An einem heißen, sehr heißen Dienstag in Kreuzberg, treffen wir Kevin in einem Café am Spreeufer zum Lebensrezepte-Interview. Und während die Berliner bei 38 Grad bereits beim Schlendern ächzen, kommt Kevin lächelnd auf seinem Singlespeed Bike angefahren. Schon von Weitem erkennen wir: Da fährt uns jemand entgegen, der in sich ruht. Passt: Denn Kevin ist liebevolles Herrchen seines Hundes Kurti, Yogalehrer und gibt Workshops zum Thema Achtsamkeit. Wenn er nicht gerade als freier Autor für Magazine schreibt, bloggt, Essays veröffentlicht oder für Agenturen textet. Diese spannende Kombination aus Kopf und Körper interessiert uns natürlich sehr.
Barmer: Wie funktioniert das eigentlich: Wacht man eines Morgens auf und entscheidet sich, achtsamer, gesünder und kreativer zu werden? Oder ist das ein schöner, schleichender Prozess, aus dem irgendwann ein Lebensrezept wird?
Kevin: Alles, was ich so in meinen Zwanzigern erlebte, ist ein Teil von mir. Damit meine ich viel reisen, feiern gehen und unglaublich viele Menschen kennenlernen. Aber erst vor etwa zwei Jahren wurde mir klar, dass Qualität vor Quantität kommt. Weniger intensive Momente, aber dafür die richtigen. Lieber gute Freunde als viele Freunde. Und ganz besonders zu lernen, mich öfters auf mich zu besinnen.
Barmer: Das war dann sozusagen dein persönliches „Alter der Erleuchtung“?
Kevin: Haha, ja, irgendwie schon. Das alles musste ich wohl durchleben, um Verständnis für Achtsamkeit zu entwickeln. Daher würde ich definitiv sagen, dass man nicht eines schönen Morgens aufsteht und denkt: Oh, ich möchte jetzt achtsamer oder gesünder leben! Für mich war es ein jahrelanger Prozess. Und dieser führte erst durch andere Phasen, die weniger achtsam oder gesund sind – aber genau das war wichtig für mich.
Barmer: Wie war denn Kevin vor seiner Begegnung mit Yoga, Achtsamkeit und Inspiration?
Kevin: Hmmm, meine Prioritäten lagen auf jeden Fall woanders. Ich habe nach Inspiration gesucht fürs Schreiben, genauer gesagt fürs Bloggen, was ich ja immer noch mache. In der Uni war ich schon sehr früh mit meinem Master fertig. Was dann folgte, war echt eine Art von geistiger Obdachlosigkeit. Ich brauchte dringend neue Stimulation und ja, dabei habe ich einfach nach Menschen gesucht, die was Cooles machen und über die ich schreiben kann. Und wo findet man diese Menschen in Berlin? Sehr, sehr oft in Bars und Clubs. So fing auch ich an, im Nachtleben zu arbeiten (lacht). Heute weiß ich, dass ich wohl nicht nur auf der Suche nach Input war – sondern irgendwie auch nach dem Sinn des Lebens.
Barmer: Nicht zuletzt durch den Yoga-Hype wird Achtsamkeit momentan zu einer Art Modethema. Doch besonders junge Menschen wissen nicht so ganz, wie man in unserer Welt voller Information und Ablenkung bewusster wird. Hast du eine Art einfaches Rezept für dein Lebensrezept oder einen 5-Punkte-Plan zur Orientierung?
Kevin: Der 5-Punkte-Plan ist dabei ein super Stichwort. Denn damit kann man direkt an seinen fünf Sinnen anknüpfen. Mal einen Tag erleben, an dem man ganz bewusst riecht und an dem man alles über die Nase wahrnimmt. Dann ein Tag, an dem man ganz intensiv schmeckt und sich Zeit nimmt zum Essen. Einen Tag fürs Sehen, einen weiteren fürs Zuhören und dann noch einen, an dem man ganz bewusst fühlt. Das heißt natürlich nicht, dass man wie ein Hund 24 Stunden lang rumschnüffeln muss oder so. Es geht darum, sich im Alltag wieder Zeit zu nehmen für das, was uns begegnet. Zum Beispiel mit der Nase, dem Mund oder unseren Fingerspitzen.
Barmer: Du schreibst, du machst privat und professionell Yoga und praktizierst Achtsamkeit. Das klingt erst mal wie ein idealer Dreiklang. Besteht dein Lebensrezept daher immer aus allen drei Dingen – oder verbringst du manchmal Tage und Wochen nur mit einem der drei Elemente?
Kevin: Es ist tatsächlich so, dass Yoga zu meinem Alltag gehört und mir während meiner Ausbildung zum Yogalehrer geraten wurde, täglich Übungen zu machen. Auch wenn es nur 15 oder 20 Minuten sind. Yoga und Achtsamkeit gehen da Hand in Hand, so kann ich täglich gleich zwei Dinge meines Dreiklangs abhaken. (Kevin lächelt sein beseeltes Kevinlächeln, das wir bereits nach wenigen Gesprächsminuten so getauft haben!)
Barmer: Dabei hilft dir sicher auch, dass du richtige Achtsamkeitskurse gibst, oder?
Kevin: Absolut. Denn wenn ich Kurse gebe, mache ich die Übungen gemeinsam mit dem ganzen Kurs. Man sagt nämlich auch: Teach what you practice and practice what you teach (Lehre, was du praktizierst und praktiziere, was du lehrst.) Diese Übungen helfen auch mir in meinem Alltag, wenn ich gestresst bin und keine Zeit habe, meine Yogamatte auszubreiten.
Barmer: Bleibt bei so viel Bewegung in deinem Lebensrezept noch Raum für deine weitere Zutat – das Schreiben?
Kevin: Auf jeden Fall. Ich blogge nicht jeden Tag oder schreibe jeden Tag lyrische Texte. Aber ich versuche jeden Tag Worte „auf Papier“ zu bringen. Das brauche ich tatsächlich für mein gelungenes Lebensrezept. Beim Schreiben bin ich gleichermaßen konzentriert und kann meine Gedanken kreisen lassen, was echt ein schönes Gefühl ist. Der Hirnmuskel will schließlich auch trainiert werden (grinst).
Barmer: Du bloggst erfolgreich und hast dich trotzdem dafür entschieden, deinen Facebook Newsfeed abzuschalten, um Nachrichten bewusster zu konsumieren. Jetzt musst du uns natürlich verraten, wieso man das macht, und wie man wortwörtlich abschaltet (und trotzdem informiert bleibt).
Kevin: Oh ja, das war echt ziemlich wichtig für mich, weil ich gemerkt habe, dass den ganzen Tag ungefiltert Nachrichten und Informationen auf mich eingeprasselt sind. Das kann auf Dauer ungesund sein, weil unser Bewusstsein gar nicht so viel auf einmal verarbeiten kann. Daraus entsteht dann Stress, von dem man sich nur schlecht erholt. Mir fiel auf, dass ich sogar beim Warten auf die Straßenbahn Fotos und News konsumiert habe, auch wenn es nur fünf Minuten waren. Ich meine, dass wir verlernt haben, eine gewisse Leere oder Pausen auszuhalten. Daher nutze ich dieses Abschalten, um in mich zu gehen und mir Fragen zu stellen: Wie fühle ich mich gerade? Bin ich aufgeregt oder ausgeglichen? Die Kontrolle über die Anzahl der Informationen, die ich erhalte, ermöglicht mir einfach bewusster zu sein und Langeweile von Neugierde zu unterscheiden.
Barmer: Wie geht es dir körperlich und/oder seelisch, wenn du mal wirklich keine Zeit für dein Lebensrezept hast?
Kevin: Ich merke es sofort, wenn ich meine Routine vernachlässige. Das ist wie mit dem Zähneputzen: Wenn man es morgens auslässt, schmeckt alles nach einer Stunde komisch (grinst). Genauso verhält es sich mit meinem Lebensrezept. Es gehört in meinen Alltag und ich fühle mich nicht wirklich vital und ausgeglichen, wenn ich kein Yoga mache, nicht achtsam bin oder nicht schreibe.
Barmer: Körperliche und seelische Gesundheit ist bei dir natürlich ein großes Thema. Wo kann eine Gesundheitskasse bei deinem Lebensrezept ansetzen?
Kevin: Ich fände es schön, wenn Gesundheitskassen aktuelle Trends verfolgen und diese ins therapeutische Konzept einarbeiten würden. Besonders unsere Zivilisationskrankheiten wie Bewegungsmangel und Depressionen können mit Yoga und Achtsamkeitskursen vorbeugend behandelt werden. Junge Menschen würden sich sicher darüber freuen, mehr Aufklärung darüber zu erhalten.
Barmer: Hast du gute Tipps für Leute, die sich für Yoga interessieren, sich jedoch noch nicht an dieses große Thema gewagt haben? Wie fängt man am besten an?
Kevin: Zuerst sollte man sich von den Bildern befreien, die man im Kopf hat: Von den super durchtrainierten Yogis und ganz komplizierten Positionen, die nur absolute Profis beherrschen. Yoga ist nicht nur schwitzen, Fitness und Meditation. Einfache Bewegungen, die wir bewusst machen, fallen für mich schon in diese Kategorie. Einmal pro Stunde vom Bürostuhl aufstehen und sich dehnen, das ist schon die Essenz dieser uralten Lehre. Viele Studios bieten zudem kostenlose Probestunden an, in denen niemand verlangt, seine Fuß- mit den Fingerspitzen berühren zu können. Yoga ist für jedes Alter, jede Figur und jedes Geschlecht gemacht. Genauso wie Achtsamkeit, da gibt es keine No-Gos.
Barmer: Das klingt ziemlich cool und einladend. Was macht denn dein Lebensrezept für dich zum ultimativen Lebensrezept?
Kevin: Ich finde das alles für mich schon ziemlich ultimativ, weil es sich um eine Art Lebensrezept handelt, das schon seit Tausenden von Jahren praktiziert wird. Mittlerweile weltweit. Das heißt für mich, dass da ganz viel Richtiges dran sein muss.
Barmer: Magst du für uns zum Abschluss diesen Satz vervollständigen? Ein Leben ohne Achtsamkeit ist wie …
Kevin: (überlegt) „Ein Leben ohne Achtsamkeit ist wie ein Croissant ohne Marmelade." Achtsamkeit ist eine Grundeigenschaft, die Menschen, die wir einfach vergessen haben. Und Achtsamkeitstraining bedeutet einfach nur, sich in den Zustand von Konzentration zu bringen und aufmerksamer für sich, seine Umgebung und Mitmenschen zu werden. Dass wir Achtsamkeit tief in uns verankert haben, wird in unserer schnelllebigen Welt einfach übergangen. Häufig sind wir einfach nur unglücklich, weil wir nicht achtsam sind. Und, ja, deswegen meine ich, dass ein Leben ohne Achtsamkeit wie ein Croissant ohne Marmelade ist. Schmeckt auch pur, aber mit ist es einfach süßer.