglich behandeln lassen können, wenn dies einmal erforderlich ist. 

Literatur und weiterführende Informationen