Schlucken, kauen, atmen – das macht jede und jeder von uns. Für Menschen mit Misophonie sind diese und andere Alltagsgeräusche anderer kaum aushaltbar. Betroffene reagieren auf die Reize mit negativen Emotionen wie Wut oder Ekel, was oft zu einem Vermeidungsverhalten führt. Noch gibt es keine standardisierte Therapie gegen Misophonie, aber einige Maßnahmen, die helfen können.
Alexandra kocht leidenschaftlich gern – doch gemeinsam mit ihrem Partner Karl essen kann sie nicht. Die Hamburgerin kann es nicht ertragen, wie er isst. „In ihren Ohren kaue ich eklig“, sagt Karl. Alexandra schüttelt sich beim Gedanken an die Kaugeräusche ihres Partners: „Mir wird richtig übel. Ich finde, er isst irre laut – einfach unangenehm.“ Dabei, so Karl, hätten ihm seine Freunde versichert, dass er wie jeder andere esse. Bis Alexandra darauf gestoßen ist, dass sie an Misophonie leiden könnte, vergingen Jahre. „Es ist mit den Essgeräuschen auch bei anderen Menschen nie einfach für mich – schon vor Karl. Doch bei ihm stört es mich komischerweise am meisten. Das hat uns beinahe die Beziehung gekostet“, sagt Alexandra. „Ich war erleichtert, als ich erfuhr, dass es tatsächlich einen Begriff dafür gibt. Und dass ich nicht die einzige bin.“
Was ist Misophonie?
Misophonie ist ein relativ neuer Begriff, der erstmals im Jahr 2001 durch die Neurowissenschaftler Margaret und Pawel Jastreboff geprägt wurde. Das Forscherpaar bemerkte bei Patientinnen und Patienten ein Phänomen der Abneigung gegen bestimmte Geräusche, welches bis zu diesem Zeitpunkt keinen eigenen Namen hatte und oft fälschlicherweise als Phonophobie (Angst vor Geräuschen) betitelt wurde.
Um das Phänomen korrekter zu benennen, wählten sie den Begriff Misophonie, der aus dem Griechischen stammt und „Hass auf Geräusche“ bedeutet.
Misophonie beschreibt eine selektive Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten alltäglichen Geräuschen. Diese können bei Betroffenen übertriebene emotionale Reaktionen wie Wut oder Aggression sowie Stresssymptome auslösen. Misophonie ist bisher keine offizielle Diagnose und als Krankheit noch nicht abschließend definiert, doch es wird zunehmend dazu geforscht.
Belastbare Zahlen dazu, wie häufig Misophonie in der Allgemeinbevölkerung auftritt, gibt es bisher nicht. Es existieren jedoch Hinweise, dass das Phänomen gar nicht so selten ist. So zeigten zwei Untersuchungen mit chinesischen und amerikanischen Studierenden, dass 6 beziehungsweise 20 Prozent der Befragten von misophonen Symptomen betroffen waren. Eine aktuelle Studie schätzt die Prävalenz von Misophonie in der britischen Bevölkerung auf 18 Prozent.
Ursachen: Wie entsteht Misophonie?
Die Ursachen von Misophonie sind weitestgehend unklar. In einer Studie zeigte eine funktionelle Magnetresonanztomographie bei betroffenen Personen eine verstärkte neuronale Verbindung zwischen dem anterioren Inselkortex und den Regionen des Gehirns, die für die Verarbeitung von Emotionen und die Steuerung von Bewegungen zuständig sind. Außerdem wurde eine verstärkte Verbindung zwischen Bereichen der Hör- und Sehwahrnehmung und Bewegungssteuerung ermittelt. Eine generell verstärkte Hörwahrnehmung konnte jedoch nicht gezeigt werden. Die hyperaktiven Verbindungen könnten erklären, warum bestimmte Geräusche als besonders störend wahrgenommen werden. Die Forscherinnen und Forscher vermuten jedoch, dass bei Misophonie nicht die Geräusche selbst im Mittelpunkt stehen, sondern die Handlung der Person, die diese Geräusche verursacht.
Neben verstärkten neuronalen Verbindungen im Gehirn gibt es auch Hinweise, dass Störungen wie Tinnitus, Hyperakusis (krankhafte Geräuschüberempfindlichkeit), Depressionen, ADHS sowie Angst- und Zwangsstörungen mit Misophonie einhergehen können.
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Misophonie: Was sind typische Auslöser?
Die Auslöser einer misophonen Reaktion sind von Person zu Person unterschiedlich. Oft sind es alltägliche oder menschliche Körpergeräusche. Die häufigsten Trigger sind Geräusche, die vom Mund ausgehen: alle Formen von Kauen, Schmatzen, Schlucken und Spucken. „Bei dem Geräusch spielt die Intensität gar keine Rolle. Schon, wenn jemand Essgeräusche produziert, kann das für eine Person mit Misophonie unerträglich sein“, erklärt Dr. Cornelia Schwemmle, Oberärztin und Leiterin der Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Gießen, die sich intensiv mit dem Thema Misophonie beschäftigt.
Auch auf Wiederholungsgeräusche, etwa das Klicken eines Kugelschreibers, Schritte oder Tippgeräusche, können Betroffene negativ reagieren. Atemgeräusche, Schnarchen, Husten und Räuspern sind ebenfalls häufige Auslöser einer misophonen Reaktion. „Die Ironie ist, dass es sich meist um Alltagsgeräusche handelt, die man selbst auch produziert“, erklärt Schwemmle. „Aber es ist eben immer ein Unterschied, ob ich selbst dieses Geräusch mache oder ob ich es woanders wahrnehme. Das ist wie der Beifahrer im Auto, der die Fahrweise des Fahrers immer anders interpretiert als der Fahrer selbst. Auch da spielt es bei Interpretation eine Rolle, ob der Beifahrer den Fahrer kennt beziehungsweise mit ihm vertraut ist oder nicht.“
Welche Reaktionen werden durch Trigger-Geräusche ausgelöst?
Bei Misophonie folgt auf ein Trigger-Geräusch eine extrem ausgeprägte negative Reaktion. Es werden regelrecht Hassgefühle und Aggressionen, aber auch Ekel entwickelt, die man nicht mal eben wegschieben kann. Herzfrequenz und Blutdruck können steigen, es kann zu Schweißausbrüchen kommen. Die Reaktion auf den Trigger erfolgt sofort, sie wird praktisch aus der Person herausgeschleudert. Der Versuch, ruhig zu bleiben und das Gefühl zu unterdrücken, ist in diesem Moment extrem schwer.
„Die Betroffenen wissen – vor allem im Nachhinein –, dass ihre Reaktion eigentlich unverhältnismäßig ist“, so Oberärztin Schwemmle. Das bestätigt auch Misophonie-Betroffene Alexandra. Sie sagt: „Wenn jemand – allen voran Karl – kaut, könnte ich an die Decke gehen. Ich bin empört und sauer auf meinen Partner, wie er es wagen kann, so eklig zu essen. Ich unterstelle ihm sogar, dass er es extra macht. Und mir ist gleichzeitig klar, dass ich vollkommen übertreibe.“
Wie wirkt sich die Geräuschempfindlichkeit im Alltag aus?
Misophonie kann das soziale Leben und das Wohlbefinden stark beeinflussen. Viele Betroffene meiden im Alltag Situationen, in denen sie ihren Trigger-Geräuschen ausgesetzt sein könnten. „Es gibt Menschen, die nicht mehr arbeitsfähig sind, weil sie aus Angst vor Triggern nicht mehr täglich aus dem Haus gehen können“, berichtet Schwemmle. „Da können Partnerschaften zerbrechen. Ein Kind ist möglicherweise nicht mehr in der Lage, in die Schule zu gehen.“
Hinzu kommt, dass Außenstehende oft nicht nachvollziehen können, warum für Misophonie-Betroffene selbst manch kleinstes Geräusch so unangenehm ist. „Die Reaktion wird häufig belächelt“, weiß Oberärztin Schwemmle. „Oder es wird gesagt: Stell dich nicht so an.“ Natürlich könne es beispielsweise für Eltern problematisch sein, wenn die Kinder nicht mehr mit ihnen am Tisch essen wollen. Aber würde man sie den Triggern immer wieder aussetzen, indem man sie zwingt, mit den Eltern zu essen, hätte das keinen positiven Effekt. „Das Konfrontieren mit Geräuschen spielt bei der Behandlung von Misophonie keine große Rolle. Schlichtweg, weil sie sich davon nicht bessert: Es entsteht keine Gewöhnung“, so die Expertin. Besser sei, mit Akzeptanz und Verständnis zu reagieren.
Therapie: Wie kann Misophonie behandelt werden?
Gegen Misophonie gibt noch keine standardisierte Therapie. Wer die Geräuschempfindlichkeit jedoch ignoriert, laufe Gefahr, dass sie sich verschlimmert. „Es ist wahrscheinlicher, dass die Trigger-Geräusche zunehmen als dass sie wieder abnehmen, gerade bei Kindern“, sagt Schwemmle. Zu einem anfänglichen Geräusch reihen sich dann nach und nach weitere Trigger. Deswegen rät die Expertin dazu, eine Misophonie zu behandeln – soweit es geht.
Schwemmle empfiehlt zunächst eine HNO-Untersuchung, um Höreinschränkungen, Tinnitus oder eine zentrale Hörstörung abzuklären. Danach sei eine psychiatrische Untersuchung zu empfehlen, in der mögliche psychiatrische Besonderheiten, etwa Depressionen, Verhaltensstörungen oder autistische Störungen, abgeklärt werden können. „Generell hilft es, Trigger zu definieren und diese dann zu vermeiden“, so die Expertin. „Sich den Geräuschen durch Alltagsstrukturierung zu entziehen ist für Misophonie-Betroffene Maßnahme Nummer eins.“
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Auch wenn es gegen Misophonie noch keine Standardtherapie gibt, sieht die Oberärztin gute Chancen in der kognitiven Verhaltenstherapie. „Dabei wird versucht, das Gehirn umzupolen, sodass der Reiz sich nicht so stark durch negative Reaktionen durchsetzt und so allgemein die Reaktion auf Geräusche gemildert wird.“ Erste Studien konnten bereits die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie bei Misophonie zeigen: In einer holländischen Studie etwa waren die misophonen Symptome nach der Therapie bei 48 Prozent der Betroffenen signifikant reduziert.
Selbsthilfe bei Misophonie
Betroffene können selbst einige Maßnahmen ausprobieren, wenn sie den Geräuschen, die bei ihnen eine misophone Reaktion auslösen, nicht aus dem Weg gehen können. Dazu gehören zum Beispiel:
- Akustisch dämpfende Maßnahmen: Noise-Cancelling-Kopfhörer, das Plätschern eines Zimmerbrunnens oder Musik können Trigger-Geräusche überlagern.
- Apps: Bestimmte Sounds, die ein Rauschen verursachen, können die unliebsamen Geräusche entschärfen.
- Tinnitus-Hörgeräte oder -Noiser: Auch diese Geräte können Misophonie-Betroffenen helfen, wenn sie Triggern ausgesetzt sind.
- Entspannung: Meditation und andere Entspannungsmethoden können Betroffene dabei unterstützen, ihre Reaktionen besser zu kontrollieren.
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Bei Misophonie kann es außerdem helfen, sein Leiden offen zu benennen. Das kann Alexandra, die die Essgeräusche ihres Partners kaum erträgt, bestätigen: „Ich sage anderen nun immer, dass ich an einer neurologischen Störung leide, die Misophonie heißt. Wenn ich jemanden kauen höre, erkläre ich, dass es sich anfühlt, als würde ich jedes Mal einen Stromschlag bekommen.“ Seitdem hat jede und jeder Verständnis, wenn Alexandra lieber alleine im Esszimmer isst – und ihr Partner Karl in der Küche.