Rita Schmutzler ist eine Pionierin der Krebsprävention. Als sie in die Forschung ging, mussten Frauen, die dort Karriere machen wollten, deutlich auf sich aufmerksam machen. Heute kämpft die renommierte Wissenschaftlerin für eine Gruppe Brustkrebspatienten, die zu wenig Beachtung finden: Männer.
Brustkrebs gilt als Frauenkrankheit. Doch in Deutschland erkranken jährlich auch etwa 750 Männer daran. Sie machen ungefähr ein Prozent aller Brustkrebsfälle aus. In der Forschung hatte die männliche Variante des Mammakarzinoms deshalb nur wenig Bedeutung.
Mit Professor Dr. Rita Schmutzler haben die Betroffenen jedoch eine starke wissenschaftliche Stimme, die sich für sie einsetzt: „Die Männer sind derzeit bezüglich des Angebots einer genetischen Untersuchung und risikoangepasster Vorsorgemaßnahmen extrem benachteiligt“, sagt die Direktorin des Zentrums Familiärer Brust- und Eierstockkrebs an der Uniklinik Köln. „Wir müssen wirklich etwas für sie tun.“
Rita Schmutzler ist eine Pionierin der Krebsprävention, eine international renommierte Wissenschaftlerin. Sie hat mehrere für den erblichen Brustkrebs relevante Risikogene identifiziert. Das von ihr entwickelte Versorgungskonzept, das in vielen deutschen Kliniken angewandt wird, wirkt in vielen Fällen dem Krebs entgegen, bevor dieser zu einer lebensbedrohlichen Erkrankung werden kann.
Für ihre Arbeit hat Schmutzler etliche Preise gewonnen. Ihr Forschungsgebiet sind die sogenannten BRCA-Gene, vom Englischen breast cancer genes, also Brustkrebsgene. Die bekanntesten dieser Gene heißen BRCA1 und BRCA2R. Ihre Aufgabe ist es eigentlich, Krebs zu verhindern: Sie produzieren Eiweiße, welche die Zellen brauchen, um Schäden zu reparieren. Sind diese Gene verändert, also mutiert, funktioniert dieser Reparaturmechanismus nicht mehr richtig.
Das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, steigt dadurch erheblich. Und diese Mutation ist erblich. Sie wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an die Kinder weitergegeben – egal ob diese männlich oder weiblich sind.
Für Menschen aus solchen Risikofamilien kann es lebenswichtig sein zu wissen, ob sie die Mutation geerbt haben und welche präventiven Maßnahmen ihnen offen stehen. Rita Schmutzlers Einsatz ist es zu verdanken, dass betroffene Frauen seit 2008 im Rahmen von spezialisierten Verträgen mit den gesetzlichen Krankenversicherung Beratung, Gendiagnostik und Früherkennung in Anspruch nehmen können.
Männer aus Risikofamilien haben diese Möglichkeit jedoch nicht. „Es gibt bislang keine Prostatakrebs-Früherkennungsprogramme für Männer mit einem erhöhten Risiko“, sagt Schmutzler. Dies sei ein echtes Problem. Denn während bei Frauen eine erbliche Mutation auch Eierstockkrebs wahrscheinlicher macht, begünstigt diese bei Männern neben Brust- auch den sehr viel häufigeren Prostatakrebs.
Dessen Erforschung stünde noch am Anfang. „Zwei Jahrzehnte lang haben wir uns auf den Brustkrebs und den Darmkrebs fokussiert. Wir kennen für beide Krebserkrankungen die wichtigsten Risikogene. Beim Prostatakarzinom wissen wir darüber noch so gut wie nichts.“
Genetik aus Leidenschaft
Eine Gynäkologin, die sich für die Erforschung von Männerkrankheiten einsetzt – das erscheint widersprüchlich. Schuld sind die Gene. Zwar entschied sich Rita Schmutzler nach dem Studium für die Gynäkologie: „Sie beinhaltet die schönen und auch die schweren Seiten des Lebens. Krebserkrankungen auf der einen, Geburten, neues Leben auf der anderen Seite.“ Aber es waren die Bausteine des Lebens, der genetische Code, der sie faszinierte.
So sehr, dass sie sich die Grundlagen der Genetik selbst erarbeitete. „Während meines Studiums war das nur ein kleiner Teil der medizinischen Ausbildung ohne klare klinische Anwendungsmöglichkeit. Ich habe die Entwicklungen anfangs eher hobbymäßig verfolgt.“ Ein Stipendium ermöglichte der jungen Gynäkologin, ihre Kenntnisse in den Vereinigten Staaten zu vertiefen. Die USA seien für die Forschung damals „the place to be“ gewesen, sagt Schmutzler.
Seit den Achtzigern suchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dort nach Vererbungsmustern für bestimmte Krebserkrankungen. Mit – im Vergleich zu heute – rudimentären Methoden. „Man hat damals das genetische Material hunderter von Krebs betroffener Familien verglichen, um die Gemeinsamkeiten herauszufiltern“, so die Wissenschaftlerin.
Diese Kopplungsanalyse war zu großem Teil Statistik und Handarbeit. „Schon in den Achtzigern entdeckte man damit viele relevante Gene.“
Wegweisend war in den USA aber nicht nur die Forschung. Auch der gleichberechtigte, offene Umgang in den Forschungsstätten beeindruckte Schmutzler. „Viel freier, viel unkomplizierter. Ich wäre damals fast geblieben.“
Doch ihr Stipendium endete. Die Rückkehr nach Bonn: ein Kulturschock. Schmutzler empfand ihr Arbeitsumfeld als starr und unflexibel. „Es gab nicht die offene Diskussionskultur, wie wir sie heute haben.“ Noch einmal verließ sie Deutschland, widmete sich an der Mount Sinai Medical School in New York den Mutationen, die zum Ausbruch von Krebs beitragen.
Denn auch, wenn man dies damals noch nicht belegen konnte: Krebs, ob erblich oder nicht, ist immer eine Krankheit der Gene. Und deren Erforschung boomte.
Ende der Achtzigerjahre beschlossen die USA und Japan, erstmals das menschliche Genom zu entschlüsseln. Nicht nur die Zeit, auch die zur Verfügung stehende Technik schien reif dafür. Die Umsetzung begann 1990: Innerhalb von 15 Jahren, so die Zielsetzung des staatlichen internationalen Humangenomprojekts, sollte die Abfolge der über drei Milliarden Basenpaare der menschlichen DNA ermittelt werden.
„Zweifellos ist dies die wichtigste und wundersamste Karte, welche die Menschheit je hervorgebracht hat“ , erklärte der ehemalige Präsident Bill Clinton damals in einer Rede. Die neuen Technologien befeuerten auch die Jagd nach Genen, die mit Krebserkrankungen in Verbindung stehen. Es war die Berkeley-Genetikerin Mary-Claire King, die mit ihrem Team als Erste das Risikogen BRCA1 identifizierte. 1990 veröffentlichte sie in einem wissenschaftlichen Papier den ersehnten Beweis: Es gibt eine erbliche Veränderung, eine Mutation, die Brustkrebs begünstigt – und sie ist für rund zehn Prozent aller Erkrankungen verantwortlich.
„Viele Erkrankte, die bei uns in der Klinik waren, hatten diese familiäre Belastung. Aber bis zu dieser Entdeckung hatte niemand nach Auffälligkeiten in der Familie gefragt“, sagt Rita Schmutzler.
Neustart in Deutschland
Zurück in Deutschland verfolgte Rita Schmutzler ihre Facharztausbildung. Diese ließ ihr jedoch nur wenig Zeit um zu forschen. „Das war nur außerhalb der Arbeitszeit möglich“, erinnert sie sich.
In einem beengten Labor an der Universität Bonn suchte Rita Schmutzler mit zwei Mitarbeiterinnen nach Risikogenen. Sie rekrutierte Familien, in denen sich Fälle von Brust- oder Eierstockkrebs häuften. Mit einer kleinen Sequenzierungsmaschine fahndeten die Frauen nach Auffälligkeiten in der DNA, verglichen die Ergebnisse mühsam von Hand.
Manchmal habe eine von ihnen aufgeregt gerufen: „Ich habe eine Mutation gefunden!“ Einige ihrer damaligen Kollegen zeigten sich jedoch skeptisch. „Viele sagten: Die Fälle, die Sie suchen, gibt es gar nicht.“ Rita Schmutzler ließ sich jedoch nicht abbringen – obwohl sie wusste, dass ihr für die ganz große Entdeckung die Mittel und technischen Möglichkeiten fehlten.
Fast dreißig Jahre später ist die Sequenzierung zu einem Standardverfahren geworden. Die erste komplette Kartierung des menschlichen Erbguts dauerte trotz internationaler Zusammenarbeit noch 13 Jahre und kostete eine Milliarde Dollar.
Heute liegen die Kosten bei etwa 1000 Dollar . „Die genetische Analyse erledigen wir in zwei bis drei Wochen“, sagt Rita Schmutzler. Die Daten- und Biobank des von ihr Mitte der Neunziger aufgebauten Zentrums Familiärer Brust- und Eierstockkrebs ist mittlerweile eine der größten weltweit. Mit Hilfe der Daten und in enger Kooperation mit internationalen Forscherteams identifizierte Schmutzler in den vergangenen Jahren mehrere neue genetische Risikofaktoren für den erblichen Brust- und Eierstockkrebs.
Verglichen mit BRCA1 und BRCA2R erhöhen diese Variationen das Risiko einer Erkrankung nur moderat, erlauben aber eine viel präzisere Einschätzung: Normalerweise liegt die Wahrscheinlichkeit für eine Frau, im Lauf ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken, bei durchschnittlich zehn Prozent. Anhand der neuentdeckten genetischen Varianten lässt sich dieses Risiko nun eingrenzen: bei einer Frau sinkt es vielleicht auf vier Prozent, bei einer anderen steigt es auf 20.
Behandelnde Ärztinnen und Ärzte können anhand dieser Informationen effizienter entscheiden, ob zum Beispiel eine Mammografie angebracht ist. Denn diese hilft zwar dabei, Brustkrebs früh aufzudecken. Die dabei verabreichte Strahlung kann Krebs jedoch auch erst verursachen.
Fortschritte im Kampf gegen den Krebs
Um deutschlandweit eine einheitliche Versorgung zu gewährleisten, gründete Rita Schmutzler 1995 mit anderen Expertinnen und Experten das Deutsche Konsortium Familiärer Brust- und Eierstockkrebs.
Seit 2004 ist sie dessen Koordinatorin. Heute umfasst das Konsortium 23 universitäre Zentren, die betroffene Familien nach gemeinsamen Standards beraten. Inzwischen gibt es regionale Kooperationen dieser Zentren mit zertifizierten Brunst- und gynäkologischen Krebszentren vor Ort, so dass sich das neueste medizinische Wissen auch in der Fläche ausbreiten kann. Wie die genetische Untersuchung hat auch die Therapie erhebliche Fortschritte gemacht. 2018 läutete eine neue Ära in der Krebsmedizin ein.
James Allison und Tasuku Honjo erhielten den Nobelpreis für Medizin für einen Therapieansatz, der das Immunsystem gegen Krebszellen mobilisiert. Sogenannte Inhibitoren, also Hemmstoffe, attackieren den Krebs nicht direkt. Stattdessen greifen sie in die Abwehrmechanismen des Körpers ein und ermöglichen es diesem dadurch, den Krebs selbst zu bekämpfen . So auch die PARP-Inhibitoren, an deren Erprobung Rita Schmutzler in den Neunzigern beteiligt war.
Diese Hemmstoffe hindern Eierstock-Krebszellen daran, Schäden in ihrem Zellkern zu reparieren, was letztlich zum Tod der entarteten Zelle führt. Die Pharmaindustrie habe erst kein Interesse gezeigt, diese Inhibitoren weiterzuentwickeln, sagt die Krebsforscherin. Der Markt dafür erschien den Unternehmen zu klein. In einem offenen Brief protestierten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen dagegen. Heute sind PARP-Inhibitoren fester Bestandteil der Therapie. „In Zukunft können wir damit vielleicht sogar Brustkrebs verhindern“, so Schmutzler.
Eine Hoffnung auch für betroffene Männer. Etwa 750 erkranken in Deutschland pro Jahr, meist in fortgeschrittenem Lebensalter. Ertasten sie eine Veränderung im Brustgewebe, denken Betroffene erstmal nicht an Brustkrebs.
Sie gehen deshalb meist erst relativ spät zur Untersuchung, was ihre Heilungschancen verschlechtert. Ein gesetzliches Früherkennungsprogramm wie das Mammographie-Screening, bei dem die Brustdrüse geröntgt wird, gibt es für sie nicht. Eine allgemeine Brustkrebs-Früherkennung, wie sie für Frauen angeboten wird, hält Rita Schmutzler für Männer aus der Allgemeinbevölkerung auch nicht für nötig – dafür sei das männliche Mammakarzinom zu selten.
Da eine Mutation bei BRCA1 und BRCA2 aber auch Prostatakrebs begünstigt, plädiert die Wissenschaftlerin dafür, auch die Männer aus Risikofamilien zukünftig darauf zu testen. „Wir haben nur dann die Möglichkeiten, jene herauszufischen, die ein höheres Risiko haben. Kennt man es, kann man ganz anders präventiv damit umgehen.“
Wie erfolgreich gezielte Präventionsmaßnahmen sein können, zeigt „Familie 1“, wie Schmutzler diese nennt. Es war die erste von Hunderten, deren Gene die Krebsforscherin vor über zwanzig Jahren in ihrem kleinen Labor in Bonn untersuchte. Mittlerweile betreut sie die Familienmitglieder in dritter Generation. „Wir sind für sie fast wie Hausärzte“, sagt die Wissenschaftlerin nicht ohne Stolz. „In der jetzigen Generation ist niemand mehr erkrankt, niemand mehr verstorben. Das ist schon sensationell.“