Dr. Ursula Marschall hat lange als Anästhesistin auf einer Intensivstation gearbeitet. Sie weiß, wovon sie spricht, wenn es um Organspende geht. Als Oberärztin hat sie den Hirntod diagnostiziert und Angehörige in schwierigen Situationen unterstützt. Heute ist sie Fachbereichsleiterin am Institut für Gesundheitssystemforschung und leitende Medizinerin der Barmer. Sie ermutigt Menschen, mehr über den Tod zu sprechen.
Frau Dr. Marschall, warum ist Organspende so wichtig? Welche Chance liegt darin, auch für uns als Gesellschaft?
Dr. med. Ursula Marschall: Ich beantworte das immer aus zwei Perspektiven: Aus der medizinischen, denn ich bin Narkose-Ärztin und habe über 15 Jahre in der Klinik gearbeitet. Und ich betrachte es aus einer persönlichen Perspektive. Ich habe in meinem Freundeskreis zwei Menschen, die lange auf ein Spenderorgan gewartet haben. Wir alle sollten wissen, was es bedeutet, drei bis vier Mal in der Woche an der Dialyse zu liegen. Das schränkt die Lebensqualität stark ein.
Daher haben wir alle eine persönliche Aufgabe: Ich muss mich informieren und eine Entscheidung zur Organspende treffen. Das verdrängen wir sehr oft. Und genau da sehe ich auch die gesellschaftliche Aufgabe.
Was sind die typischen Fragen, wenn es um Organspende geht?
Dr. med. Ursula Marschall: Als Oberärztin auf einer Intensivstation gehörte es zu meinen Aufgaben, Angehörige nach einer möglichen Organspende zu fragen. Wenn der Patient zu Lebzeiten keine Entscheidung getroffen hatte, mussten es die Angehörigen für ihn übernehmen.
Da ist als erstes die Frage des Hirntods, der für Angehörige schwer zu verstehen ist. Der Patient auf der Intensivstation sieht aus, als ob er schläft. Aber in Wirklichkeit ist er tot. Hirntod bedeutet, es ist keinerlei eigene Hirnaktivität mehr zu erwarten. Damit können die Angehörigen meistens überhaupt nicht umgehen. Sie kämpfen mit ihrer Trauer, und dann kommt auch noch jemand und sagt: So, ich brauche jetzt eine Entscheidung. Kann ich die Organe entnehmen? Und das überfordert die Angehörigen. Sie sagen: Können Sie mich das nicht morgen früh fragen? Nein, das kann ich nicht, denn ich habe nur ein kurzes Zeitfenster, wo ich diese Organe entnehmen kann, und dafür brauche ich die Entscheidung. Und das ist jetzt.
Alle, die sich nicht mit dem Thema Organspende beschäftigen, wissen gar nicht, was sie ihren Angehörigen antun. Und da sehe ich uns als Krankenkasse in der Pflicht, damit alle für sich eine informierte Entscheidung treffen können. Auch wenn die Entscheidung heißt: Nein, ich möchte meine Organe nicht spenden. Das ist eine Entscheidung, wunderbar.
Ansonsten müssen Fremde – denn das sind wir Ärzte letztlich – in der Zeit höchster Not mit Angehörigen darüber sprechen: Ist das jemand, der sich mit dem Thema schon mal beschäftigt hat? Hatte er Vorbehalte? Hinzu kommt, nicht alle Menschen haben Angehörige. Oder die Angehörigen wohnen weit weg und müssen so ein Gespräch per Telefon führen. Das sind Aspekte, die mir wirklich ans Herz gehen.
Können Sie bitte etwas zum Hirntod erzählen: Wann ist ein Mensch tot und wie lässt sich das sicher erkennen?
Dr. med. Ursula Marschall: Die Hirntod-Diagnostik läuft nach einem strengen Protokoll ab: Ich muss ausschließen, dass noch Narkosemittel im Körper sind. Ich muss zweimal mit mindestens 24 Stunden Abstand ein Langzeit-EKG machen. Ich muss die Hirnströme aufzeichnen. Die Entscheidung, dieser Patient ist hirntot, wird unabhängig von zwei Ärzten getroffen. Das ist medizinisch absolut gesichert, da gibt es kein Wenn und Aber.
Zwei Dinge sind ausschlaggebend: Gibt es noch eine Blutzufuhr ins Gehirn? Und habe ich eine elektrische Funktion im Gehirn, ist da noch irgendeine Nervenzelle lebendig? Das sind die beiden entscheidenden Kriterien um zu beurteilen, ob ein Mensch tot ist oder nicht. Und da gibt es scharfe Abgrenzungen. Wir kennen zum Beispiel das Thema Wachkoma. Niemand würde auf die Idee kommen, jemanden im Wachkoma für hirntot zu erklären.
Das sind aber die rein biologischen Aspekte. Daneben gibt es schon seit Langem eine ethisch-philosophische Diskussion: Was macht mich eigentlich als Mensch aus? Das hat ehrlicherweise nichts mit dem Tod zu tun, sondern mit uns im Leben. Jemand ist dann lebendig, wenn er eigene Entscheidungen treffen kann. Wenn er in der Lage ist, sich selbst und seine Umwelt wahrzunehmen, und wenn im Gehirn als Zentrum unseres Bewusstseins Aktivität ist. Schon der Philosoph Descartes sagte: Ich denke, also bin ich. In dem Augenblick, wo ich nicht mehr denken kann, bin ich nicht mehr. Wenn mein Kopf tot ist, wenn mein Gehirn tot ist, ist auch der Mensch tot.
Was kann den Hirntod auslösen?
Dr. med. Ursula Marschall: Die wenigsten wissen, dass die zentrale Steuerung unserer Atmung im sogenannten Stammhirn sitzt. Das Stammhirn liegt in der Verengung zwischen Gehirn und Rückenmark. Wenn ich nun ein schweres Schädel-Hirn-Trauma habe, also einen Unfall, wo mein Kopf irgendwo gegenprallt, oder eine starke Hirnblutung oder einen schweren Schlaganfall, dann kann das Gehirn anschwellen. Wegen des Schädelknochens kann mein Gehirn nur nach unten schwellen, in Richtung Rückenmark und Wirbelsäule. Das ist die einzige Möglichkeit. Das Problem: In diesem Augenblick wird das Stammhirn mit dem Atem-Zentrum eingequetscht, der Atem-Antrieb erlischt. Wäre mein Patient in dem Augenblick nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen, würde er sterben.
Eine solche Hirn-Schwellung fürchten wir, wenn Motorradfahrer oder Radfahrer Unfälle haben. Dann machen wir in kurzen Abständen CT-Untersuchungen, um die Situation zu beurteilen. Es gibt verschiedene Maßnahmen, damit das Gehirn möglichst nicht schwillt. Doch häufig greifen sie nicht – und das merken wir leider sehr schnell.
Sie sagen, es ist für Angehörige schwierig, mit dem Hirntod umzugehen. Was könnte es aus Ihrer Sicht leichter machen? Was könnten wir verbessern?
Dr. med. Ursula Marschall: Da gibt es ganz viel Angst und Unsicherheit. Die Leute glauben, wenn sie sich mit dem Hirntod beschäftigen, dann sterben sie morgen am Tag. Das ist natürlich nicht so. Für uns ist der Tod auch meistens mit hohem Alter verbunden. Aber ich habe viele Patienten im jüngeren Alter verlieren müssen. Ich bin seit über zehn Jahren aus der Klinik raus, aber ich hatte Patienten, da weiß ich heute noch den Namen, das Geburtsdatum, fast alle Laborwerte, die Diagnose. Versuchen Sie mal, einen 20-jährigen Patienten gehen zu lassen. Das ist nicht nur für die Angehörigen schwer. Das ist auch für mich als Ärztin und für die Pflegenden schwer.
Da habe ich mir manches Mal gewünscht, die Menschen hätten sich einfach mal darüber unterhalten. Wir reden im jungen Alter nicht über den Tod.
Wie könnten wir besser ins Gespräch kommen, auch zu schwierigen Themen wie dem Sterben und der Organspende?
Dr. med. Ursula Marschall: Ich muss mich der Frage nähern: Wie sehe ich meinen eigenen Tod? Habe ich eine Vorstellung davon? Auch Menschen in jüngerem Alter sollten sich das fragen.
Wenn ich mich mit meinem eigenen Tod beschäftigt habe, kommt die nächste Frage: Und wie halte ich es mit der Organspende? Habe ich in meiner Partnerschaft, mit meinen Kindern, meinen Eltern darüber gesprochen? Weiß ich, wie der andere entscheiden würde? Ich muss mich mit dieser Thematik beschäftigen, um meinen Angehörigen diese Entscheidung in einer der schwersten Stunden ihres Lebens zu ersparen. Und das kann ich. Das ist meine persönliche Verantwortung, und das nehmen die allerwenigsten wahr.
Wie läuft eine Organentnahme ab?
Dr. med. Ursula Marschall: Erst wenn die Hirntoddiagnostik abgeschlossen ist und eine Zustimmung vorliegt, können die Vorbereitungen für die Organentnahme anlaufen. Das muss möglichst schnell erfolgen, denn nach dem Hirntod überleben die Organe trotz maschineller Unterstützung nur kurze Zeit. Umfangreiche Informationen und Laborwerte zum Patienten werden an Eurotransplant geschickt. Hier erfolgt die europaweite Organisation und Koordination zur Organspende. Dann erfolgt das Matching der Merkmale des Spenders mit denen des Empfängers. Wenn sich ein geeigneter Empfänger in der Datei befindet, wird der Chirurg, der die Organe einsetzen wird, auch für die Organentnahme alarmiert. Daher werden die OP-Teams oft eingeflogen oder kommen mit dem Rettungswagen. Wenn sie eintreffen, muss alles geregelt sein. Die Angehörigen müssen sich vorher in Ruhe verabschiedet haben. Es muss ein Operationssaal frei sein. Oft finden die Organentnahmen daher nachts statt, weil dann OP-Kapazitäten vorhanden sind.
Der Patient wird bei der Organentnahme behandelt wie bei jeder anderen Operation auch. Als Anästhesistin begleite ich den Spender in den OP und mache eine besondere Narkose. Zu meinen Aufgaben gehört es besonders, den Blutdruck und die Organfunktionen während der Organentnahme stabil zu halten. Nach der Entnahme gibt es einen Zeitpunkt, wo ein Medikament gespritzt wird, damit das Herz aufhört zu schlagen, sofern es nicht vorher entnommen wurde. Das ist ein ganz besonderer Moment, auch für uns als Ärzte. Sonst hören wir ja immer das Piepen des EKG-Monitors, der den Herzschlag akustisch angibt. Und dann hört dieses Signal auf. Da ist es totenstill im OP, im wahrsten Sinne des Wortes. Da halten wir alle inne – das gesamte Team.
Nach der Entnahme wird mit aller Sorgfalt die OP-Wunde vernäht. Die Angehörigen haben anschließend die Möglichkeit, die Person noch einmal zu sehen. Nicht alle möchten das. Dann kann der Patient ganz normal beerdigt werden.
Wie ist die Situation von Menschen, die auf ein Spenderorgan warten?
Dr. med. Ursula Marschall: Das Leben von Menschen, die auf Dialyse angewiesen sind, ist massiv beeinträchtigt. Essen, Trinken, Freizeitgestaltung, Beruf. Als Dialysepatient kann ich nicht jeden Tag acht Stunden arbeiten. Ich kann nicht mal eben spontan in Urlaub fahren, mich mit Freunden verabreden und ein Glas Wein zusätzlich trinken. Ich muss immer damit rechnen, dass es Probleme gibt.
Und dann sitze ich bei der Dialyse und warte. Ich warte und warte und warte. Und das ist nicht so, dass ich dann dasitze und Fernsehen gucke. Oder nebenbei arbeite. So einfach ist das nicht. Nach der Dialyse bin erst mal fix und fertig und muss aufs Sofa. Muss weiterschlafen. Wie ist das für eine Familie, für eine Partnerschaft? Von wegen, ich mache jetzt mal eben den Haushalt oder ich kümmere ich mich um die Kinder. Nein, geht nicht.
Wenn dann so eine Nachricht kommt, da ist jetzt ein Spenderorgan, dann bekommen die Patienten dadurch so viel persönliche Freiheit geschenkt, da macht sich niemand ein Bild von.
Wenn Sie in die Zukunft schauen und an Organspende denken, was wünschen Sie sich?
Dr. med. Ursula Marschall: Nicht jede Organ-Funktion kann man im Augenblick technisch überbrücken. Das gilt zum Beispiel für Leberstörungen oder die Funktion der Bauchspeicheldrüse. Ich wünsche mir, dass wir technisch weitere Fortschritte machen. Wenn wir mehr über unser Immunsystem wissen, über unsere Organ-Funktionen, können wir auch entsprechende Geräte bauen.
Aber das wirklich Entscheidende ist, dass wir die Menschen anregen, über ihr eigenes Leben und auch über ihren Tod nachzudenken. Das wünsche ich mir für die Zukunft noch viel, viel, mehr als heute.
Und hier sehe ich unsere Aufgabe als Krankenkasse, die Bedeutung dieses Themas immer wieder aufzuzeigen: Das geht mich persönlich an, das kann jederzeit wichtig werden. Meistens wollen wir nicht, dass andere für uns entscheiden. Nur bei so etwas Wichtigem wie der Organspende kümmern wir uns nicht ausreichend darum.