Bei der Pflege von Angehörigen stoßen viele an ihre Grenzen. Aus Überforderung und Hilflosigkeit entsteht häufig Wut und manchmal sogar Gewalt, die übrigens nicht erst bei Schlägen beginnt. Juliane Diekmann, Pflegeexpertin bei der Barmer, kennt nicht nur die Ursachen für solche Eskalationsspiralen, sondern auch Möglichkeiten, diese zu durchbrechen.
Ein Pflegefall in der eigenen Familie trifft die Angehörigen meist relativ unvorbereitet, so dass diejenigen, die zu Hause einen Angehörigen pflegen, oftmals von jetzt auf gleich großen Belastungen ausgesetzt sind. Diese Aufgabe ist nicht nur anspruchsvoll, sondern auch zeitaufwändig und kann zum Teil stark an den eigenen Kräften zehren. Hinzu kommt, dass man sich mit ungewohnten Aufgaben wie der Verwaltung der pflegerischen Situation auseinandersetzen muss. Zum Beispiel müssen Anträge gestellt, Ärzte, Sanitätshäuser, Pflegedienste und Kassen kontaktiert, Rezepte besorgt werden. Und natürlich muss man auch die finanzielle Situation im Auge behalten. Persönlich erlebt man diese Zeit oftmals auch als eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Da ist es nicht verwunderlich, dass man sich chronisch müde und manchmal auch hilflos fühlt. In dieser Gemengenlage kann es zusätzlich auch zu Konflikten zwischen Pflegebedürftigem und pflegenden Angehörigen kommen, so dass einem manchmal der Geduldsfaden reißt. Auf einmal ertappt man sich selbst dabei, dass man anfängt zu schreien oder dass sogar die Hand hochschnellt. Solche Reaktionen zeigen, dass für den pflegenden Angehörigen einfach alles zu viel geworden ist. Gleichzeitig sind sie auch Ausdruck von häuslicher Gewalt, denn die fängt nicht erst bei Schlägen an. Pflegeexpertin Diekmann erklärt, wie es soweit kommen kann. „Entwickeln sich beispielsweise bei einem Elternteil wieder kindliche Züge, kommt es zu einem Rollentausch innerhalb der Familie. Auf einmal muss das Kind den Alltag für das Elternteil mitgestalten. Schnell entsteht bei dem Pflegebedürftigen ein Gefühl der Bevormundung. Hinzu kommt, dass die Pflegenden sich in der dominanten Rolle oftmals auch nicht wohl fühlen. Allein dieser Rollenstausch bietet viel Konfliktpotenzial.“
Vor allem an Demenz Erkrankte bedeuten eine große Herausforderung für Pflegende. So ist der Alltag von Demenz betroffenen Menschen von Unsicherheiten geprägt. Während zu Beginn der Erkrankung die eigene Orientierungslosigkeit oftmals sehr traurig macht, kann es im späteren Verlauf zu wahnhafte Vorstellungen kommen, die auch in aggressivem Verhalten münden können. „Gewalt in der Pflege bedeutet also nicht nur Gewalt den Pflegebedürftigen gegenüber, sondern auch umgekehrt. Das Resultat ist in beiden Fällen allerdings das Gleiche, denn die Aggression verstärkt sich auf beiden Seiten und eine Spirale setzt sich in Gang“, so Diekmann. Die Expertin erklärt, dass Gewalt zwischen Pflegendem und Pflegebedürftigem viele Gesichter haben kann. Zu Beginn kann es zum Ignorieren und Einstellen von Gesprächen mit der pflegebedürftigen Person kommen. Aber auch Anschreien, Beschimpfen, Bloßstellen, Demütigen oder Drohen gehören im weiteren Verlauf dazu. Zu den körperlichen Formen gehören beispielsweise ruppiges Helfen oder die Verweigerung von Hilfe beim Essen, Anziehen und der Körperhygiene, oder auch absichtlich unbequemes Hinlegen bis hin zu Schlägen.
Sich die Ursachen bewusst machen
Um in kritischen Situationen leichter Ruhe zu bewahren, kann bereits ein veränderter Blickwinkel sehr hilfreich sein. Könnten möglicherweise Schmerzen oder die Verzweiflung über die eigene Hilflosigkeit Gründe für Anfeindungen oder Beschimpfungen sein? Sich in die Situation der Pflegebedürftigen hineinzuversetzen, macht es dem pflegenden Angehörigen leichter, Kritik oder Aggression nicht persönlich zu nehmen. Aber auch ein Gespräch mit dem Arzt über mögliche Ursachen kann hilfreich sein. In manchen Fällen kann dieser durch Umstellung der Medikation die Situation entspannen. Führt die immer gleiche Situation zu Konflikten, sollte man sich überlegen, was zu dieser Anspannung führt. Gibt es etwas, womit man die Situation entschärfen kann? Vielleicht gibt es auch einen anderen Angehörigen, der unterstützen oder diese spezielle konfliktauslösende Aufgabe übernehmen kann? Wer Wut in sich aufsteigen fühlt, sollte versuchen, sich selbst zu beruhigen. Hier hilft jedem etwas Anderes. Manchen genügt es schon, sich klar zu machen, wann man ungeduldig, wütend oder enttäuscht reagiert und sich mit dem Ursprung dieses Gefühls auseinanderzusetzen. Das kann Wutausbrüche vermeiden. „Bevor die Situation eskaliert, sollte man den Raum lieber kurz verlassen und ein paar Schritte gehen, um Abstand zu gewinnen“, rät Diekmann. Es kann aber auch helfen, sich kaltes Wasser über die Unterarme laufen zu lassen, oder sich kurz das Gesicht zu waschen. Auch das Konzentrieren auf die eigene Atmung kann sinnvoll sein, um „Herunterzukommen“. Pflegenden Angehörigen, die in der Pflege immer wieder an ihre eigenen Grenzen kommen, rät Diekmann, sich Hilfe zu holen, um die Aggressionsspirale zu durchbrechen. Im Internet findet man bundesweit verschiedene Beratungsstellen und Krisentelefone, die vertrauliche Gespräche oder auch Beratungen anbieten.
Ich pflege – auch mich“
- Das viertägige Kompaktseminar der Barmer informiert umfassend und stärkt die eigene Resilienz (Widerstandfähigkeit) durch Workshops und Gesprächskreise. Das Angebot steht allen Pflegenden unabhängig von der Kassenzugehörigkeit offen. Infos zu den genauen Inhalten, Terminen und Veranstaltungsorten gibt es auf der Homepage: www.barmer.de/s000032.
- Hilfe für Helfer
Speziell für pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz bietet die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz eine Beratung an. Und auch die Pflegekassen halten Beratungen und Informationen für pflegende Angehörige, beispielsweise über gesetzliche Angebote wie Häusliche Schulungen, Verhinderungs- und Kurzzeitpflege, oder auch Informationen zu den regionalen und bundeweiten Pflegekursen bereit.