Porträtfoto Caroline Quartucci
Experteninterview Klima und Gesundheit

„Bio-Produkte allein machen noch keine nachhaltige Apotheke“

Lesedauer unter 10 Minuten

Autor / Interview führte

  • Sophie Gericke (Internetredaktion der BARMER)

Zur Person

  • Esther Luhmann ist pharmazeutisch-technische Assistentin und Apothekerin und engagiert sich für Nachhaltigkeit in der Apothekenbranche

Mit ihrer Expertise als pharmazeutisch-technische Assistentin und Apothekerin engagiert sich Esther Luhmann leidenschaftlich für mehr Nachhaltigkeit in der Apothekenbranche. Als Vorstandsreferentin im Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (VdPP) sowie Mitbegründerin von Pharmacists for Future nimmt sie eine Schlüsselrolle in dieser Bewegung ein. Im Interview gibt sie Einblicke, wie Apotheken effektiv zum Umweltschutz beitragen können.

Die Anfänge: Wie es zum Kampf für nachhaltige Apotheken kam

Frau Luhmann, was treibt Sie an, sich für Nachhaltigkeit stark zu machen?

Esther Luhmann: Mein Weg zur Nachhaltigkeit begann mit kleinen Veränderungen im privaten Bereich, wie Energiesparen, Plastik reduzieren und meine Mobilität überdenken. Dabei wurde mir klar, dass auch mein berufliches Umfeld zum Umweltschutz beitragen sollte. Also habe ich mich reingelesen, recherchiert und schließlich einen ersten Artikel zu diesem Thema verfasst. 

Ein Apotheker mit einer älteren Kundin

Daraus ergab sich die Chance, am Buch „Die nachhaltige Apotheke“ mitzuwirken, das 2021 erschien und praktische Tipps für Apotheken bereithält. Gleichzeitig hat sich bei uns im Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten die Klimabewegung Pharmacists for Future gebildet, die ich seitdem mitgestalte und unterstütze. Wir wollen die Pharmazie, besonders die Apotheken, nachhaltiger gestalten – und das alles ehrenamtlich. 

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Sie sprechen von nachhaltigen Apotheken, wie definieren Sie diese?

Esther Luhmann: Bei der Bezeichnung „nachhaltige Apotheke“ gibt es leider keine offiziellen Zertifikate oder Siegel, mit denen Apotheken ihre Nachhaltigkeitsbemühungen nach außen hin belegen können. Dass der Begriff rechtlich nicht geschützt ist, macht es für Kundinnen und Kunden umso schwieriger, die tatsächliche Nachhaltigkeit einer Apotheke einzuschätzen. Ein paar Bio-Produkte im Regal sind zwar ein guter Anfang, aber allein kein Beleg dafür, dass eine Apotheke insgesamt nachhaltig handelt. In Sachen Transparenz ist also noch Luft nach oben.

Eine Frau kauft etwas in der Apotheke

Außerdem ist es wichtig, den Unterschied zwischen Nachhaltigkeit und Klimaneutralität zu berücksichtigen. Klar, es klingt toll, wenn Apotheken mit ihrer Klimaneutralität werben, aber das ist nur ein Teil des großen Ganzen. Der Begriff der Nachhaltigkeit umfasst eine viel breitere Perspektive, die die ökologischen, ökonomischen und sozialen Dimensionen einschließt. Eine nachhaltige Apotheke zu sein, bedeutet also, diesen umfassenden Ansatz zu verfolgen, der über die Klimaneutralität hinausgeht.

Nachhaltige Apotheken als Multiplikatoren in der Aufklärung zu Klima und Gesundheit

Inwiefern sind Apotheken beim Klimawandel besonders gefordert?

Esther Luhmann: Die spürbaren Auswirkungen des Klimawandels wie Hitzewellen, Dürren und Flutkatastrophen verleihen Apotheken eine doppelte Verantwortung. Es geht nicht nur darum, ihren eigenen CO2-Fußabdruck zu reduzieren, sondern auch darum, ihren positiven Einfluss, den sogenannten Handabdruck, zu verstärken. Denn mit täglichem Kontakt zu Millionen von Patientinnen und Patienten und einem hohen Vertrauensvorsprung bieten Apotheken eine ideale Plattform für Aufklärungsarbeit, sei es durch Beratung, Informationsmaterialien oder kreative Aktionen. 

Ein Beispiel aus Valencia zeigt, wie es geht: Dort verteilte man Fächer mit Tipps zum Schutz vor Hitze und wichtigen Informationen zum richtigen Umgang mit Medikamenten an heißen Tagen.

Wie können Apotheken noch auf den Klimawandel reagieren?

Esther Luhmann: Die Antwort auf diese Frage ist vermutlich so vielfältig wie die Apotheken selbst. Doch eines gilt für alle: Die Basis jeder erfolgreichen Veränderung ist ein engagiertes Team, das sich geschlossen für mehr Nachhaltigkeit einsetzt.

Ein weiterer Hebel könnte die Anpassung des Produktangebots sein, etwa durch die Aufnahme von Naturkosmetik anstelle von Produkten mit umweltschädlichen Stoffen wie Paraffinen und Silikonen. 

Unsere Erfahrung zeigt, dass Kundinnen und Kunden durchaus bereit sind, einen höheren Preis für umweltfreundliche Alternativen zu zahlen. Außerdem kann der Einsatz von energieeffizienter Beleuchtung trotz anfänglicher Investitionskosten mittel- bis langfristig zu Einsparungen bei den Energiekosten und zu einer Senkung der CO2-Emissionen führen. Ein klarer Gewinn für Umwelt und Apotheke. 

All diese Maßnahmen erhöhen aber nicht nur die Attraktivität der Apotheke für umweltbewusste Kundinnen und Kunden, sondern machen sie auch zu einem begehrten Arbeitsplatz für die junge Generation. Angesichts des Fachkräftemangels ist das ein nicht zu unterschätzender Vorteil.

Die Klimakrise betrifft auch unsere psychische Gesundheit. Wie es dazu kommt und wie wir uns bestmöglich gegen Klimastress wappnen können, beschreibt Prof. Mazda Adli im Interview.

Und was ist der wichtigste Hebel, um Nachhaltigkeit in Apotheken voranzutreiben? 

Esther Luhmann: Um große Schritte in Richtung Nachhaltigkeit zu unternehmen, sollten Apotheken zunächst eine gründliche Analyse durchführen und ihre Emissionsquellen identifizieren. Auf dieser Basis lassen sich dann maßgeschneiderte Strategien entwickeln. 

In einer städtischen Apotheke könnte beispielsweise der Energieverbrauch durch die Beleuchtung im Fokus stehen, während in einer Apotheke auf dem Land die Botendienste und die Anfahrtswege der Mitarbeitenden eine größere Rolle spielen. Dort würde sich der Umstieg auf Fahrräder oder die Organisation von Fahrgemeinschaften lohnen. 

Es geht also darum, für jede Apotheke individuell die effektivsten Hebel zu finden und zu nutzen.

Welche Faktoren können die Umsetzung von Nachhaltigkeit ausbremsen?

Esther Luhmann: Umweltschutzmaßnahmen in Apotheken können auf verschiedene Herausforderungen stoßen. Ein grundlegendes Interesse und Verständnis für die Thematik sind jedoch essenziell, um die verschiedenen Maßnahmen voranzutreiben. 

Die meisten Schwierigkeiten beginnen dort, wo die Tragweite des Klimawandels und seine Folgen nicht vollständig verstanden werden. Es ist also wichtig, sich kontinuierlich zu informieren und weiterzubilden, auch wenn dieser Prozess Zeit und den Zugang zu entsprechenden Bildungsressourcen voraussetzt. 

Weitere Herausforderungen können gesetzliche Vorgaben, politische Willensstärke und profitorientierte Interessen sein.

Person mit Smartphone beim Bezahlen von Medikamenten

Nachhaltige Verpackungen und Produktkreisläufe in der Apotheke: hohe Anforderungen

Geht es um Nachhaltigkeit, geht es früher oder später auch um das Thema Verpackungen. Welche Möglichkeiten gibt es, diese nachhaltiger zu gestalten?

Esther Luhmann: Bei Arzneimittelverpackungen stoßen wir schnell auf gesetzliche Vorgaben, die vorrangig die Sicherheit und Hygiene der Produkte sicherstellen sollen. Verpackungen haben nämlich nicht nur die Aufgabe, die Arzneimittel vor Umwelteinflüssen zu schützen, sondern auch die Umwelt vor potenziellen Schadstoffen aus den Arzneimitteln. Dies limitiert die Möglichkeiten für grundlegende Veränderungen an den Verpackungen. 

Dennoch gäbe es die Option, Verpackungen hinsichtlich ihrer Recyclingfähigkeit zu verbessern, zum Beispiel durch weniger Materialmischungen und mehr recycelbares Papier. Der Fokus der Pharmaindustrie liegt aber leider eher auf einem ansprechenden Design sowie der Kostenreduzierung und weniger auf nachhaltigen Lösungen.

Führt nicht oft eher das Arzneimittel selbst zu Umweltbelastungen?

Esther Luhmann: Der Lebensweg eines Arzneimittels ist komplex und fängt schon bei der Forschung und Entwicklung an. Hier werden nicht nur immense Mengen an Ressourcen verbraucht, sondern auch viel Energie benötigt. 

Ein besonders kritischer Aspekt dabei ist die Produktion, die häufig in Ländern wie Asien stattfindet, wo die Standards für den Arbeits- und Umweltschutz niedriger sind als in Europa. Dies wirft nicht nur Fragen nach der sozialen Verantwortung auf, sondern unterstreicht auch die Bedeutung der Standortwahl im Hinblick auf die Nachhaltigkeit. 

Verfolgen wir den Weg des Arzneimittels weiter von der Apotheke bis zu den Patientinnen und Patienten, erreichen wir einen weiteren kritischen Punkt: die Arzneimittel-Einnahme. Denn nach der Einnahme wird oftmals ein erheblicher Teil der Wirkstoffe unverarbeitet über den Urin wieder ausgeschieden. Und hier stoßen wir auf ein Problem: Kläranlagen sind oft nicht in der Lage, alle pharmazeutischen Rückstände effektiv aus dem Wasser zu filtern. Die Folgen sind weitreichende negative Effekte für die Natur und ihre Bewohnerinnen und Bewohner.

Wertvolles Praxiswissen: Klimafreundlich Essen ohne Verzicht

Gibt es Umweltrichtlinien, die die Produktion von Arzneimitteln regulieren?

Esther Luhmann: Tatsächlich existieren umfassende Richtlinien, auch bekannt als die Good Manufacturing Practice (GMP), die darauf abzielen, Arzneimittel in höchster Qualität und Sicherheit herzustellen. Allerdings fokussieren sich diese Richtlinien primär auf den Herstellungsprozess und die Produktqualität. 

Die umweltrelevanten Auswirkungen der Produktion fallen hingegen unter die Umweltstandards des jeweiligen Produktionslandes. Dies führt zu fortlaufenden Debatten über eine mögliche Rückverlagerung der Arzneimittelproduktion nach Europa, um strengere Umwelt- und Sozialstandards zu erfüllen. 

Allerdings könnte ein solcher Schritt die Produktionskosten deutlich steigern, was wiederum die Arzneimittelpreise für Krankenkassen und Versicherte erhöhen würde.

Und welche Bemühungen zielen aktuell darauf ab, umweltfreundliche Arzneimittelalternativen zu fördern?

Esther Luhmann: Auch wenn uns bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln aufgrund der ärztlichen Verordnung die Hände gebunden sind, können wir immer unsere Rolle als Multiplikator wahrnehmen und die Wichtigkeit präventiver Maßnahmen betonen. Denn wer gesund lebt, braucht auf Dauer weniger Arzneimittel – eine klassische Win-Win-Situation für Mensch und Umwelt. 

Im Bereich der Selbstmedikation und Kosmetik haben Apotheken einen größeren Spielraum und können eigenständig auf umweltfreundlichere Produkte umsteigen. 

In eine offene Hand werden Tabletten gekippt.

Aber nicht nur das Medikament selbst ist entscheidend. Auch die Werbung trägt indirekt zur Umweltbelastung bei, indem sie oft unrealistische Erwartungen an die Wirksamkeit der Produkte schürt und zu unnötigen Käufen anregt. Hier liegt es an uns Apothekerinnen und Apothekern, durch qualifizierte Beratung den Einfluss der Werbung zu mindern und der Tendenz zur Übermedikalisierung entgegenzuwirken. 

Und weil das noch nicht genug ist, setzen sich die Pharmacists for Future und der Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten dafür ein, das bestehende Werbeverbot auf Arzneimittel zur Selbstmedikation auszuweiten. Bislang gilt dieses nämlich nur für verschreibungspflichtige Arzneimittel.

Apropos Beratung: Wie werden Sie speziell für das Thema Nachhaltigkeit und Umweltschutz geschult?

Esther Luhmann: Da wir immer häufiger mit Fragen zum Klimawandel konfrontiert werden, insbesondere zum Thema Hitze, wäre es nur logisch, dass diese Aspekte in der Aus- und Weiterbildung berücksichtigt werden. Doch trotz einiger Fortschritte, wie die von den Pharmacists for Future initiierten Workshops, bleibt das Angebot leider begrenzt und die Nachfrage immer noch verhalten. 

Die Herausforderung besteht also darin, Nachhaltigkeit und Umweltschutz fest in die Lehrpläne zu integrieren. Internationale Angebote wie die Sustainable Pharmacy Summer School an den Universitäten Freiburg und Kiel zeigen uns aber auch, dass bereits ein Umdenken stattfindet. 

Vielfältiges Apotheken-Thema: Hitze

Das Thema Hitze kam nun schon öfter auf. Wie gehen Apotheken damit um?

Esther Luhmann: Dass uns Hitze gefährlich werden kann, ist mittlerweile allgemein bekannt. Und trotzdem führen uns die steigenden Zahlen von Hitzetoten den dringenden Bedarf an Aufklärung und Prävention vor Augen. 

Das bringt mich erneut zur Bedeutung des Vertrauens in die Apotheken und ihre entscheidende Beratungsrolle, vor allem für vulnerable Gruppen wie alleinstehende ältere Menschen, die besonders unter der Hitze leiden. 

Es geht darum, Aufklärungsarbeit zu leisten: Wie beeinflusst Hitze die Wirksamkeit von Medikamenten? Wie sollten diese gelagert werden? Und wie kann man sich am besten vor Hitze schützen? Solche lebenswichtigen Informationen müssen fester Bestandteil der täglichen Beratung in Apotheken sein.

Und wie schützt man Arzneimittel richtig vor Hitze?

Esther Luhmann: Die Lagerung von Arzneimitteln in Apotheken folgt präzisen Vorgaben, die in der Apothekenbetriebsordnung festgelegt sind. Diese besagt, dass die Raumtemperatur in Apotheken 25 Grad nicht übersteigen darf, da die Wirksamkeit und Sicherheit der Arzneimittel nur bis zu dieser Temperaturgrenze von den Herstellern garantiert wird. 

Das bedeutet aber auch, dass wir in den Sommermonaten vermehrt auf Klimaanlagen zurückgreifen müssen, was wiederum Mehrkosten und zusätzliche CO2-Emissionen verursacht. 

Hier offenbart sich ein grundsätzliches Dilemma: Einerseits soll das Gesundheitswesen mit Apotheken, Krankenhäusern und Co. unsere Gesundheit fördern, andererseits trägt es massiv zum Klimawandel und damit zu den Negativfolgen für unsere Gesundheit bei. 

Zu Hause stoßen wir auf ähnliche Herausforderungen wie in Apotheken. Ein guter Startpunkt für die richtige Lagerung sind deshalb die Hinweise auf den Verpackungen. Daraus leitet sich eine einfache Regel ab: Bewahren Sie Arzneimittel immer am kühlsten Ort der Wohnung und geschützt vor direkter Sonneneinstrahlung auf. Ignoriert man diese Vorgaben und setzt das Arzneimittel über längere Zeit hohen Temperaturen aus, besteht das Risiko, dass es seine Wirkung verändert oder vollständig verliert.

Woran erkennt man, dass ein Arzneimittel nicht mehr gut ist? 

Esther Luhmann: Arzneimittel reagieren sehr unterschiedlich auf äußere Einflüsse wie Feuchtigkeit, Hitze, Frost und Licht. Oft sind Veränderungen, die die Wirksamkeit beeinträchtigen könnten, äußerlich gar nicht sichtbar. Deshalb rate ich dazu, zu Hause nur die Arzneimittel zu lagern, die unmittelbar benötigt werden. Das verhindert nicht nur Lagerungsfehler, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, sie ungenutzt entsorgen zu müssen. 

Das waren schon viele nützliche Tipps, aber vielleicht haben Sie noch einen abschließenden Gedanken oder Ratschlag, den Sie mit uns teilen möchten?

Esther Luhmann: Seien Sie kritisch, lassen Sie sich nicht von glänzenden Werbeversprechen blenden und fordern Sie Nachhaltigkeit in Apotheken und im Gesundheitssektor ein. Je mehr von Ihnen nach nachhaltigen Optionen fragen, desto mehr wird sich der Sektor bewegen. Zeigen Sie Interesse an den ökologischen und sozialen Auswirkungen Ihrer Gesundheitsentscheidungen und nehmen Sie den Klimawandel und seine Folgen für unsere Gesundheit ernst. Denn nur so können wir den Weg in eine nachhaltigere und gesündere Zukunft beschreiten.

Vielen Dank für das Gespräch!