Berlin, 27.09.2018 – Von einer sektorenübergreifenden Versorgung ist das deutsche Gesundheitssystem noch immer weit entfernt. So funktionieren die einzelnen Versorgungsbereiche – ob ambulante und stationäre Versorgung, Reha oder Pflege – weitgehend nach ihrer eigenen sektoralen Logik. In dieser Woche hat sich die Bund-Länder-Kommission konstituiert, auf die sich CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt hatten. Unter Einbeziehung der Regierungsfraktionen im Deutschen Bundestag sollen deren Mitglieder bis 2020 Vorschläge für eine sektorenübergreifende Versorgung erarbeiten. Welche Vorstellungen die Barmer zu diesem Thema hat, zeigt das Interview mit Prof. Dr. Christoph Straub, ihrem Vorstandsvorsitzenden.
Herr Professor Straub, was erwarten Sie von der Bund-Länder-Kommission zur sektorenübergreifenden Versorgung?
Ich setze große Erwartungen in das Gremium. Sein Auftrag ist weit gefasst, es sollen alle wesentlichen Fragen wie die zur Bedarfsplanung, zur Honorierung, Kodierung und zur Kooperation der Gesundheitsberufe darin behandelt werden. Wichtig ist dabei, dass auch praktikable, politisch anschlussfähige Vorschläge für die Umsetzung gemacht werden. Deshalb ist die Beteiligung der Bundesländer sehr wichtig, denn diese nehmen wesentlich Einfluss auf die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen.
Leider steht zu befürchten, dass wir in dieser Legislaturperiode keine Gesetzgebung mehr dazu bekommen werden, denn die Kommission hat für ihre Arbeit Zeit bis 2020. Andererseits ist die Beseitigung der Sektorengrenzen und die Realisierung durchgängiger Versorgungsprozesse eine politische "Mega-Aufgabe", die notwendig mehr als eine Legislaturperiode benötigen wird. Hier wünschen wir uns, entsprechend dem parteiübergreifenden Konsens in der Rentenpolitik, dass von der großen Koalition längerfristige ordnungspolitische Entwicklungslinien formuliert werden.
Welches Interesse hat eine gesetzliche Krankenkasse an der Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung?
Unser Versorgungsauftrag für die gesetzlich Versicherten ist umfassend. In der Praxis erfahren wir immer wieder, wo die Grenzen unseres Gesundheitssystems liegen. Da ist es naheliegend, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie das System stärker an den Bedürfnissen der Patienten ausgerichtet werden kann. Sektorengrenzen behindern eine bedarfsgerechte und kontinuierliche Behandlung der Patienten.
Hinzu kommt, dass die Finanzierung des Gesundheitswesens im Wesentlichen auf den Beiträgen der Mitglieder beruht, wir sind deshalb verpflichtet, wirtschaftlich zu arbeiten. Bisher wird viel Geld verschwendet, weil die Versorgung an den Sektorengrenzen abreißt, oder weil der ökonomische Vorteil des Leistungserbringers bestimmt, wo und wie behandelt wird. Eine sektorenübergreifende Versorgung muss deshalb dazu beitragen, das System effizienter zu machen.
Es gibt bereits viele Ansätze, die Versorgung besser aufeinander abzustimmen. Die Bundesregierung hat unter anderem auch den Innovationsfonds eingerichtet, um sektorenübergreifende Lösungen zu erproben. Was wird noch gebraucht?
Alle bisherigen Ansätze gehen dem Problem nicht auf den Grund: So lange ambulanter und stationärer Bereich nebeneinander bestehen mit ihren jeweils eigenen Regelungen zur Bedarfsplanung und zur Vergütung, bleiben Doppelstrukturen erhalten und Leistungen werden parallel und unwirtschaftlich angeboten. Es muss selbstverständlich sein, dass Ärztinnen und Ärzte über die Sektorengrenzen hinweg arbeiten und zusammenarbeiten, nur so können wir die Probleme der Zukunft lösen.
Wir sollten den Mut aufbringen, grundlegendere Reformen anzugehen. So müssen vor allem die Bedarfsplanung und die Vergütung sektorenübergreifend organisiert werden.
Wie soll das aussehen?
Im Fokus unserer Überlegungen stehen die medizinischen Leistungen an der Schnittstelle zwischen ambulant fachärztlicher Versorgung und der stationären Grund- und Regelversorgung. Zurzeit unterliegen gleiche medizinische Leistungen unterschiedlichen Bedingungen bei Zugang, Vergütung, Qualität und Leistungsdefinition. Wir stellen einen unproduktiven Wettbewerb von niedergelassenen Fachärzten und Krankenhäusern um diese Leistungen fest. Dadurch entstehen Fehlanreize, und Leistungen werden oft dort erbracht, wo die Vergütung höher ist.
Um welche Leistungen handelt es sich genau?
Es geht nicht um die hausärztliche Versorgung, auch nicht um die spezialisierte Versorgung im ambulanten oder stationären Bereich. Es geht hier um Leistungen, die sowohl ambulant als auch stationär erbracht werden können. Ein Beispiel dafür ist die diagnostische Linksherzkatheter-Untersuchung.
Die Bestimmung eines Leistungskatalogs erfolgt durch die Selbstverwaltungspartner. Grundlage dafür ist ein Auftrag des Gesetzgebers an die beteiligten Akteure zur Erarbeitung von Richtlinien für eine sektorenübergreifende Versorgungsplanung.
Wer entscheidet über den Bedarf an Leistungen?
Als Grundlage für die Bedarfsplanung sind bundesweite Referenzwerte notwendig. Dafür sollten die Abrechnungs- und Leistungsdaten aus dem Behandlungsgeschehen bei einer neutralen Stelle zusammenfließen und analysiert werden. Es braucht dafür keine neue Institution, wir könnten uns für diese Aufgabe beispielsweise das Statistische Bundesamt vorstellen. Der Gesetzgeber muss die Länder dazu verpflichten, Gremien für die sektorenübergreifende Versorgung einzurichten. Dort würde dann der regionale Leistungsbedarf festgestellt und die notwendige Planung der Behandlungskapazitäten erfolgen. Auf diese Weise kommen wir von der bislang praktizierten Planung nach Arztsitzen oder Krankenhausbetten weg – hin zu einer Ausrichtung am tatsächlichen Bedarf.
Sie sprachen von einer einheitlichen Vergütung.
Wenn die Sektorengrenzen bei der Planung und Behandlung keine Rolle mehr spielen sollen, müssen gleiche Leistungen auch gleich vergütet werden. Es muss der Grundsatz gelten: Gleiches Geld für gleiche Leistung! So verhindern wir Fehlanreize.
Bei den Überlegungen für eine einheitliche Vergütung schaffen wir die Möglichkeit, für definierte Leistungen und Leistungskomplexe einheitliche Qualitätsanforderungen festzulegen. So müssen sich die behandelnden Ärzte an definierten Behandlungspfaden und Leitlinien orientieren, die Kooperation von Niedergelassenen und Krankenhausärzten wird klar definiert. So kann Versorgung tatsächlich sektorenübergreifend und interprofessionell organisiert werden.
Es handelt sich dabei um ein großes Reformvorhaben…
Das ist richtig. Aber die Zeit ist reif dafür. Wir sollten schrittweise vorgehen und auf Vorhandenes aufsetzen. Wichtig wäre, recht bald Modellprojekte in den Regionen aufzusetzen, um die sektorenübergreifende Versorgung zu erproben.