Die Barmer hat 2021 eine digitale Versorgung mit orthopädischen Schuheinlagen getestet. Trotz sehr hoher Zufriedenheit der Versicherten durfte das Angebot nicht weitergeführt werden. Grund dafür sind fehlende Spielräume im Hilfsmittelverzeichnis für innovative Konzepte und patientenfreundliche Zugangswege. Die Barmer fordert deshalb eine Öffnung des §139 SGB V.
Berlin, August 2022 – Viele Alltagsaufgaben lassen sich heute digital über Apps oder Websites erledigen: Einkaufen, Essen bestellen, Urlaube organisieren oder Rechnungen bezahlen. Digitale Lösungen sind flexibel, mit geringem Aufwand verbunden und lassen sich gut in den Tagesablauf integrieren. Sie schaffen Transparenz über Anbieter und Leistungen und helfen dabei, das beste Angebot für die eigenen Bedürfnisse zu finden.
Bedarf an digitalen Gesundheitslösungen steigt
Auch im Gesundheitswesen etablieren sich zunehmend Digitalangebote. Die meisten Krankenkassenanliegen lassen sich per App erledigen: Anträge ausfüllen, Nachweise einreichen oder am Bonusprogramm teilnehmen. Ärztinnen und Ärzte können digitale Gesundheitsanwendungen verschreiben und bieten selbst Videosprechstunden an. Allerdings gibt es bisher kaum durchgehende digitale Versorgungswege: Patientinnen und Patienten gelangen meist recht schnell an einen Punkt, an dem es online einfach nicht mehr weitergeht, ohne dass dafür plausible Gründe erkennbar sind.
Die Barmer setzt sich dafür ein, Innovationen im Gesundheitswesen voranzutreiben und überall dort, wo Digitalisierung die Versorgung besser, einfacher und passgenauer macht, diese Chancen auch zu nutzen. 2021 haben wir deshalb ein Pilotprojekt für die Hilfsmittelversorgung mit orthopädischen Schuheinlagen gestartet. Dieses Thema betrifft sehr viele Menschen, pro Jahr bearbeitet die Barmer mehr als 500.000 Fälle. Für unsere Versicherten ist oft unverständlich, warum zwar Videosprechstunden mit einer Ärztin oder einem Arzt möglich sind, Schuheinlagen aber ausschließlich persönlich vor Ort im Sanitätshaus oder Orthopädiehandel besorgt werden können.
Positive Erfahrungen mit digitaler Schuheinlagenversorgung
Rund 700 BARMER-Versicherte testeten 2021 einen digitalen Versorgungsweg: Sie bestellten orthopädische Einlagen online und erhielten dann ein Vermessungsset für ihren Fußabdruck per Post. Die maßgefertigten Sohlen wurden anschließend nach Hause geliefert. Der Pilot war ein voller Erfolg. In der anschließenden Zufriedenheitsbefragung vergaben die Teilnehmenden im Schnitt 4,8 von 5 Sternen.
Trotz dieser sehr positiven Resonanz durfte die Barmer das Angebot nicht weiterführen. Der Grund dafür sind fehlende Spielräume im Hilfsmittelverzeichnis für innovative Konzepte, insbesondere für moderne, patientenfreundliche Zugangswege.
Hilfsmittelverzeichnis lässt keinen Raum für innovative Lösungen
Das Hilfsmittelverzeichnis umfasst knapp 33.000 Produkte, die verordnungsfähig sind, also von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Im Verzeichnis ist nicht nur das jeweilige Produkt definiert, sondern auch beschrieben, auf welchem Weg Patientinnen und Patienten ein Hilfsmittel erhalten können. Bisher ist alles auf eine Beratung und Versorgung vor Ort ausgerichtet. Die Möglichkeit, ein bereits gelistetes Produkt auch über einen alternativen, beispielsweise digitalen Weg zu erhalten, ist überhaupt nicht vorgesehen.
Das Verzeichnis wird regelmäßig aktualisiert, dieser Prozess dauert im Durchschnitt eineinhalb Jahre. Allerdings ist das Verfahren auf die Aufnahme neuer oder das Streichen veralteter Produkte ausgelegt, nicht auf Innovationen beim Produktzugang.
Patientenzentrierte Regelungen statt ein Standard für alle
Die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und ihr individueller medizinischer Bedarf müssen bei der Hilfsmittelversorgung in den Vordergrund rücken und das bisherige Prinzip ablösen, das einen Versorgungsstandard für alle vorsieht. Neben Schuheinlagen sind flexible, ortsunabhängige Versorgungslösungen für weitere Hilfsmittelleistungen denkbar, beispielsweise für Bandagen, für Hörgeräte oder für die Folgeversorgung mit konfektionierten Kompressionsstrümpfen. Der aktuelle gesetzliche Rahmen lässt uns hier aber keine Spielräume.
Deshalb brauchen wir rechtliche Rahmenbedingungen, die innovative Versorgungskonzepte ermöglichen und die es Krankenkassen, dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV-SV) und den Leistungserbringenden erlauben, die Hilfsmittelversorgung nach den Bedürfnissen von Patientinnen und Patienten weiterzuentwickeln. Diese Möglichkeiten sollten in § 139 SGB V geschaffen werden. Es braucht Spielräume für alternative Versorgungs- und Zugangswege für bereits im Hilfsmittelverzeichnis enthaltene Produkte und unkomplizierte Möglichkeiten, um innovative Versorgungsformen zu testen und zu evaluieren.
Prof. Dr. Christoph Straub: „Die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und ihr individueller medizinischer Bedarf müssen bei der Hilfsmittelversorgung in den Vordergrund rücken und das bisherige Prinzip ablösen, das einen Versorgungsstandard für alle vorsieht.“
Mehr Vielfalt und individuelle Lösungen in der Hilfsmittelversorgung
Eine digitale Versorgung mit Hilfsmitteln ist sicher nicht für alle Patientinnen und Patienten gleichermaßen geeignet. Manche Menschen bevorzugen den direkten Kontakt. Bei anderen macht der medizinische Bedarf eine persönliche Betreuung vor Ort erforderlich. Diabetikerinnen und Diabetiker brauchen beispielsweise eine andere Beratungsintensität bei Schuheinlagen als dies in der Regel bei Spreiz- oder Hohlfüßen nötig ist.
Leistungserbringende und Krankenkassen haben das gemeinsame Ziel, Patientinnen und Patienten zu stärken und dabei zu unterstützen, gesund zu werden oder mit einer chronischen Erkrankung ihr Leben zu meistern. Für uns ist entscheidend, wie wir die unterschiedlichen Bedürfnisse unserer Versicherten am besten berücksichtigen. Bei Hilfsmitteln ist das in Teilen eine Versorgung vor Ort im persönlichen Gespräch und in Teilen eben eine digitale, ortsunabhängige Versorgung. Wir wollen nicht, dass die Versorgungsstrukturen vor Ort verschwinden. Aber wir wollen Vielfalt und ein gutes Gleichgewicht zwischen ortsgebundenen und ortsunabhängigen Angeboten, um die verschiedenen Interessen von Patientinnen und Patienten individuell zu bedienen.
Prof. Dr. Christoph Straub: „Für uns ist entscheidend, wie wir die unterschiedlichen Bedürfnisse unserer Versicherten am besten berücksichtigen. Bei Hilfsmitteln ist das in Teilen eine Versorgung vor Ort im persönlichen Gespräch und in Teilen eben eine digitale, ortsunabhängige Versorgung.“