Anna-Lena von Hodenberg ist die Gründerin von Hate Aid, einer Organisation, die Opfern von Hassrede hilft, die Täter vor Gericht zu bringen. Im Interview erklärt sie, warum Hate Speech so problematisch ist, auf welche Art ihre Organisation hilft und worauf wir uns in Zukunft einstellen müssen.
Wie haben Sie angefangen, sich mit Hate Speech zu beschäftigen? Wodurch ist das als Thema für Sie relevant geworden?
Anna-Lena von Hodenberg: 2017 kam ich nach einem Jahr Elternzeit zurück ins Berufsleben und die Welt war nicht mehr wie vorher: Trump war zum US-Präsidenten gewählt worden, Großbritannien hatte mehrheitlich für den Brexit gestimmt, die AFD saß im Bundestag. Ich hatte vor meiner Auszeit bei der Nichtregierungsorganisationen Campact Kampagnen im Bereich Antirassismus organisiert und als ich in diesem Bereich recherchierte, stieß ich auf einen Vortrag der Extremismusforscherin Julia Ebner. Sie sprach über rechtsextremistische Gruppen, die Social Media ganz bewusst einsetzen und dort geplant und orchestriert, Hassangriffe auf Politikerinnen und Politiker, aber auch auf Menschen aus der Zivilgesellschaft starten. Das Ziel ist es, das Klima in unserer gesamten Gesellschaft zu verschieben, zum Beispiel in Richtung Fremdenfeindlichkeit, Frauenhass, Rücksichtslosigkeit gegenüber Minderheiten. Das ist nicht die Meinung der Masse, die sich in diesen Hassattacken im Netz äußert, sondern das Werk von ein paar Tausend Leuten, die sich aber sehr gut koordinieren.
Was ist das Problem mit Hate Speech? Warum ist es eben mehr als nur leeres Gerede im Internet?
Anna-Lena von Hodenberg: Die Mobilisierung für radikales Gedankengut passiert nicht mehr auf der Straße, sondern im Netz. Und das ist ein Pulverfass für unsere Gesellschaft. Dabei kommen drei Faktoren zusammen:
- Wenn sehr viele Leute in kurzer Zeit eine Gruppe von Menschen auf ähnliche Art beleidigen, dann kann man mittlerweile davon ausgehen, dass das eine orchestrierte Attacke ist. Das Netz macht es sehr einfach, sich für solche Angriffe zu vernetzen, zum Beispiel in Messengern wie WhatsApp oder Telegram oder in geschlossenen Gruppen auf Social-Media-Plattformen wie Facebook. Die Alt-Right-Bewegung in den USA hat das zuerst für sich entdeckt, inzwischen sehen wir das auch in Deutschland immer öfter.
- Mit diesen koordinierten Hate-Speech-Angriffen sollen bestimmte Menschen zum Schweigen gebracht werden, damit bestimmte Meinungen nicht mehr auftauchen: Deshalb sind so häufig KlimaaktivistInnen, PolitikerInnen, JournalistInnen oder FeministInnen Zielscheibe dieser Angriffe. Und Themen wie Migration, Klimakrise oder die AFD sind Reizthemen. Wer sich dazu äußert, wird schnell an den virtuellen Pranger gestellt und erhält Drohungen.
- Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass Soziale Medien eben nicht wie ein Marktplatz funktionieren, wo ganz demokratisch jeder seine Meinung kundtun darf und Mehrheiten mehr Gehör finden als extreme Einzelmeinungen. Die Algorithmen von Facebook oder Twitter verstärken gewisse Dinge, um unsere Verweildauer auf diesen Plattformen zu erhöhen. Zum Beispiel werden emotionalisierende Inhalte, die uns aufregen, wütend oder traurig machen, häufiger geteilt – deshalb zeigt das Netzwerk sie uns häufiger als eine ausgewogene, rationale Analyse. So entsteht ein verfälschtes Bild und wir erhalten eine zunehmend polarisierte Sichtweise auf die Dinge.
Es gibt verschiedene Ansätze, mit Hate Speech umzugehen und Betroffenen zu helfen. Rechtshilfe, Counter Speech, Hilfe beim Melden bei den Plattformen – welche Ansätze verfolgt Hate Aid?
Anna-Lena von Hodenberg: Wir sehen ein großes Problem bei der rechtlichen Verfolgung von Hassrede. Denn vieles, was gepostet oder verschickt wird, verstößt gegen bereits existierende Gesetze, wird aber bislang kaum verfolgt. Wir haben von Betroffenen immer wieder gehört, dass sie nach einer Strafanzeige anderthalb Jahre nichts gehört haben und nicht ernst genommen wurden. Oft wird so getan, als seien das Bagatellen. Als Rechtsextreme die Privatadresse einer Person veröffentlichten und dazuschrieben 'Holt ihn Euch!", wurde der bei offiziellen Stellen Hilfesuchende erst wieder heimgeschickt und ihm gesagt, er möge bitte erst anrufen, wenn wirklich jemand vor der Tür stünde. Manche der Opfer ziehen sich deshalb aus dem Netz zurück, andere Menschen gewöhnen sich dran und denken sich, so ist das im Internet. Um das zu verhindern, bieten wie vor allem Prozesskostenfinanzierung und unterstützen Betroffene beim Erstellen von Strafanzeigen.
Wie läuft das konkret ab?
Anna-Lena von Hodenberg: Am Anfang steht eine emotional stabilisierende Erstberatung per Telefon. Da geht es manchmal auch um Morddrohungen, auch gegen Kinder. Oder es werden manipulierte Videos und Bilder verschickt, bei denen die Gesichter der Betroffenen in Pornos oder Gewaltszenen montiert sind. Das kann sehr traumatisierend wirken. In vielen solcher Fälle vermitteln wir auch an spezielle psychologische Beratungsstellen weiter.
Daneben bieten wir eine Sicherheitsberatung und einen Privatsphäre-Check an. Wo stehen eventuell private Infos im Netz? Wie kann man Leute blockieren oder bei der Plattform melden? Wie sicher sind meine Privatsphäre-Einstellungen auf Sozialen Netzwerken? Habe ich überall sichere Passwörter, damit niemand meine privaten Konten hacken kann? Wir bieten auch Unterstützung bei der Beweissicherung, zum Beispiel durch das Anfertigen von Screenshots. Und zu guter Letzt beauftragen wir Kanzleien, die Strafanzeige und Strafanträge stellen. Bei Beleidigung, Bedrohung oder Verleumdung bedeutet das – im Gegensatz zum Beispiel zu Volksverhetzung – fast immer zivilrechtliche Verfolgung. Und das kostet Geld: 2.000 Euro plus Gerichtskosten sind da schnell beisammen – und falls man verliert, kommen die Kosten der Gegenseite dazu. Wir strecken dieses Geld vor und machen einen Vertrag mit den Klägern: Wenn Sie Schmerzensgeld erwirken, dann fließt es zurück in den Pool und finanziert damit den nächsten Fall. Mit diesem Schneeballeffekt hoffen wir, das Netz Schritt für Schritt wieder zu einem besseren, sichereren und menschlicheren Ort zu machen.
Welche Erfolge können Sie bereits vorweisen?
Anna-Lena von Hodenberg: Diese Prozesse dauern sehr lange, aber bisher haben wir eine gute Erfolgsquote. In einem prominenten Fall einer Politikerin konnten wir zum Beispiel einen fünfstelligen Betrag Entschädigung, plus Zinsen und Prozesskosten, von einem bekannten Rechtsextremen erstreiten, der jahrelang gezielt und wissentlich Lügen und Falschzitate im Netz verbreitet hat. In anderen Fällen sind die Summen niedriger und bewegen sich zwischen 500 und 3.000 Euro.
Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem an unserem Umgang als Gesellschaft mit Hate Speech?
Anna-Lena von Hodenberg: Viele Menschen denken, Hate Speech sei wie eine Beleidigung am Gartenzaun, ein kleiner privater Streit, nicht das gesellschaftliche Problem, das es leider ist. Fatalerweise findet man dieses Denken auch immer noch bei vielen Staatsanwaltschaften oder Richterinnen und Richtern, die mit diesen Fällen konfrontiert sind. Teilweise gehen die offiziellen BKA-Zahlen zu Hate Speech sogar zurück, einfach weil mittlerweile viele Betroffene keine Anzeige mehr erstatten, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass es zu nichts führt. Gleichzeitig wird der Hass immer krasser, wenn alles so stehenbleibt. Wir glauben, dass das ein wesentlicher Grund für die Enthemmung ist. Es entsteht das Gefühl eines rechtsfreien Raums, auch wenn es de facto nicht so ist. Durch Nichtstun wird legitimiert, wie diese Hater sich verhalten.
Was könnte man gesetzlich in Sachen Hate Speech besser machen? Gibt es Handlungsbedarf bei den Gesetzgebern oder sind die bestehenden Regelungen eigentlich ausreichend, wenn sie nur konsequenter angewendet würden?
Anna-Lena von Hodenberg: Es gibt den Spruch, das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein. Dabei ist es das nicht und ist es nie gewesen. Von Beleidigung über Nötigung oder Bedrohung bis zu öffentlicher Aufforderung zu Straftaten gibt es zahlreiche Gesetze, die sich auch auf Hassrede im Netz anwenden lassen. Aber leider ist das Netz derzeit oft noch ein rechtsdurchsetzungsfreier Raum, weil zu selten ermittelt und verurteilt wird. Wir brauchen also nicht mehr oder strengere Gesetze, sondern müssen die bestehenden ernster nehmen. Natürlich ist das auch für Polizei und Staatsanwaltschaften eine große Herausforderung, da immer auf dem Laufenden zu bleiben, das Netz entwickelt sich ja stetig weiter. Gestern gab es Facebook, heute gibt es Telegram, morgen wird eine neue Plattform wichtig sein. Deshalb sind Schulungen wichtig, aber auch eine generelle Sensibilisierung für das Thema Hass im Netz. Auch das ist der Grund, warum wir versuchen, ab und zu auch aufsehenerregende Prozesse zu finanzieren: Um die Debatte in der juristischen Community anzustoßen.
Was wünschen Sie sich von Akteuren wie Krankenkassen in Hinblick auf das Thema Hate Speech? Was wäre aus Ihrer Sicht besonders hilfreich?
Anna-Lena von Hodenberg: Es ist wichtig, dass Krankenkassen das Thema auf dem Schirm haben. Digitale Gewalt hat für Betroffene ganz reale Folgen, die wir jeden Tag in der Beratung sehen: Schlafstörungen, Panikattacken, Depressionen bis hin zu Suizid. Oft wird die Gewalterfahrung aber runtergespielt, weil keine körperlichen Verletzungen zu sehen sind, sondern emotionale und die schwieriger messbar sind. Hier können Krankenkassen einen wesentlichen Teil dazu leisten, über die Folgen von digitaler Gewalt und über Hilfsangebote zu informieren. Es ist ein wichtiges Signal für Betroffene, dass ihre Gewalterfahrung öffentlich anerkannt wird – gerade auch von der Krankenkasse. Und es ist essentiell, dass Angegriffene bei Bedarf schnell und unkompliziert in psychotherapeutische Behandlung kommen. Auch hier können die Kassen einen Beitrag leisten, wenn sie für das Thema sensibilisiert sind.
Gibt es Themen oder Gruppen oder Ereignisse, bei denen sich derzeit oder in naher Zukunft ein Anstieg von Hate Speech abzeichnet, und die wir 2021 besonders im Auge haben sollten?
Anna-Lena von Hodenberg: Im Moment schauen wir gerade mit sehr viel Sorge auf die Gruppen, die sich auf Telegram bilden. Dort treffen sich Verschwörungs-Erzähler und -erzählerinnen, Corona-Leugner und -leugnerinnen sowie Rechtsextremisten und Rechtsextremistinnen verabreden sich zu gemeinsamen Aktionen. Da wird viel zu Hetze gegen einzelne Personen aufgerufen: zum Beispiel Virologen und Virologinnen, Politiker und Politikerinnen oder andere Personen, die während der Corona-Pandemie eine wichtige Rolle spielen. Aber es wird auch gegen asiatisch gelesene Menschen gehetzt und China für die Pandemie verantwortlich gemacht. Diese Menschen brauchen jetzt unsere Solidarität. Das wird sich sicher zur Bundestagswahl hin nochmal zuspitzen. Da sollten wir sehr genau darauf achten, wer hier von wem angegriffen wird und welche Gruppen versuchen werden, mit welchen Narrativen die Sozialen Medien zu manipulieren. Einen Vorgeschmack davon, wie das enden kann, haben wir ja gerade im US-Wahlkampf erlebt. Das sollte sich nicht wiederholen.
Herzlichen Dank und viel Erfolg weiterhin.