69,6 Millionen. Diese Zahl ließ ich mir auf der Zunge zergehen. Im selben Moment, in dem ich eine Scheibe frisch gebackenen Brotes mit Zatar aß. Wobei es sich bei Zatar um eine wunderbar schmeckende Gewürzmischung aus dem Nahen Osten handelt und bei 69,6 Millionen um die Anzahl der Reisen, die Deutsche zwischen 2005 und 2017 unternommen haben. Das stand im Magazin der Airline, mit der ich vor einigen Jahren nach Marokko flog. Für unter 100 Euro von einer letzten Apfelschorle im deutschen Spätherbst nach Marrakesch, wo ich kurz nach der Ankunft in einem kleinen Familienhotel meine erste richtige Tasse Minztee trank. Und mit richtig meine ich Minze, die es im Supermarkt meines Vertrauens gar nicht gibt. Selbst dann, wenn sie als solche angepriesen wird. In diesem Moment wusste ich zwar, dass ich eine Reisende unter 69,6 Millionen bin. Was ich jedoch nicht wusste, war, wie sich mein Leben nach zwei Wochen vor den Kulissen aus 1001 Nacht um 1000 Horizonte erweitern würde.
Wer sich mit den Themen Reisen und Urlaub beschäftigt, der findet sämtliche Statistiken interessant. Was jedoch auf den zweiten Gedanken viel interessanter ist, ist die Tatsache, dass in diesen Abermillionen Euro, die jedes Jahr für Reisen ausgegeben werden, viel mehr steckt als Kerosinsteuer, Hotelkosten und der Durchschnittspreis für einen Mojito am Strand. Weil der eigentliche Wert des Reisens der ideelle Wert ist. So klebrig-süß es auch klingen mag. Reisen, vom Packstress und den langen Schlangen am Flughafen mal abgesehen, ist gesund und kann gesünder machen. Emotional und körperlich. Wenn wir reisen, lassen wir unsere Urlaubskasse zwar in Mexiko, an der Müritz oder in Mailand – was wir jedoch mitnehmen, passt in keinen Koffer. Selbst dann nicht, wenn wir Übergepäck bezahlen.
Während wir auf Reisen Wunder erleben können, heißt es jedoch nicht, dass Reisen für uns Wunder bewirken können: Wer 350 Tage im Jahr ungesund lebt, wird nicht wie aus Zauberhand in Griechenland zum Sportgott oder zur Wellnessgöttin. Auch da sollten wir realistisch bleiben. Als ich jedoch schultertief im lauwarmen Wasserbecken eines orientalischen Bads stand, hätte neben mir die Welt untergehen können – mein Blutdruck lag bei idealen 60 zu ist-mir-gerade-alles-wurscht. Richtig spannend und wissenschaftlich messbar wird Reisen, wenn wir es mit Lernen verbinden. Ob eine neue Sprache oder eine neue Sportart spielt dabei keine Rolle – unser Hirn ist ein Schwamm, der sich mit Wasser aus fremden Gewässern in ungeahnte Weiten ausdehnen kann. Grandios, oder?
Je mehr wir in die Sprache eines fremden Landes eintauchen, desto größter ist die Chance, dass wir die Schlagworte unseres Lebens am Heimatort für gewisse Zeit verlernen: Alltag? Nie gehört. Stress? Was bitte soll das sein? Klausuren? Wie schreibt man das? Lange Zeit, vielleicht sogar zu lange Zeit, habe ich der Kraft des Reisens nicht wirklich vertraut. Ich dachte, dass die wirkliche Erholung und die richtig positiven Auswirkungen auf Körper und Geist erst dann beginnen, wenn ich wie Julia Roberts in „Eat, Pray, Love“ einmal um die halbe Welt fliege. Wie falsch ich lag. Reisen definiert sich nicht durch den zweiwöchigen Pauschalurlaub auf den Balearen, das Luxusresort auf den Malediven oder zweimonatiges Tracking im nepalesischen Hochland – Reisen ist immer dann, wenn wir den Ort wechseln und uns den Gegebenheiten einer neuen Kultur, Sprache und uns unbekannten Menschen hingeben.
Dabei ist Reisen nicht gleich Reisen und Urlaub nicht gleich Urlaub. Freiberufler, die ungern mehrere Wochen am Stück verreisen, erleben bereits einen Schub an Kreativität, wenn sie am Wochenende Campen gehen. Das las ich im Zug auf dem Weg in die Schweizer Berge. Daher stammt diese Erkenntnis nicht von mir, sondern aus einer Studie des Neurowissenschaftlers David Strayer von der University of Utah.
Und genau das ist das Grandiose am Reisen: Es diskriminiert nicht. Denn Reisen geht im Zug, im Auto, zu Fuß, per Boot oder im Flugzeug. Reisen findet mit dem Körper und den Gedanken statt und ist ein Erlebnis mit unvergleichbarer Gewinn-und-Verlust-Rechnung: Wir gewinnen Mut, Toleranz und, im Idealfall, neue Freunde. Wir verlieren Vorurteile, Stress und, im Idealfall, unser Herz. An den Blick auf einen Sonnenuntergang auf Rügen, einen Straßenhund in Neu-Delhi und die schöne Unbekannte auf Kuba. Selbst dann, wenn wir unseren CO2-Fußabdruck kleinhalten möchten, den Rucksack packen und uns von unseren Beinen über den Jakobsweg tragen lassen, machen wir mit jeder Reise emotional riesengroße Sprünge.
Zatar schmeckt übrigens nach Thymian, Fenchel und Koriander. Die Gewürzmischung hinterlässt, sofern sie mit Olivenöl gemischt wird, einen feinen Film auf den Fingerspitzen, den man einfach auf seinen nackten Unterschenkeln abwischen kann. Man geht doch sowieso irgendwann baden oder schwimmen. Ob im Meer, im Pool, im Fluss oder im See. Besagter Urlaub vor einigen Jahren hat mich übrigens gelehrt, dass meine neuen Nachbarn nicht türkischer, sondern marokkanischer Abstammung sind. Das weiß ich, weil ich ihren Akzent im Treppenhaus sofort erkannte. Na gut, und weil sie mir kurz nach ihrem Einzug eine Tüte frischer marokkanischer Minze und eine kleine Tasse aus Fès schenkten, die ich seitdem jeden Morgen benutze.