- 1.000 Interviews mit Einrichtungen des Gesundheitswesens
- 8 zentrale Erkenntnisse aus der zweiten Befragungswelle
- Die gute Nachricht: Das Thema ist bei vielen auf dem Radar
- Die noch bessere Nachricht: Starke Mehrheit sieht erhebliches Potenzial
- Worauf es jetzt ankommt
- Ausblick: Gemeinsame Agenda, Vernetzung und Kooperation benötigt
Die Studie „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ von Barmer und F.A.Z.-Institut wirft in jährlichen Erhebungen aus der Innenperspektive zentraler Akteure, also von Praxen, Krankenkassen, Kliniken, Apotheken/Sanitätshäusern und der medizinischen und pharmazeutischen Industrie ein Licht auf den wichtigen Transformationsprozess hin zu einem klimaneutralen Gesundheitssektor. Der Barmer Klimaschutzindex zeigt, wo wir stehen und ob die nachhaltige Transformation gelingt.
Das Gesundheitswesen spielte in der öffentlichen Diskussion über Treibhausgase lange Zeit kaum eine Rolle. Das fängt an, sich zu ändern. Und das ist auch erforderlich, denn das Gesundheitswesen trägt einerseits selbst maßgeblich zur Klimabelastung bei und ist andererseits direkt von den gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels betroffen.
„Vor allem nicht schaden“, primum non nocere, lautet ein jahrtausendealtes Grundprinzip verantwortlicher Medizin. Das ist manchmal leichter gesagt als getan: ein Beispiel ist der CO2-Fußabdruck. In Deutschland beträgt der Anteil des Gesundheitswesens an den gesamten Emissionen von Treibhausgasen 5,2% und ist damit größer als der Anteil des Flugverkehrs. Das ist besonders problematisch, weil die Forschung immer klarer die vielfältigen zusätzlichen Gesundheitsrisiken erkennt, die der Klimawandel mit sich bringt.
Mit anderen Worten: Die bisherige Klimabilanz des Gesundheitswesens steht im Widerspruch zur Aufgabe des Gesundheitswesens. Das Ziel muss vor diesem Hintergrund ein klimaneutrales Gesundheitswesen sein. Aber: Erkennen die sehr unterschiedlichen Akteure der Gesundheitswelt die Bedeutung des Klimaschutzes und den eigenen Handlungsbedarf überhaupt schon an? Verstehen sie die Wirkung ihres Handelns und sind sie sich ihrer Möglichkeiten bewusst?
1.000 Interviews mit Einrichtungen des Gesundheitswesens
Aus Sicht der Barmer ist es wichtig, dass wir das möglichst genau wissen, um Klarheit darüber zu haben, wo wir stehen und was passieren muss. Deshalb hat sie gemeinsam mit dem F.A.Z.-Institut die Studienreihe „Klimaneutraler Gesundheitssektor“ aufgesetzt. Im Spätsommer 2022 wurden deshalb erstmals über 500 Akteure aus Praxen, Krankenkassen, Kliniken, Apotheken/Sanitätshäusern und der medizinischen Industrie interviewt. Im Spätsommer 2023 folgte die zweite Erhebungswelle.
8 zentrale Erkenntnisse aus der zweiten Befragungswelle
- Verschlechterung beim Klimaschutzindex: Der Status-Quo wird im Verhältnis zu dem, was kurzfristig notwendig wäre, noch kritischer wahrgenommen als im Vorjahr, weshalb sich der BARMER Klimaschutzindex von 23,5 in 2022 auf 20,2 in 2023 zurückentwickelt hat.
- 2023 gab es gegenüber 2022 auf dem Weg zum Klimaneutralen Gesundheitssektor nur geringe und punktuelle Fortschritte auf Handlungsebene. Das Momentum ist noch nicht in der Breite angekommen.
- Nur 10 % der befragten Gesundheitsakteure sind derzeit zuversichtlich, dass das deutsche Gesundheitswesen bis 2030 klimaneutral sein wird (2022: 11%).
- 45% der Organisationen haben sich bereits mit dem Thema Klimaneutralität beschäftigt, 2022 waren es 46%. Gegenüber 2022 geben fünf Prozentpunkte weniger an, das Thema stehe zumindest auf der Agenda, und 4 Prozentpunkte mehr, die eigene Organisation habe sich mit dem Thema noch nicht beschäftigt.
- Bei den Treibern für einen klimabewussten Geschäftsbetrieb steht nach wie vor die Gesellschaftliche Bedeutung des Themas an erster Stelle, gefolgt von Kostenvorteilen und Gesundheitsförderung/Prävention.
- Der organisations-interne Antrieb ist stark gefallen, demgegenüber sind externe Treiber wie regulatorische Vorgaben, Stakeholder-Erwartungen und Kapitalgeber-Vorgaben deutlich gestiegen.
- Finanzielle und infrastrukturelle Hindernisse sind immer noch die Top 2 in der Hitliste der Widerstände, haben aber im Vergleich zu 2022 deutlich abgenommen. Die eigene Organisationskultur hat als gefühltes Klimafortschrittshindernis gegenüber 2022 am stärksten zugenommen.
- Bei den aktiven Handlungsfeldern ist die Rolle von nachhaltiger Mobilität und Energie weiter gestiegen. Ebenso die Verwendung klimafreundlicher Produkte und bauliche Hitzeschutz- und Energiespar-Maßnahmen. Die Bedeutung klimafreundlicher Einkaufskriterien hingegen ist etwas gefallen.
- Die Verankerung von Klimaschutz in der Organisation ist aus Sicht von 43% eine große Herausforderung und nur bei 18% der Befragten bereits gegeben. 14% erstellen einen Nachhaltigkeitsbericht, 11% kennen ihre CO2-Bilanz.
Die gute Nachricht: Das Thema ist bei vielen auf dem Radar
66% der Befragten aus der medizinischen Industrie bestätigten, dass ihre Organisation sich bereits mit Klimaneutralität beschäftigt hat (2022: 73%). Bei Krankenkassen gab es den größten Sprung: waren es 2022 etwa die Hälfte, sind es in 2023 fast alle (98%). Krankenhäuser, Apotheken und Praxen sind vergleichsweise konstant geblieben mit Werten zwischen 38 und 44%. Das zeigt ganz deutlich: Wir stehen nicht bei null. Aber es gibt noch viel zu tun und die Fortschritte sind bisher sehr ungleich über die Akteure verteilt.
Die noch bessere Nachricht: Starke Mehrheit sieht erhebliches Potenzial
Nach wie vor etwa jeder Vierte (26%) findet, dass der Beitrag des eigenen Hauses zum Klimafortschritt bereits groß oder sehr groß ist. Deutlich mehr, 39%, finden, dass dieser eigene Beitrag noch größer oder noch viel größer sein könnte (2022: 47%). Für das gesamte Gesundheitswesen sehen sogar über 59% noch großes oder sehr großes Potenzial (2022: 57%).
Worauf es jetzt ankommt
Bei den Antrieben für Bemühungen um klimaneutrales Wirtschaften sind die Top five nach wie vor: Gesellschaft, Kostenvorteile, Gesundheitsförderung/Prävention und Mitarbeitenden- und Bewerbererwartungen sowie, von Platz 2 auf Platz 5 abgerutscht, Unternehmenskultur/Führung. Gerade bei Krankenkassen stehen die Arbeitnehmer-Erwartungen stark im Fokus.
Barrieren und Herausforderungen gibt es mehr als genug: Dem Transformationsprozess stehen nach wie vor, wenn auch gegenüber 2022 deutlich gefallen, Kosten und Infrastruktur als häufigste Hindernisse entgegen. Dem folgen fehlende Produkt-Alternativen und rechtliche Rahmenbedingungen. Hoffnung macht, dass die Probleme ungeklärter Zuständigkeiten und fehlenden Know-hows gegenüber 2022 offenkundig leicht abgekommen haben.
Nur 11% der Befragten geben 2023 an, den eigenen CO2-Fußabdruck berechnet zu haben, weitere 20% haben diese Maßnahme in Planung. Umgekehrt empfinden selbst in Organisationen, die sich bereits aktiv mit Klimaneutralität beschäftigen, es 30% als besonders große Herausforderung, Nachhaltigkeitskennzahlen zu entwickeln oder den eigenen CO2-Fußabdruck zu berechnen. Ebenfalls 26% bezeichnen es als besonders große Herausforderung, eine Klimaneutralitätsstrategie zu entwickeln.
So kann es nicht überraschen, dass nach 11% in 2022 in diesem Jahr nur noch 10 % dem deutschen Gesundheitswesen zutrauen, bis 2030 klimaneutral zu sein. Hier zeigt sich deutlich, dass es in den kommenden Jahren darauf ankommt, gezielte konzeptionelle Unterstützung niederschwellig und in der Breite bereitzustellen.
Ausblick: Gemeinsame Agenda, Vernetzung und Kooperation benötigt
„Vor allem nicht schaden“ ist den Menschen im Gesundheitswesen also auch in Sachen Klima wichtig. Der Handlungsbedarf, so zeigt die zweite Erhebungswelle der Studie, wird nach wie vor mehrheitlich anerkannt. Es wird jedoch auch sichtbar, dass die wichtigsten Akteure des Gesundheitswesens aufgrund vieler Hindernisse, fehlenden Know-Hows und unzureichender Vernetzung bisher zu wenige konkrete Maßnahmen umsetzen. Erfreulich und ermutigend ist, dass das Thema in Organisationen, in denen es stattfindet, mehrheitlich auf eine hohe positive Unterstützung (62%) der Mitarbeitenden stößt.
Für die kommenden Jahre sind sowohl Fortschritte bei den gesetzlichen Rahmenbedingungen notwendig als auch geeignete Initiativen und Bündnisse, um den Ball schnell genug ins Rollen zu bringen.
Die Studie von Barmer und F.A.Z.Institut "Klimaneutraler Gesundheitssektor 2023" hier als barrierefreies pdf lesen.
Eine interaktive Online-Darstellung der Ergebnisse finden Sie hier.
Unsere Vorjahresstudie aus 2022 finden Sie hier.