Dr. Jan Mai, Koordinator in der Abteilung IT Koordination Leistung
Digitale Ethik

Interview Dr. Jan Mai: Digitale Technologien für die Menschen nutzen

Lesedauer unter 7 Minuten

Autoren/Interview

  • Barmer Internetredaktion

Zur Person

  • Dr. Jan Mai ist Ko-Leiter der AG Analytics und Abteilungskoordinator

Warum die Versicherten in Zukunft gesundheitlich besser begleitet werden können, wenn viele Datenspenden umfassende Analysen erlauben, erläutert Dr. Jan Mai, Koordinator in der Abteilung IT Koordination Leistung und Ko-Leiter der bereichsübergreifenden AG Analytics. Das Feld der Data Science entwickelt sich rasant und steckt voller Chancen für die Gesundheitsversorgung. Aber nur klare Werte ermöglichen die richtungssichere Navigation im Feld der Möglichkeiten.

Wuppertal, Juli 2022

Dr. Mai, Sie betrachten und testen neue Schlüsseltechnologien, Algorithmen und digitale Lösungen für eine bessere Versorgung und die verbesserte Steuerung von Prozessen zum Nutzen für die Versicherten. Big Data, Künstliche Intelligenz und sogenannte Predictive Analytics entwickeln sich zu Kernthemen auf der Digitalisierungsagenda im Gesundheitswesen. Können Sie uns diese Schlüsseltechnologien und Themen für die Gesundheitsbranche und mögliche Anwendungsbereiche erklären?

Jan Mai: Der Wunsch, die Zukunft vorherzusagen, ist so alt wie die Menschheit. Das Lesen des Kaffeesatzes, das Analysieren des Vogelflugs oder das Legen von Karten waren in früheren Epochen teilweise anerkannte Prognosemethoden, wenngleich die Güte der darauf aufbauenden Vorhersagen insgesamt doch überschaubar war.

Die heutige Wahrsagekunst ist weiter, allerdings deutlich weniger schillernd. Im ersten Schritt werden viele Daten gesammelt, die in einem Zusammenhang mit einem zu prognostizierenden Sachverhalt stehen. In einem zweiten Schritt werden diese mathematisch-statistischen Verfahren zugeführt. Idealerweise schaut anschließend nochmals ein Fachexperte über das Ergebnis, zum Beispiel ein Mediziner, Psychologe oder Gesundheitsökonom, um die mathematisch erkannten Zusammenhänge mit menschlichem Expertenwissen zu verifizieren.

Ein denkbares Beispiel ist die Vorhersage von schlimmen Krankheitsereignissen wie z. B. eines Herzinfarkts. Aufbauend auf dieser Information können Maßnahmen ergriffen werden, um das prognostizierte Krankheitsereignis nicht oder zumindest erst Jahre später eintreten zu lassen.

Ein metabolisches Syndrom, also eine Kombination von Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck- und / oder Blutfettproblematik, sowie die damit verbundenen Risiken erkennt ein Arzt ja oft auch schon durch Augenschein-Diagnose. Wie viel besser ist KI?

Jan Mai: Derzeit können KI-Systeme in der Diagnostik in medizinisch geeigneten und eng begrenzten Bereichen eine wertvolle Unterstützung für einen Arzt darstellen.

Denn: Manche sehr spezifischen diagnostischen Teilfragen kann KI bereits heute treffsicherer beantworten als 80 Prozent der Ärzte. Aber Vorsicht. Medizinische Diagnostik ist in der Realität vielschichtig – so müssen manchmal beispielsweise Differentialdiagnosen berücksichtigt oder ausgeschlossen werden.

Gegebenenfalls müssen neben optischer Erkennung weitere Sinneswahrnehmungen herangezogen werden, Tasten, Abhören und so weiter, und der individuelle Kontext muss berücksichtigt werden. Das kann die heutige KI in aller Regel nicht. Dieser Grenzen muss man sich beim praktischen Einsatz unbedingt bewusst sein.

Welche Herausforderungen ergeben sich bei diesen Themen für die Barmer und die unterschiedlichen Partner im Gesundheitssystem, etwa Ärzte, Krankenhäuser, Hersteller, Apotheker und andere?

Jan Mai: Die Verfügbarkeit inhaltlich erforderlicher Daten ist eine echte Herausforderung, denn im Gesundheitswesen liegen Daten in aller Regel dezentralisiert über die verschiedenen Player vor. Und hierbei spielt der Datenschutz aufgrund der hohen Sensibilität personenbezogener Gesundheitsdaten eine ganz wichtige Rolle.

Die handwerklichen Herausforderungen sind dann zusätzlich dieselben wie bei allen Data-Science-Vorhaben. Zu Beginn eines jeden Vorhabens muss das Ziel so präzise wie irgend möglich formuliert werden, um die weiteren Schritte passgenau aufsetzen zu können.

Diese weiteren Schritte sollten unbedingt nach dem etablierten Standard CRISP-DM (Cross Industry Standard Process for Data Mining) erfolgen, um sicherzustellen, dass am Ende ein richtiges Ergebnis im Sinne des Ziels herauskommt. Ein verzerrender Einfluss von unbewussten oder übersehenen Faktoren, wie z. B. von Vorurteilen oder selbsterfüllenden Prophezeiungen, muss unbedingt vermieden werden.

Können Sie uns einen Überblick über die diversen Projekte bei der Barmer geben und uns einen Eindruck vermitteln, welche ethischen Fragestellungen Sie dabei mitdenken? Und welche zusätzlichen Herausforderungen ergeben sich daraus, digital-ethische Perspektiven zu integrieren?

Jan Mai: Wir schließen von vornherein Überlegungen zu Anwendungsfeldern kategorisch aus, die eine Verletzung von ethischen Standards bedeuten würden. Sie werden es bei der Barmer nicht erleben, dass jemand als Neukunde abgewiesen wird, weil etwa seine Gesundheitsprognose ungünstig ist.

Stattdessen wollen wir Vorhaben forcieren, die den Versicherten unmittelbar oder mittelbar nutzen. Denkbar wäre beispielsweise eine Unterstützung von Versicherten mit ungünstiger Gesundheitsprognose dahingehend, dass zukünftige Erkrankungen nicht oder erst zeitlich verzögert eintreten. Ein auf diese Weise vermiedener Oberschenkelhalsbruch oder Herzinfarkt wäre für den betroffenen Versicherten ein echter Zugewinn an Lebensqualität.

Die Barmer unterstützt die KI-basierte Forschung und fordert zuverlässige, objektive Algorithmen und angemessene Kontrollen. Können denn Algorithmen überhaupt ethisch handeln? Ab wann ist oder wäre der digitale Fortschritt ein Rückschritt?

Jan Mai: Algorithmen entstehen nicht von allein, sondern Menschen gestalten und definieren das System, in dem Algorithmen entstehen. Insofern stehen die Ingenieure des Systems in der Verantwortung, es so auszugestalten, dass es in ethisch wünschenswerter Weise agiert. Dies funktioniert am besten durch konsequente Befolgung des CRISP-DM-Standards.

Hierbei werden zum Beispiel maschinell erzeugte Ergebnisse nicht einfach für bare Münze genommen, sondern mithilfe von menschlichen Experten qualitätsgesichert. So können beispielsweise Diskriminierungen vermieden werden, die entstehen können, wenn in den Trainingsdaten des Algorithmus zufälligerweise eine Personengruppe andersartig abgebildet ist.

Ein Beispiel: Wenn in Trainingsdaten für die Vorhersage von Schlaganfällen kaum Frauen enthalten wären, könnte ein Algorithmus fälschlicherweise prognostizieren, dass Frauen keine Schlaganfälle bekommen werden. Darauf aufbauend würden für Frauen keine Maßnahmen ergriffen werden, die drohenden Schlaganfälle zu vermeiden – so etwas wäre schlimm und aus meiner Sicht ein Rückschritt.

Die BARMER hat für sich acht Werte von Digitaler Ethik formuliert:
1. menschenorientiert und patientenzentriert,
2. souverän und selbstbestimmt,
3. solidarisch und kooperativ,
4. transparent und aufklärend
5. verantwortlich und verlässlich,
6. sicher und geschützt
7. wirtschaftlich und fokussiert und
8. nutzenstiftend und unterstützend
Welche sind in Ihren Projekten besonders wichtig und inwiefern?

Jan Mai: Alle diese Werte haben eine herausragende Bedeutung, insofern fällt es schwer, hier eine Auswahl zu treffen. Mir persönlich liegt die Stiftung von Nutzen besonders am Herzen, denn alles, was wir tun, darf nur zum Wohle der Menschen passieren.

Als Krankenkasse obliegt es uns, alles zu tun, damit Menschen ihre Gesundheit bestmöglich erhalten oder wiedererlangen. Diesem Auftrag sind selbstredend auch alle Aktivitäten verpflichtet, die Data-Science-Methoden anwenden.

Die Barmer setzt sich für eine sichere digitale Gesundheitswelt ein, in der die Privatsphäre der Patienten geschützt wird. Gibt es so etwas überhaupt?

Jan Mai: Eine sichere digitale Gesundheitswelt umfasst den Auftrag, alles zu tun, damit die Privatsphäre der Patienten geschützt ist. Das passiert bei der Barmer in vorbildlicher Weise. Eine absolute Sicherheit im Sinne einer mathematischen Gewissheit gibt es natürlich nicht, dafür aber eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit.

Thema Datenspenden: Der Gesundheitsminister spricht sich dafür aus, da man dadurch Krankheiten leichter heilen kann. Auch in den Werten zur digitalen Ethik der Barmer ist dies verankert. Welche Herausforderungen sehen Sie? Wäre beispielsweise ein Wahltarif denkbar im Sinne von „Datenspende gegen reduzierten Beitrag“?

Jan Mai: Nun, da gibt es einerseits handwerkliche Herausforderungen, die aber lösbar sein sollten. Andererseits gibt es die Notwendigkeit, die berechtigten Interessen von Individuen zum Schutz ihrer Daten mit dem berechtigten Interesse der Allgemeinheit abzuwägen, durch Anwendung analytischer Verfahren auf zusammengeführten Datenspenden zu einer verbesserten gesundheitlichen Versorgung zu gelangen.

Persönlich bin ich überzeugt, dass wir auf Basis der analytisch gewonnenen Erkenntnisse viele Leben retten oder eine viel höhere Lebensqualität erzielen können. Auch eine Berücksichtigung des Themas in der Gestaltung von Wahltarifen könnte daher aus heutiger Sicht denkbar sein. Nichtsdestotrotz sehe ich hier die Notwendigkeit einer breiten öffentlichen Diskussion und eines gesellschaftlichen Konsenses.

Wie können Sie sich zukünftig den Einsatz der besprochenen Schlüsseltechnologien im Gesundheitswesen vorstellen? Was wird längerfristig auf die Menschen zukommen bzw. wie werden sie davon profitieren?

Jan Mai: Vorhersagen im Bereich von Schlüsseltechnologien sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Hätte Ihnen vor zehn oder 20 Jahren jemand prognostiziert, dass Sie in Bälde einen kleinen, kabellosen Computer in der Tasche mit sich herumtragen würden, der Ihnen auf Wunsch das gesamte Weltwissen zeigt, erheblich mehr Rechenkapazität aufweist als der Großrechner, der zur Mondlandung benutzt wurde, Telefonieren oder Fernsehen erlaubt, Fotos macht oder als Wecker oder Taschenlampe dient, Reservierungen von Hotels, Autos, Konzertkarten oder Reisen ermöglicht, ja mit dem Sie sogar sprechen können und vieles mehr – Sie hätten Ihr Gegenüber für verrückt erklärt.

Ich bin dennoch überzeugt, dass wir schrittweise zu spürbaren Verbesserungen der gesundheitlichen Versorgung von Menschen kommen werden. Viele der heutigen Ansätze werden rasch leistungsfähiger werden, zum Beispiel die maschinelle Erkennung von onkologischen Befunden im Rahmen von bildgebenden Verfahren.

Daneben werden sich aber auch weitere Handlungsfelder eröffnen, die wir heute noch gar nicht auf dem Schirm haben. Wir alle können gespannt sein und sollten das Unsere dazu beitragen, diese unaufhaltsame Entwicklung in eine ethisch wünschenswerte Richtung zum Wohle der Menschen zu lenken.