- Es ist nicht egal, wie wir geboren werden
- Schwangeren- und Geburtsversorgung: Seit 2017 gibt es ein Nationales Gesundheitsziel
- Wie sich die Geburtshilfe in Deutschland verändert hat
- Ein Menschenrecht: Die freie Wahl des Geburtsortes
- Ein ausreichendes Betreuungsangebot durch Hebammen gewährleisten
- Schwangerenvorsorge und Geburt haben auch eine finanzielle Dimension
- Selbstbestimmte Geburt: Schwangere sollen ihre Rechte auch wahrnehmen können
Ob im Kreißsaal, dem Geburtshaus oder per Hausgeburt: Die Barmer setzt sich dafür ein, dass Frauen selbstbestimmt gebären können. Expertinnen und Experten erklären, was sich in der Geburtshilfe ändern muss.
Wenn Mütter sich treffen, tauschen sie sich nicht selten darüber aus, wie ihre Kinder zur Welt kamen, wie sie die Geburt erlebt haben und wie es ihnen dabei ging.
Das Wunder der Geburt ist wohl ein einzigartiges Erlebnis. Die Barmer hilft Ihnen, sich auf die Geburt und die Zeit danach optimal vorzubereiten. Damit Sie diese besondere Zeit unbeschwert erleben können. Welcher Geburtsort ist für mich der richtige? Welche Aufgaben übernehmen die Hebammen? Worauf muss ich beim Stillen achten? Zu all diesen Fragen und noch vielen weiteren finden Sie hier umfangreiche Informationen.
Denn die Geburt eines Kindes ist ein sehr bedeutsames Ereignis mit großen Auswirkungen auf das Leben sowohl der Mutter als auch des Kindes und der ganzen Familie. Wie die Geburt erlebt wird, beeinflusst zum Beispiel den Stresslevel beim Übergang in die neue Lebensphase, es ist wichtig für die Eltern-Kind-Bindung und für die Lebensqualität. Frauen erzählen von ganz unterschiedlichen Geburtserlebnissen, positiven, aber leider auch negativen. Einige Beispiele:
„Am Tag des Geburtstermins machte mein Sohn in meinem Bauch keine Anstalten, das Licht der Welt zu erblicken. Auch nicht am nächsten oder übernächsten Tag. Als bereits 14 Tage verstrichen waren, beschloss der Gynäkologe, der mich in der Klinik an diesem Tag betreute, die Geburt einzuleiten. Es gab keine großen Erklärungen, ich bekam ein wehenförderndes Mittel und zack, ging es los. Ich fühlte mich übergangen, jeder um mich herum verwies ständig auf jemand anderen und die Wehen kamen so schnell, dass ich kaum Zeit hatte, Luft zu schnappen oder Fragen zu stellen. Ich fühlte mich allein gelassen, überfordert und ich hatte Angst.“ Sandra Telldorf (wir haben die Namen der Mütter in diesem Artikel geändert, Anm. d. Red.) spricht klar und in ruhigem Tonfall, wenn sie von diesem Tag erzählt. Trotzdem merkt man ihr die Bitterkeit an, mit der die Erinnerung an diese besonderen Stunden in ihrem Leben verbunden ist. Am Ende sei sie „natürlich einfach froh“ gewesen, dass „alles gut gelaufen“ sei, schiebt Telldorf beschwichtigend hinterher. Damit meint sie, dass ihr Sohn und sie gesund sind, nicht jedoch die Umstände der Geburt. Die Dankbarkeit überdeckt die negativen Erinnerungen an diesen Tag. Telldorf hatte sich für eine Geburt im Krankenhaus entschieden. Ob sie diese Wahl heute wieder treffen würde, weiß sie nicht.
Anne Senft beschreibt die Geburt ihrer ersten Tochter mit ähnlichen Worten. Auch sie vermisste im Krankenhaus Empathie und eine kontinuierliche Betreuung. Ihre zweite Tochter brachte sie in einem Geburtshaus zur Welt. „Es war für mich eine wunderschöne Geburt. Ich war entspannt und habe mich sicher gefühlt, meine Hebamme war super. Ich wurde durchgehend betreut. Kein Vergleich zur stressigen Geburt im Krankenhaus, die am Ende in einem Untersuchungsraum stattfand, weil alle Kreißsäle belegt waren“, beschreibt Senft die Geburt im Geburtshaus.
Wenig Personal, kaum Zeit für ein Eingehen auf die individuelle Situation — das sind für viele Mütter die klassischen Probleme bei einer Geburt im Krankenhaus. Im Zeitalter von steigenden Ausgaben und zunehmendem Personalmangel ist häufig wenig Raum für rundum-betreute und selbstbestimmte Geburten.
Tamara Hentschel war bei der Geburt ihres Sohnes vor zwei Jahren 35 Jahre alt. Sie machte eine andere Klinikerfahrung: „Ich habe aus voller Überzeugung in einer Uniklinik entbunden, ich wollte mein Kind in einer Klinik mit Maximalversorgung zur Welt bringen. Ich fühlte mich dort gut aufgehoben. Aber wenn ich mit Freundinnen spreche, muss ich auch sagen: So gut wie ich wurde offenbar nicht jede betreut. Offenbar habe ich Glück gehabt. Aber es kann ja nicht sein, dass es vom Glück abhängt, ob das Personal, insbesondere die Hebammen genug Zeit für eine zugewandte Versorgung haben.“
Es ist nicht egal, wie wir geboren werden
Jede Geburt ist anders und Mütter haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Denn jede werdende Mutter hat ihren persönlichen Lebenshintergrund und eine persönliche Geschichte. Daraus ergeben sich ihre Haltung gegenüber Schwangerschaft und Geburt sowie ihre individuellen Bedürfnisse und ihre Vorstellung zu Zeit, Ort und erhofftem Verlauf der Geburt. Auch die Haltung der Gesellschaft gegenüber Frauen und zu Schwangerschaft und Geburt spielen eine wichtige Rolle. Denn die Gesellschaft schafft die Rahmenbedingungen dafür, wie Frauen gebären und wie wir geboren werden. Hinter den Strukturen von Krankenhäusern, hinter Personalfragen, Zeit- und Kostenplänen stecken letztlich politische Entscheidungen. Das betrifft insbesondere auch die Betreuung durch Hebammen während der Geburt und in der Schwangerschaft. Wie kann man den individuellen Bedürfnissen, Wünschen, sowie der Gesundheit von Mutter und Kind noch besser gerecht werden? Die Barmer als eine der führenden Krankenkassen möchte eine Geburtshilfe stärken, die gesundheitsorientiert und bestärkend ist sowie die individuellen Wünsche und Bedürfnisse ihrer Versicherten möglichst gut berücksichtigt. Deshalb hat das Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung, kurz bifg, eine umfangreiche Analyse erstellt und skizziert wie ein Kulturwandel in der geburtshilflichen Versorgung aussehen muss, damit Frauen selbstbestimmt gebären können. Denn es ist nicht egal, wie wir geboren werden und wie Frauen gebären.
Kurz gesagt:
Die Geburt ist ein Schlüsselerlebnis in unserem Leben. Sie kann für Mutter und Kind ein sehr beglückendes und positives Erlebnis sein. Schlechte Bedingungen können die Geburt aber auch zu einem sehr belastenden Moment im Leben von Mutter und Kind machen.
Entscheidend für positive Geburtserlebnisse ist eine klar auf die Interessen und Wünsche der Schwangeren ausgerichtete Betreuung und Begleitung.
Die Ampel-Koalition möchte die Umsetzung des 2017 verabschiedeten Nationalen Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“ vorantreiben.
Notwendig ist ein Kulturwandel in der Geburtshilfe, der dazu beiträgt Übergriffe, eine überzogene Risikofixierung und fehlende Wahlmöglichkeiten zu überwinden.
Die derzeitige Situation in der Geburtshilfe ist von einer übermäßigen Technisierung, Risikoorientierung und finanziellen Fehlanreizen geprägt.
Doch der Blick in Länder wie die Niederlande oder nach Skandinavien zeigt, dass es anders geht - beispielsweise mit einer viel geringeren Zahl an Kaiserschnitten.
Die freie Wahl des Geburtsortes und der Geburtsumgebung ist ein Menschenrecht: So haben gesunde Frauen neben der ärztlich geleiteten Geburt im Krankenhaus auch das Recht auf eine von der Hebamme geleitete Geburt in einem Hebammenkreissaal, in einem Geburtshaus oder zuhause.
Der derzeitige Hebammenmangel führt jedoch zu eingeschränkten Wahl- und Betreuungsmöglichkeiten. Hierunter leiden insbesondere Schwangere, die sich eine sogenannte spontane natürliche Geburt für sich und ihr Kind wünschen.
Die Rahmenbedingungen zur Ausübung des Hebammenberufs müssen also verbessert werden, damit Schwangere auch eine echte Wahl haben, wie sie Ihr Kind auf die Welt bringen möchten.
Schwangeren- und Geburtsversorgung: Seit 2017 gibt es ein Nationales Gesundheitsziel
Die neu formierte Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP setzt sich in ihrem Koalitionsvertrag Verbesserungen bei der Schwangerschafts- und Geburtsversorgung zum Ziel. Sie will die Umsetzung des 2017 vom Bundesministerium für Gesundheit veröffentlichten Nationalen Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“ vorantreiben. Im Mittelpunkt soll eine Versorgung stehen, die sich an den Bedürfnissen der Frauen orientiert. Beobachter sehen derzeit gute Chancen auf grundlegende Veränderungen in der Geburtshilfe. Es ist nun die Frage, wie der Wandel konkret ausgestaltet wird. Dazu braucht es auch einen Schub aus der Gesellschaft, der dafür sorgt, dass die Politik am Ball bleibt und ihren Worten Taten folgen lässt.
Die Barmer unterstützt Sie dabei, über geeignete Plattformen eine Hebamme zu finden.
Frauen berichten in den vergangenen Jahren öfter und offener davon, dass sie im Kreißsaal Übergriffe und Gewalt erlebt haben. Schwangerschaft und Geburt werden mehr und mehr als potenzielle Krankheit gesehen. Auch gesunde Frauen mit unkompliziertem Schwangerschaftsverlauf werden mit einer Vielzahl von Risiken belegt und unnötigen Interventionen ausgesetzt, so eines der Ergebnisse der Analyse des bifg.
Schwangere haben außerdem ein gesetzlich verbrieftes Anrecht auf die Wahl zwischen Hebammenvorsorge und ärztlicher Vorsorge sowie auf die freie Wahl des Geburtsortes. Und doch können Frauen von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen, weil die Angebote fehlen und Hürden im System dies verhindern.
Eine praktische Beschreibung zur Geburtsortsuche und vielen anderen praktischen Schritten während der Schwangerschaft finden Sie in unserem Schwangerschaftsplaner.
Ulrike Hauffe ist Diplompsychologin und stellvertretende Verwaltungsratsvorsitzende der Barmer und hat für die Barmer und den Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF e.V.) aktiv an der Entwicklung des Nationalen Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“ mitgewirkt. Sie plädiert seit Jahren für einen Kulturwandel in der geburtshilflichen Versorgung: „Es fehlt eine konsequente Ausrichtung der Versorgung an den Bedürfnissen der Frauen und ihrer Kinder“, sagt sie. „Die daraus resultierenden Defizite in der geburtshilflichen Versorgung werden seit Jahren nicht genügend angegangen. Die zunehmende Technisierung der Medizin hat dazu geführt, dass Schwangerschaft und Geburt nicht mehr als natürliches und soziales Ereignis gesehen werden, sondern vorwiegend als "medizinisches Risiko". Es dominieren medizinische Kontrollen und Interventionen auch bei gesunden Frauen in einem Ausmaß, das keinen Vorteil, sondern oft eher Nachteile für die Frauen und ihre Kinder mit sich bringt.“
Mit dieser Haltung ist Hauffe nicht allein. Dr. Wolf Lütje, Chefarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe am Ev. Amalie Sieveking Krankenhaus in Hamburg, sieht das ähnlich. Er arbeitet mit seinem Team daran, Frauen eine friedvolle Geburt zu ermöglichen: „Wir geben uns hier alle Mühe, die Vorteile eines Geburtshauses mit denen eines Krankenhauses zu vereinen. Die werdenden Mütter sollen nicht das Gefühl haben, in einer lieblosen Umgebung zu gebären. Oder schlimmer: krank zu sein.“
Wie sich die Geburtshilfe in Deutschland verändert hat
Die bifg-Analyse hat auch dargestellt, wie es im Laufe des letzten Jahrhunderts zu der jetzt in der Geburtshilfe vorherrschenden Risikosicht auf Schwangerschaft und Geburt kam. In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde die öffentliche Gesundheitsfürsorge, zu der bis dahin die Schwangeren- und Mütterberatung einschließlich Säuglingssprechstunden gehörten, nach und nach abgebaut. 1965 wurde die Schwangerenvorsorge in Form der Mutterschaftsrichtlinien in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen und damit in die Hände der damals meist männlichen Gynäkologen und Praktischen Ärzte gelegt. Mit der Neufassung der Mutterschaftsrichtlinien von 1975 wurde das Risikofaktorenmodell eingeführt und die frühzeitige Erkennung von Risikoschwangerschaften und Risikogeburten zum vorrangigen Ziel ärztlicher Schwangerenvorsorge erklärt. Die medizinischen Fortschritte in der Geburtshilfe, die in dieser Zeit gemacht wurden, sind unbestritten. Gleichzeitig aber wurden die Risikofaktoren seit dieser Zeit immer mehr ausgeweitet: Waren es 1975 noch 17, so sind im aktuellen Mutterpass 56 Schwangerschafts- und 98 Geburtsrisiken aufgelistet. Bei fast 80 Prozent der Schwangeren kreuzten Ärztinnen und Ärzte im Jahr 2019 ein oder mehrere Geburts- und/oder Schwangerschaftsrisiken an. 34 Prozent der Schwangeren wurden 2017 laut der Bundesauswertung des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen, kurz IQTIG, zur Geburtshilfe als risikoschwanger eingestuft. Im Jahr 2009 waren es noch 25,8 Prozent. Eine solche Steigerung ist auch durch die tatsächliche Zunahme mancher Risiken, beispielsweise durch ein höheres Lebensalter der Mütter, Schwangerschaften bei Vorerkrankungen oder Mehrlingsschwangerschaften nach Kinderwunschbehandlung, nicht erklärbar und der Nutzen einer solchen Risikofokussierung ist nicht belegt.
Auch der Ort der Geburten verschob sich über die Jahrzehnte. Noch in den 1950er-Jahren bekamen in Deutschland die meisten Frauen ihre Kinder zu Hause, meist mithilfe von Hebammen, zum Teil in Zusammenarbeit mit Praktischen Ärztinnen und Ärzten sowie und Geburtshelferinnen. Diese Form der Geburtshilfe kritisierten die meist männlichen Gynäkologen zunehmend als riskant und unzeitgemäß. Sie propagierten die Klinikgeburt als moderner, hygienischer und sicherer und warben mit der schmerzfreien Geburt. Heute finden weit über 90 Prozent der Geburten in Krankenhäusern beziehungsweise Kliniken statt. Die Rate an Kaiserschnittgeburten hat sich seit den 1990er Jahren mehr als verdoppelt. Derzeit kommt es in mehr als 30% zur Entbindung durch Kaiserschnitt.
In anderen europäischen Ländern ist die Entwicklung weniger risikoorientiert – bei gleichzeitig hoher Versorgungsqualität. Es wird mehr differenziert zwischen gesunden Frauen mit unproblematischer Schwangerschaft und Frauen mit medizinischen Problemen. In den Niederlanden oder in skandinavischen Ländern liegt die Versorgung gesunder Schwangerer bei den Hebammen. Die ärztliche Versorgung konzentriert sich auf Problemschwangerschaften. Schwangere werden dort nicht primär als Patientinnen gesehen.
Ein Menschenrecht: Die freie Wahl des Geburtsortes
Den Geburtsort wählen zu können, ist ein Menschenrecht. Dazu Dr. Dagmar Hertle, ebenfalls Autorin der bifg-Analyse: „Die Wahl des Geburtsortes ist ein Recht der Schwangeren. Dabei ist der Geburtsort keine Adresse, sondern ein Setting, das mehr von der medizinischen Ausstattung geprägt sein kann, wie in der Klinik oder sehr wenig, wie zum Beispiel bei der Hausgeburt. Aber die Wahlmöglichkeit sollte nicht nur zwischen klinischer und außerklinischer Geburt bestehen. Auch innerhalb des Krankenhauses muss es die Möglichkeit geben, zwischen verschiedenen Umgebungen zu wählen, beispielsweise zwischen einer Geburt im Hebammenkreißsaal oder einer ärztlich geleiteten Geburt. Welche Geburtsumgebung für die einzelne Frau die passende ist, sollte im Vorfeld mit der Schwangeren geklärt werden in einem Gespräch, das die Wahl des individuell „richtigen“ Geburtsortes unterstützt. Wichtig sind dabei neutrale Informationen, die sich auf wissenschaftliche Ergebnisse stützen. Eine außerklinische Geburt bringt für gesunde Frauen mit normaler Schwangerschaft keine höheren Risiken mit sich als eine Geburt im Krankenhaus.“
Dr. Wolf Lütje stimmt zu: „Der Ort ist entscheidend. Im besten Fall ist es ein Ort, an dem Ruhe und Geborgenheit genauso vorhanden sind wie klinisches Notfallequipment und Personal.“
Doch eine emphatische Rund-um-Betreuung, wie Lütje sie in seiner Klinik anzubieten versucht, ist nicht die Regel. Deshalb entscheiden sich immer mehr Frauen, wie Anne Senft nach der ersten Geburt im Krankenhaus die nächste in einem Geburtshaus zu verbringen. Das beobachtet auch Diplompsychologin Dr. Christine Bruhn, Geschäftsführerin des Geburtshauses Charlottenburg: „In Geburtshäusern ist garantiert, dass die Frau unter der Geburt eins zu eins betreut wird. Das heißt, es kann nicht vorkommen, dass eine Hebamme zwei Frauen gleichzeitig betreuen muss. In der Klinik ist das häufig anders.“
Sie weist daraufhin, dass die parallele Betreuung von mehreren Frauen risikoreich sein und in eine Pathologieschleife führen kann. Eine frauzentrierte eins zu eins- Betreuung durch eine Hebamme gibt einer werdenden Mutter hingegen psychisch wie physisch die maximale Sicherheit, sofern es sich um eine normale Geburt handelt. „Gemeint ist damit eine physiologische Geburt bei unauffälliger Schwangerschaft und ohne absehbare Gefahren oder Vorerkrankungen bei Mutter oder Kind. Um dies sicher zu stellen, gibt es im Rahmen der Qualitätssicherung Kriterien, die vorgeben, wann eine Schwangere außerklinisch gebären kann. Die Studienlage bestätigt, dass die Eins-zu-eins-Betreuung ein ganz zentraler Faktor ist. Wenn ich eine Frau über die gesamte Zeit hinweg begleite, merke ich viel schneller, wenn etwas möglicherweise nicht stimmt oder wie ich die Frau ganz individuell unterstützen und stärken kann.“
Die Geburt in einem Geburtshaus, zu Hause oder in einem Hebammenkreißsaal wird durch die Hebamme geleitet. Die Hebamme erfüllt damit eine ureigene Aufgabe, für die sie ausgebildet und zu der sie gesetzlich berechtigt ist. In Deutschland muss übrigens bei jeder Geburt eine Hebamme hinzugezogen werden, auch bei ärztlich geleiteten Geburten im Krankenhaus. Dem Berufsstand der Hebammen sollte daher eine große Wertschätzung zukommen. Stattdessen erschweren hohe Prämien zur Berufshaftpflichtversicherung und schwierige Arbeitsbedingungen immer mehr Hebammen, ihrer Berufung nachzugehen.
Mehr Wertschätzung und die Anpassung an internationale Standards soll u.a. die kürzlich erfolgte Akademisierung des einstigen Ausbildungsberufes bringen. Am 1.Januar 2020 folgte Deutschland als letzter EU-Mitgliedsstaat den Empfehlungen der WHO und überführte die Hebammenausbildung auf Hochschulniveau. Abgeschlossen ist der Prozess aber noch nicht.
Ulrike Geppert-Orthofer ist Präsidentin des Deutschen Hebammenverbandes. Auch sie fordert: „Wir müssen die Eins-zu-eins-Betreuung während der Geburt ermöglichen. Dafür benötigen wir ein klares politisches Bekenntnis zur Geburtshilfe, aber auch die breite gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Bedeutung für uns alle.“
Ein ausreichendes Betreuungsangebot durch Hebammen gewährleisten
Die aktuelle Situation sei geprägt durch den Hebammenmangel, der sich inzwischen über ganz Deutschland erstrecke und in allen Metropolregionen zu Versorgungsengpässen führe. Denn immer wieder geraten Geburtskliniken in die Situation, dass sie aufgrund fehlender Kapazitäten keine Gebärenden aufnehmen können. Wie konnte es zu diesen Zuständen kommen? Geppert-Orthofer: „Über viele Jahre hinweg wurden frei gewordene Stellen nicht nachbesetzt. Die Personalkosten für Hebammen wurden eingespart. Es fehlt ein adäquater und verbindlicher Personalschlüssel für Hebammenstellen, sowohl in den Kreißsälen als auch auf prä- und postpartalen Stationen. Die Lösung hierfür liegt auf der Hand: Der Personalschlüssel muss so angepasst werden, dass jeder Frau während der Geburt eine Hebamme zur Seite steht, die sich ausschließlich um sie kümmert. Voraussetzung hierfür wäre ein gesellschaftliches Umdenken über den Wert der Geburtshilfe.“ Denn Geburten sind der häufigste Aufnahmegrund in ein Krankenhaus überhaupt. Die Missstände betreffen also viele. Geppert-Orthofer plädiert dafür, sich Konzepte in anderen Ländern anzusehen, beispielsweise Großbritannien: Dort wurden Personalbemessungsinstrumente entwickelt und der Hebammenbedarf für die benötigte Versorgung ermittelt. Aufgrund der Bedarfsermittlung werden dann die benötigten Ausbildungsplätze geschaffen. Es handelt sich um ein dynamisches System, das sich dem Bedarf anpassen kann.
Expertinnen sowie Experten und auch Elternorganisationen monieren immer wieder das gleiche Missverhältnis: Auf der einen Seite wird mit hohem Aufwand ein engmaschiges Netz an Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft aufgespannt, was zu einer Überbetonung von möglichen Risiken führt und auch gesunde Schwangere zu Patientinnen macht. Auf der anderen Seite fehlt es an Begleitung: Werdende Mütter fühlen sich während der Geburt oft allein gelassen. Es fehlt die Zeit, sie in die medizinischen Entscheidungen einzubinden, sie zu bestärken und als eigenständige Person mit ihren Gefühlen und Ängsten wahrzunehmen. Faktoren wie soziale Herkunft, familiäre Verhältnisse, traumatisierende Erfahrungen oder der kulturelle Hintergrund werden oft zu wenig berücksichtigt. Das alles spielt aber in einem so lebensverändernden Prozess wie einer Schwangerschaft und Geburt eine tragende Rolle.
Der derzeit vorherrschende Risikoblick verunsichert nicht nur die Schwangeren und Gebärenden, sondern auch die Behandelnden. Mehr Ängste führen zu vermehrtem Eingreifen. Inzwischen findet kaum mehr eine Geburt ohne medizinische Einflussnahme statt, wobei nicht selten eine Intervention die nächste nach sich zieht. Nach Daten des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen wurde in Deutschland im Jahr 2019 bei jeder fünften Schwangeren die Geburt medikamentös eingeleitet (21,9 Prozent). Jede vierte Frau bekam ein wehenförderndes Mittel (25,03 Prozent) und ebenfalls jede vierte eine Rückenmarksnarkose. Fast jedes dritte Kind wird derzeit mit einem Kaiserschnitt geholt (2019: 30,85 Prozent) und damit doppelt so viele wie 1991.
Dr. Dagmar Hertle: „Die natürliche Geburt wird zu wenig unterstützt. Hierfür ist die Schwangerschaft weichenstellend und die Hebammenbetreuung ein wichtiges Element. Aber viele Frauen finden keine Hebamme, insbesondere sozial und ökonomisch benachteiligte Frauen. Konflikte zwischen den Berufsgruppen werden auf dem Rücken der Schwangeren ausgetragen. Zum Beispiel wird den Frauen oft ausgeredet, die Vorsorge bei der Hebamme zu machen, weil ärztlicherseits Abrechnungsprobleme befürchtet werden, wenn die Hebamme an der Vorsorge beteiligt ist.“
Schwangerenvorsorge und Geburt haben auch eine finanzielle Dimension
Viele Expertinnen und Experten sind sich einig, dass Geld bei der gesamten Thematik eine wichtige Rolle spielt. Auf der einen Seite wird viel für medizinische Kontrollen und Interventionen ausgegeben, auf der anderen Seite wird am Personal gespart.
Dr. Wolf Lütje glaubt, dass genug Geld da ist. Es müsse nur anders verteilt werden beziehungsweise aufwandsbezogen vergütet werden. Es müsse dringend die Bürokratie rund um Geburten und deren Abrechnung verschlankt und vereinheitlicht werden. Aktuell wird der Kaiserschnitt mit etwa 3.000 Euro vergütet, wohingegen eine ‚normale‘ Geburt nur etwa 2.000 Euro erbringt. Dies setze einen Anreiz, eine langwierige vaginale Geburt mit einem Kaiserschnitt zu beenden, weil je nach Personal und Platz die Geduld fehlt, die Frau im natürlichen Geburtsverlauf zu begleiten und zu ermutigen. Die Vergütung der natürlichen Geburt muss angepasst werden, denn – so Lütje – ein Kaiserschnitt darf kein finanzieller Anreiz sein. Denn in Graubereichen kann die Indikationsstellung dann leicht in eine bestimmte Richtung kippen. Dazu Ulrike Geppert-Orthofer: „So lange geburtshilfliche Maßnahmen aufgrund des Abrechnungssystems erlösgetrieben sind, ist eine gute leitliniengerechte und flächendeckende Betreuung nicht möglich.“
Selbstbestimmte Geburt: Schwangere sollen ihre Rechte auch wahrnehmen können
Auch Dr. Wolf Lütje sieht die Politik in der Pflicht. Das Gesundheitswesen müsse dringend restrukturiert werden. Ulrike Hauffe fügt hinzu: „Die Politik ist die Gestalterin der Rahmenbedingungen für die Versorgung in der Schwangerschaft, während der Geburt und im Wochenbett. Sie muss dafür sorgen, dass die Frauen ihre Rechte nicht nur auf dem Papier haben, sondern auch tatsächlich wahrnehmen können. Politik muss die Strukturen schaffen, die eine frauzentrierte Versorgung ermöglichen.“
Dr. Christine Bruhn fordert, dass sich die Kooperation von Hebammen und Gynäkologinnen grundlegend verbessert. „Dazu ist es nötig, die eigene Haltung zu überdenken, die Ideologien ein wenig über Bord zu werfen und sich fachlich schlau zu machen. Es ist unglaublich, wieviel Unwissen es zum Teil darüber gibt, wie Hebammen, vor allem im außerklinischen Bereich, arbeiten.“
Ulrike Geppert-Orthofer sagt: „Wir hatten zu keiner Zeit ein Nachwuchsproblem. Es konnten immer alle Ausbildungs- und Studienplätze besetzt werden und es gibt lange Wartelisten. Viele Hebammen sehen jedoch nach der Ausbildung in der Klinik keinen attraktiven Arbeitsplatz. Das liegt an der unverhältnismäßigen Arbeitsbelastung durch den geringen Personalschlüssel und die Vielzahl fachfremder Tätigkeiten. Eine hebammengeleitete, gesundheitsfördernde physiologische Geburt ist so oft nicht möglich. Dies hat bei den Kolleginnen zur Folge, dass sie Stunden reduzieren, nicht mehr in der Geburtshilfe, sondern in der Schwangerschafts- und Wochenbettbetreuung arbeiten oder sogar den Beruf ganz verlassen.“
Alle Expertinnen und Experten sind sich einig, dass das gemeinsame Ziel sein muss, Schwangere und Gebärende besser und bedürfnisgerechter zu begleiten, so wie es das Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ vorsieht.