Interview mit dem Vorstandsvorsitzenden der Barmer, Prof. Dr. Christoph Straub
Berlin, 06.05.2022 - Mit ihrem Koalitionsvertrag verfolgen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP das Ziel einer stärkeren sektorenübergreifenden Ausrichtung des Gesundheitssystems. Vorgesehen ist etwa die gemeinsame Planung ambulanter und stationärer Leistungen und eine sektorengleiche Vergütung für ambulant erbringbare Leistungen. Die Barmer fordert in ihrem aktualisierten 10-Punkte-Papier 2.0, den Aufbau sektorenübergreifender Strukturen zügig in Angriff zu nehmen.
Herr Prof. Straub, die Ampelkoalition will beim Abbau der Sektorengrenzen im Gesundheitswesen endlich vorankommen. Wird es in dieser Legislaturperiode den Durchbruch für eine sektorenübergreifende Versorgung geben?
Ich halte dies für dringend erforderlich, denn wir kennen die Schwachstellen unseres sektoral gegliederten Systems inzwischen sehr genau. Wir dürfen die daraus entstehenden Nachteile für die medizinische Versorgung der Bevölkerung und für die Effizienz unseres Gesundheitssystems nicht länger einfach in Kauf nehmen. Deshalb besteht Handlungsbedarf. Allerdings wissen wir auch, wie schwierig es ist, die bestehenden Strukturen zu verändern – ich denke da an den Versuch, die Notfallversorgung auf ein integriertes System neu auszurichten.
Mit welchen Schritten sollte man Ihrer Meinung nach beginnen?
Die Ziele, die die Ampelkoalition skizziert hat, sind die richtigen: Wir brauchen eine sektorenübergreifende Planung und auch eine einheitliche Vergütung. Die Grundlagen dafür muss der Gesetzgeber in dieser Legislaturperiode legen. Gleichzeitig müssen wir überprüfen, welche Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung sofort ergriffen werden können. Wir wollen, dass sehr schnell kooperative, vernetzte und sektorenübergreifende Strukturen aufgebaut werden, um die Versorgung besonders in unterversorgten Regionen zu sichern. Für den notwendigen strukturellen Wandel gibt es viele innovative Ideen, es braucht aber auch den politischen Willen, auf Bundes- und auf Landesebene. Der Gesetzgeber muss den regionalen Partnern Freiräume eröffnen, indem er für einen begrenzten Zeitraum gesetzliche Restriktionen für Pilotprojekte lockert, zum Beispiel für den Aufbau regionaler Versorgungszentren.
Welche Erwartungen genau richten Sie an den Bundesgesetzgeber? Viele Maßnahmen lassen sich doch auch auf Landesebene und vor allem durch die gemeinsame Selbstverwaltung regeln.
Der Gesetzgeber muss die Rahmenbedingungen auf Bundesebene setzen. Nur so können einheitliche und hohe Qualitätsstandards für die Versorgung der Bevölkerung garantiert werden. Die Umsetzung geschieht dann auf Landesebene, da, wo die Versorgung tagtäglich stattfindet. Das ist ganz wichtig für eine sektorenübergreifende Planung. Das gilt aber auch für den notwendigen Strukturwandel im Krankenhausbereich. Ich denke, dass sektorenübergreifende Strukturen nur dann funktionieren können, wenn auch die Krankenhauslandschaft entsprechend neu ausgerichtet wird.
Es liegen bereits einige Vorschläge für Reformen im stationären Bereich vor. In dieser Woche hat Bundesgesundheitsminister Lauterbach die Regierungskommission für die Weiterentwicklung der Krankenhausversorgung vorgestellt. Was muss Ihrer Meinung nach geschehen?
Es ist gut, dass die Regierungskommission nun eingesetzt wurde und ihre Arbeit aufnehmen kann. Viele Vorschläge liegen jedoch bereits seit Jahren auf dem Tisch. So fordern wir seit langem, dass spezialisierte Leistungen in Kliniken konzentriert werden, die unseren hohen Anforderungen an Qualität entsprechen. Zur Aufrechterhaltung der wohnortnahen Versorgung hingegen werden grundversorgende Einrichtungen benötigt. Das müssen nicht immer Krankenhäuser sein. Ist ein Haus nicht mehr bedarfsnotwendig, kann es auch in ein regionales Versorgungszentrum umgewandelt werden. Wichtig ist, dass der Standort für die medizinische Versorgung erhalten bleibt. Wir fordern, dass die Krankenhäuser nach dem Grad ihrer Spezialisierung in drei Stufen gegliedert werden, in Grundversorger, Regelversorger sowie Maximal- und Spezialversorger.
Die Koalitionsparteien wollen auch eine sektorengleiche Vergütung entwickeln. Wie kann man hier vorgehen?
Leistungen, die sowohl im niedergelassenen Bereich als auch im Krankenhaus erbracht werden können, dürfen nicht unterschiedlich vergütet werden. Wir haben in unserem 10-Punkte-Papier 2.0 die Idee für ein modulares Vergütungssystem für sektorenübergreifende Leistungen entwickelt, bei dem Leistungserbringer eine einheitliche Basisvergütung für eine Leistung erhalten, gleich ob sie in der Praxis oder im Krankenhaus erbracht wurde. Diese kann durch Zuschläge wegen unterschiedlicher Schweregrade einer Erkrankung oder beispielsweise für eine notwendige kurzstationäre Überwachung ergänzt werden. Gegebenenfalls können auch Vorhaltekosten für eine medizinische Einrichtung damit finanziert werden. Bei der Entwicklung eines Vergütungssystems wollen wir auf jeden Fall Anreize setzen, mehr Leistungen ambulant zu erbringen – die medizinisch-technische Entwicklung lässt dies zu.