„Wie aus dem Nichts“: Der unerwartete Tod eines geliebten Menschen verändert das Leben von Angehörigen für immer. Eine unsichtbare Grenze scheint ihr Leben in ein Davor und ein Danach zu spalten. In diesem Erfahrungsbericht erzählt Maria davon, wie ihr erwachsener Sohn Luka unerwartet ins Krankenhaus eingeliefert wurde und sich sein Zustand zunehmend verschlechterte. Maria teilt ihre Gedanken und Gefühle als ihr Mann und sie entscheiden mussten, ob sie Lukas Organe nach seinem Tod für eine Organspende freigeben.
Luka kam plötzlich ins Krankenhaus
Luka wird in einer Nacht im Jahr 2020 bewusstlos auf der Straße gefunden und umgehend ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte gehen zunächst von einem epileptischen Anfall als Ursache eines Sturzes aus. Eine MRT-Untersuchung zeigt, dass er Verletzungen am Stammhirn hat und sich in seinem Gehirn Wasser ansammelt. Mit dem Einverständnis seiner Eltern wird Luka notoperiert.
Nach der Operation können seine Eltern zunächst aufatmen – Luka liegt im Koma, doch sein Zustand scheint eine Zeit lang stabil. Für die Eltern sieht es aus, als würde er schlafen, denn äußerlich wirkt er unverletzt. „Es wird jetzt wieder“, denkt Maria. Sie hat Hoffnung. Doch Lukas Zustand verschlechtert sich wieder. Er erleidet mehrere Schlaganfälle und es werden nicht alle Bereiche seines Gehirns ausreichend durchblutet. Die Ärzte operieren ihn erneut, doch Luka erholt sich nicht. Sein Stammhirn wurde, vermutlich durch den Sturz, zu lange nicht durchblutet.
Maria und ihr Mann werden von den Ärzten laufend über Lukas Zustand informiert und müssen sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass er nicht überleben könnte. Sie werden in diesen Tagen von einer Psychotherapeutin begleitet, die das Krankenhaus ihnen zur Seite stellt. Sie ist für die Eltern jederzeit telefonisch erreichbar. Dafür sind sie im Nachhinein dankbar – sie hätten in der schweren Zeit nicht daran gedacht, selbst um diese Form der Unterstützung zu bitten.
Organspende Ja oder Nein?
Maria und ihr Mann sprechen nicht in der Klinik, sondern zuhause das erste Mal über die Möglichkeit der Organspende. Sie haben sich in ihrem Leben noch nie mit diesem Thema beschäftigt. Was sollen sie antworten, wenn die Ärzte danach fragen?
Für die Eltern ist es wichtig abzuwägen, was Luka gewollt hätte. Sie hatten nie mit ihm über Organspende gesprochen. Es gab ja keinen Grund: Luka war jung und gesund. Sie haben bei ihrer Entscheidung besonders eine seiner Eigenschaften vor Augen, die viele von Lukas Freunden bestätigen: „Er war ein Mensch, der immer geholfen hat. Er war ein toller Freund. Ob zum Zuhören oder Spaß haben, er war immer für die Menschen um sich herum da.“
Ein Zweifel beschäftigt Maria: Was würden andere Menschen über die Entscheidung denken? Würden sie sie als positiv oder negativ bewerten? Sie hat Angst, dass ihre Entscheidung von anderen verurteilt wird – was glücklicherweise nie geschah. Die ganze Familie hat die Entscheidung mitgetragen und ist sich einig, dass die Spende in Lukas Sinne gewesen wäre.
Einverständnis zur Spende
Kurz darauf können die Ärzte bei Luka keine Gehirnströme mehr messen und es ist wahrscheinlich, dass seine gesamten Hirnfunktionen ausgefallen sind. Der Hirntod ist nicht umkehrbar und eine der Voraussetzungen für eine Organspende. Die Diagnose des Hirntods folgt klaren Regeln und muss von mindestens zwei Fachärzten unabhängig voneinander bestätigt werden. Das kann mehrere Stunden bis Tage dauern. Die Ärzte führen ein Gespräch mit Maria und ihrem Mann, um ihnen die Prognose zu erklären. Bei dem Gespräch sind die Psychotherapeutin und eine Koordinatorin der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) dabei. Die Ärzte sind rücksichtsvoll, aber sie müssen die Frage stellen: Wie stehen die Eltern zum Thema Organspende?
Es scheint ein unmöglicher Gedanke, denn äußerlich wirkt Luka unversehrt. „Man weiß, er ist tot, aber man spürt es nicht. Er ist noch warm, sein Körper ist durchblutet und er wird künstlich beatmet. Und dann soll man etwas geben von einem Menschen, dessen Herz noch schlägt.“
Doch nach den vielen Überlegungen und schlaflosen Nächten in den Tagen zuvor ist den Eltern klar, dass sie Lukas Organe spenden lassen wollen. Als die Ärzte fragen, geben sie ihnen ihr Einverständnis.
Die Ärzte erklären ihnen den Ablauf der Organentnahme und -transplantation genau und nennen das Datum, an dem Luka operiert wird. In den folgenden zwei Tagen haben die Familie und seine Freunde die Möglichkeit, von ihm Abschied zu nehmen. Auch als Maria und ihr Mann kurzfristig entscheiden, Luka auch nach der Organentnahme noch einmal sehen zu wollen, ist das möglich.
Ein Teil von Luka lebt weiter
Luka war jung und gesund, sein früher Tod völlig unerwartet. Ein Gedanke ist für Maria aber vorherrschend, um seinen Verlust zu verkraften: „Er war ein guter Mensch und er hat bis zum Schluss anderen Menschen geholfen. Das Wichtigste ist für mich, dass sein Tod nicht völlig sinnlos war.“ Für Maria lebt durch die Organspende ein Teil von Luka weiter.
Wie nah Freude und Schmerz manchmal beieinander liegen, wird Maria auch beim Blick in die Zukunft immer wieder bewusst. In der Woche von Lukas erstem Todestag erfährt sie, dass ihre Tochter schwanger ist und die Familie Zuwachs bekommt.
Die Spende rettet Leben
Maria engagiert sich seit Lukas Tod im Netzwerk Spenderfamilien des Lebertransplantierte Deutschland e.V. Ihr Engagement half ihr durch die Trauer: sie traf andere Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie sie. Davor sei sie manchmal auch unsicher über ihre Entscheidung gewesen: „Man hat ja immer Zweifel. Ich habe mich während dieser Zeit und auch lange danach oft gefragt, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben“, sagt sie und führt fort: „Davor hatte ich gehört, dass Organspende wichtig ist, aber man hat nicht wirklich verstanden warum. Es war zu abstrakt und zu weit weg. Man kennt ja selten persönlich jemanden, der mit einem Spenderorgan lebt.“ Die positiven Auswirkungen ihrer Entscheidung werden ihr erst richtig klar, als sie durch das Netzwerk Menschen begegnet, denen durch Organtransplantationen geholfen wurde. „Er hat Menschenleben gerettet. Das habe ich erst im Nachhinein wirklich begriffen, als ich mehrere Menschen getroffen habe, die mit einem Spenderorgan leben. Denen durch eine Transplantation noch viele Lebensjahre geschenkt wurden und so beispielsweise eine Frau ihre Enkelkinder aufwachsen sehen darf.“
Diese neue Perspektive und der Austausch mit anderen Eltern bestätigen ihr, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Dank der Organspende von Luka wurde vier Menschen die Chance auf ein zweites Leben geschenkt.
Organspender sollen sichtbarer werden
Das Netzwerk Spenderfamilien gibt Organspendern ein Gesicht. Maria ist wichtig, dass beide Seiten sichtbarer werden: Die Menschen, die dank einer Spende weiterleben dürfen; und die Spender, die das Weiterleben ermöglichen. Beide Perspektiven sind Maria gleichermaßen wichtig, denn: „Es geht nicht um Organe, die transplantiert werden. Es geht um ein Geschenk von Mensch zu Mensch.“
Für Maria ist klar, „Organspender sind Lebensretter“. Mit dem Netzwerk setzt sie sich für die Aufklärung über Organspenden ein und verfolgt den Auftrag, den Spendern ein Gesicht zu geben. Einen besonderen Stellenwert haben für Maria Veranstaltungen wie der „Dank an Organspender“, den die DSO organisiert: Maria findet die Veranstaltungen „schön, um die Frauen aus dem Netzwerk kennenzulernen. Es ist schön, dass Organspendern gedankt wird. Es ist emotional, mit Menschen zusammenzukommen, die als Angehörige in die gleiche Situation geraten sind wie wir. Deren Familienmitglieder oder Partner aus verschiedenen Gründen zu früh gestorben sind, aber gleichzeitig Menschenleben gerettet haben.“
Maria ist klar: jeder sollte einen Organspendeausweis haben
Maria hat heute selbst einen Organspendeausweis und keinen Zweifel: „Wenn ich so für meinen Sohn entscheide, dann willige ich selbst in die Organspende ein.“ Ihre Familie kennt ihre Entscheidung. Und sie wünscht sich, dass mehr Menschen wissen, wie wichtig es ist, sich zu Lebzeiten Gedanken über das Thema zu machen und die persönliche Entscheidung zu dokumentieren – egal, wie diese ausfällt. „Es wichtig, einen Organspendeausweis zu haben und Deine Entscheidung festzuhalten – damit nicht irgendwann die Familie eine Entscheidung treffen muss.“