- Ist Arzneimitteltherapie derzeit transparent und sicher?
- Versicherte erhalten in zehn Jahren durchschnittlich 76 Rezepte aus 21 Arztpraxen
- Fehlende Bündelung der Information macht Behandlung mit Medikamenten undurchsichtig
- Welche Konsequenzen hat die fehlende Transparenz
- Wie wir die Misere mit den Möglichkeiten der Digitalisierung überwinden können
- Konkrete Vorteile: Barmer-Versicherte können heute schon einen digitalen Medikationsplan führen
Wozu Transparenz bei Arzneimitteln? Als Patientinnen und Patienten verlassen wir uns darauf, dass Medikamente, die wir erhalten, sicher, wirksam und notwendig sind. Hierfür wurde schließlich vor der Zulassung des Medikaments umfassende Forschung durchgeführt. Und hierfür haben Ärztinnen und Ärzte gelernt, in der richtigen Situation das richtige Medikament auf die richtige Weise einzusetzen.
Doch wie steht es mit den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Medikamenten, wenn mehrere eingenommen werden, von verschiedenen Ärzten verschrieben? Da sieht es mit der Sicherheit schon sehr viel schwieriger aus.
Ist Arzneimitteltherapie derzeit transparent und sicher?
Wenn eine Ärztin oder ein Arzt eine adäquate Behandlung einer Patientin oder eines Patienten festlegen soll, gibt es dazu eine wichtige Voraussetzung: Er muss wissen, welche Medikamente die Patientin oder der Patient einnimmt, welche er in den vergangenen Jahren eingenommen hat, und welche weiteren seiner individuellen Merkmale berücksichtigt werden müssen.
Ist dies derzeit gegeben oder überhaupt möglich? Die Antwort lautet eindeutig: nein. Und wenn man sich einige Zahlen aus dem aktuellen Barmer Arzneimittelreport 2022 vor Augen führt, wird sofort klar: Die eigentlich erforderliche Transparenz in der Therapie mit Arzneimitteln ist derzeit auch gar nicht ansatzweise möglich.
Versicherte erhalten in zehn Jahren durchschnittlich 76 Rezepte aus 21 Arztpraxen
- Innerhalb von zehn Jahren werden einer oder einem durchschnittlichen Versicherten aus der Altersgruppe 40+ Diagnosen aus 37 verschiedenen Erkrankungsgruppen gestellt.
- Im Durchschnitt werden Versicherte innerhalb von zehn Jahren von Ärztinnen und Ärzten aus 21 verschiedenen Praxen behandelt.
- Versicherte erhielten in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt 76 Arzneimittel-Rezepte.
- Da auf einem Rezept häufig mehrere Posten stehen, ergaben sich daraus 113 Arzneimittelpackungen.
- Dabei wurden den Versicherten in den zehn Jahren im Schnitt 20 verschiedene Wirkstoffe verordnet.
Und dies sind nur die Durchschnittswerte über alle Versicherten. Ganze 1,5 Prozent der Versicherten bekamen gar kein Rezept, aber: bei einem guten Viertel der Versicherten waren es sogar über 100 Rezepte. Diese wurden bei ein bis zwei Prozent der Versicherten aus mehr als 50 verschiedenen Praxen bezogen.
Hinzu kommt natürlich auch noch die Selbstmedikation mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln sowie individuelle Faktoren wie Unverträglichkeiten, Allergien und vieles weitere.
Fehlende Bündelung der Information macht Behandlung mit Medikamenten undurchsichtig
Die Komplexität ist also enorm. Die Erkenntnis, dass eine Bündelung der Information unabdingbar ist, ist auch nicht neu. Zunächst wurden Medikationspläne frei erstellt, die jedoch von sehr unterschiedlicher Qualität waren. Daraufhin wurde für Patientinnen und Patienten ab drei Dauermedikamenten ein bundeseinheitlicher Medikationsplan (in Papierform) eingeführt. Das war ein Fortschritt, doch weder wurden damit alle Patientinnen und Patienten erreicht, noch wurden die Medikationspläne so konsequent wie erforderlich gepflegt und befüllt, noch kannten sich die Patientinnen und Patienten mit der Bedeutung der Einträge hinreichend aus. Ein elektronischer Medikationsplan sollte Abhilfe schaffen und ermöglichte es, mehr Kontextinformationen einzutragen. Er konnte sich jedoch bis heute ebenfalls nicht hinreichend durchsetzen, vermutlich auch aufgrund des erheblichen händischen Pflegebedarfs.
Welche Konsequenzen hat die fehlende Transparenz
Im Ergebnis gibt es bis heute keine tragfähige Lösung, um die Behandlung mit Arzneimitteln transparent zu machen und die vermuteten sechsstelligen Zahlen von Fällen schwerer Wechselwirkungen klar zu senken.
Die derzeit sehr undurchsichtige Menge von Arzneimitteln, verschrieben von verschiedenen Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen, die ihre Behandlungen nicht aufeinander abstimmen (können), ausgehändigt in einer Vielzahl von Apotheken, bedeutet letztlich eines: Die heutige Organisation der Behandlung mit Medikamenten stellt den bestimmungsgemäßen, sicheren Gebrauch von Arzneimitteln nicht sicher. Um es deutlicher zu sagen: Die momentane Situation gefährdet Menschenleben.
Wie wir die Misere mit den Möglichkeiten der Digitalisierung überwinden können
Rascher digitaler Fortschritt ist in diesem Fall also nicht „nice-to-have“, sondern lebensrettend. Es bräuchte über 2.200 zusätzliche Ärztinnen und Ärzte, um die fast 450 Millionen jährlichen Rezepte einzeln in eine Datenbank einzupflegen, woraus erkennbar wird, dass hier automatisierte Abläufe und Instrumente erforderlich sind. Die Digitalisierung kann dafür sorgen, dass zum Zeitpunkt der Verordnung und Abgabe eines Arzneimittels alle notwendigen Informationen zu den Patientinnen und Patienten vollumfänglich vorliegen. Deshalb unterstützt die Barmer Pilotprojekte und Forschungen, die die Therapie mit digitalen Mitteln transparenter und sicherer machen können.
AdAM, TOP und eRIKA sind drei Kooperationsprojekte der Barmer im Rahmen des Innovationsfonds, die das Medikamentenmanagement optimieren können. Viele Ärzte wissen, mit welchen von ihnen häufig verordneten Medikamenten andere Wirkstoffe reagieren. Doch sobald ein anderer Arzt oder eine andere Ärztin ein selteneres Präparat verordnet, sich die Zubereitung ändert oder ein Krankenhausaufenthalt notwendig wird, fehlen wichtige Informationen, um den Überblick zu behalten.
Die drei Versorgungsprojekte AdAM, TOP und eRIKA helfen, sektorenübergreifend die Arzneimitteltherapiesicherheit mit unterstützender Software zu verbessern.
Im Projekt AdAM wurde Ärztinnen und Ärzten mit digitalen Mitteln ein Überblick über die Arzneimittelsituation einer Patientin oder eines Patienten gegeben. Das Ergebnis war eine Verbesserung der Therapiesicherheit im Modellprojekt, die hochgerechnet auf eine bundesweite Umsetzung einer Vermeidung von jährlich etwa 65.000 bis 70.000 Todesfällen entspricht.
Das Projekt TOP überträgt dieses Prinzip auf das Krankenhaus und stellt sicher, dass bei der Aufnahme von neuen Patientinnen und Patienten oder bei chirurgischen Eingriffen sofort Klarheit über die jeweilige Arzneimittel-Situation und -Vorgeschichte herrscht.
Das Projekt eRIKA schließlich nutzt die digitalen Potenziale des neuen E-Rezepts, um ohne zusätzlichen Aufwand einen bundesweit einheitlichen Medikationsplan für Patientinnen und Patienten entstehen zu lassen, der immer aktuell und vollständig ist. Per App hat auch der Versicherte selbst auf die Informationen Zugriff.
Die Analysen im Arzneimittelreport 2022 des bifg (Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung) zeigen, wie erheblich der Nutzen für alle Versicherten sein kann, wenn die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent für optimierte Risikoprüfungen und Behandlungsunterstützungen genutzt werden. Dazu müssen nun zügig die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen erfüllt werden, fordert die Barmer. Damit Arzneimitteltherapie 2025 für alle Menschen in Deutschland sicher und digital ist.
Konkrete Vorteile: Barmer-Versicherte können heute schon einen digitalen Medikationsplan führen
Versicherte der Barmer haben bereits einige Möglichkeiten, von digital gestütztem Medikamenten-Management zu profitieren. Falls Sie selbst keine oder nur sehr selten Medikamente einnehmen: sprechen Sie gerne auch BARMER-versicherte Angehörige an, für die das Thema relevant sein könnte.
In der Barmer eCare, der elektronischen Patientenakte der Barmer, steht Ihnen die Zusatzfunktion Meine Medikamente zur Verfügung.
Damit können Sie Ihren Medikationsplan in Papierform per QR-Code hochladen und digital speichern. Ihre Praxis oder Ihr Krankenhaus kann auf Ihren Medikationsplan zugreifen und ihn aktualisieren, sofern Sie diese berechtigt haben.
Nehmen Sie weitere verschreibungspflichtige oder freiverkäufliche Medikamente ein oder haben Sie keinen Medikationsplan, so erlaubt Ihnen die eCare auch Ihre eigene Medikamentenliste zu führen. Dazu brauchen Sie nur den Barcode auf der Packung zu scannen. Außerdem lassen sich Einnahmeerinnerungen für alle gespeicherten Medikamente individuell einstellen. Die Einnahmen werden per Klick bestätigt und protokolliert, sodass Sie schnell nachgucken können, ob Sie Ihr Medikament schon genommen oder doch vergessen haben.
Alle Infos zu Ihren Medikamenten sind an einem Ort und auf Ihrem Handy sofort griffbereit. Diese können Sie jeder Ärztin und jedem Arzt zeigen. So verfügen die Menschen, die Sie behandeln, über die notwendigen Informationen, um die gegenseitige Verträglichkeit Ihrer Medikamente und zusätzlicher Verordnungen zu prüfen.
Der Arzneimittelreport ist als PDF ab sofort kostenfrei abrufbar.
Barmer Arzneimittelreport 2022