Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Barmer, Prof. Dr. Christoph Straub
Berlin, 24.03.2023 - Die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung wurden in den letzten Jahren sukzessive ausgebaut, um die Unterstützung Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen weiter zu verbessern. Doch inzwischen ist die Teilleistungsversicherung reformbedürftig. Prognosen sagen für die kommenden Jahrzehnte einen starken Anstieg der Zahl Pflegebedürftiger voraus, die Finanzsituation der Pflegeversicherung ist prekär. Nach Ansicht des Vorstandsvorsitzenden der Barmer, Prof. Dr. Christoph Straub, stehen Bund und Länder in der Pflicht, die strukturellen und finanziellen Defizite der Pflegeversicherung zu beheben.
Die Bundesregierung will im Rahmen des geplanten Pflegereformgesetzes die Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung anheben. Weitere Steuermittel sind nicht vorgesehen. Werden damit die Probleme der Pflegeversicherung gelöst?
Für die angespannte Finanzsituation der Pflegeversicherung gibt es ja unterschiedliche Gründe. Einerseits werden die Menschen immer älter und damit steigt auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Für sie müssen Versorgungsstrukturen vorgehalten und finanziert werden und qualifiziertes und gut bezahltes Pflegepersonal da sein. Auf der anderen Seite gibt es ein strukturelles Problem bei der Finanzierung: Bund und Länder überfordern das beitragsfinanzierte System der Pflegeversicherung auf Dauer, indem sie ihm versicherungsfremde Kosten aufbürden. Würde die öffentliche Hand ihren Finanzierungsverpflichtungen nachkommen, bräuchte es keine so erhebliche Belastung der Beitragszahler
Woran denken Sie dabei genau?
Die Regierungsparteien haben in ihrem Koalitionsvertrag das Problem selbst benannt und sich darauf geeinigt, versicherungsfremde Leistungen wie die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige und die pandemiebedingten Zusatzkosten aus Steuermitteln zu finanzieren. Das passiert aber nicht. Zudem müssen die Zuständigkeiten für die Finanzierung zwischen Bund, Ländern und Pflegeversicherung grundsätzlich geklärt werden. Denn es kann nicht sein, dass die Länder auf Dauer etwa die Kosten für notwendige Investitionen in die Pflegestrukturen oder auch für die Pflegeausbildung auf die Pflegebedürftigen umlegen. Pflegebedürftige müssen stattdessen von den ständig steigenden Eigenanteilen entlastet werden. Hier stehen die Länder in der Pflicht.
Wie kann sichergestellt werden, dass in Zukunft ausreichend Pflegekräfte für die wachsende Zahl an Pflegebedürftigen vorhanden sind?
Pflege wird zum überwiegenden Teil von Angehörigen oder Nachbarn im eigenen Zuhause geleistet. Dies ist ein wichtiges Fundament für die pflegerische Versorgung. Deshalb müssen zunächst einmal Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in der häuslichen Pflege weiter unterstützt werden. Hier plant die Bundesregierung zum Beispiel, Leistungen aus Kurzzeit- und Verhinderungspflege kombinieren zu können, das ist für Pflegebedürftige sehr wichtig. Zudem müssen auch die Leistungsbeträge regelmäßig angepasst werden, um einer schleichenden Entwertung zu begegnen.
Zur Gewinnung von Pflegepersonal werden bereits viele Ansätze gleichzeitig verfolgt. Ganz wichtig ist es, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, etwa mit flexiblen Arbeitszeitmodellen, um Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren zu können oder auch durch eine altersgerechte Organisation von Tätigkeiten, um ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu halten oder zu gewinnen. Genauso wichtig ist meiner Meinung nach aber eine Aufwertung der pflegerischen Berufsbilder und eine neue Arbeitsteilung zwischen ärztlichen und nichtärztlichen Berufen. Damit schaffen wir neue Anreize, diese Gesundheitsberufe zu wählen und darin zu verbleiben.
Denken Sie dabei an die Schaffung neuer Berufe wie die Community Health Nurse oder Gesundheitslotsen wie im Koalitionsvertrag der Bunderegierung?
Nicht immer ist klar, welche Tätigkeiten genau gemeint sind, wenn zum Beispiel von einer Community Health Nurse die Rede ist. Das muss im Detail geklärt werden. Aber der Ansatz ist der richtige, nämlich den nichtärztlichen Berufen deutlich mehr Eigenständigkeit und Verantwortung zu geben und eine neue Arbeitsteilung in der pflegerischen und der medizinischen Versorgung zu ermöglichen. Einerseits können die hohen Anforderungen an die Qualität der Versorgung und an die Patientensicherheit nur durch gut ausgebildetes Fachpersonal erfüllt werden. Andererseits werden vorhandene Fachkräfteressourcen viel besser zum Einsatz kommen, wenn qualifizierte Pflegekräfte zusätzliche Kompetenzen übertragen bekommen, die bislang ärztlichem Personal vorbehalten sind.