Der Gute-Nacht-Kuss für die Kinder vor dem Schlafengehen, das tägliche Zähneputzen und die Körperhygiene oder das Sonntagsessen mit der gesamten Familie – jeder von uns kennt Rituale. Menschen auf der ganzen Welt führen sie durch, in einer großen Gemeinschaft oder auch in den eigenen vier Wänden, ganz für sich. Doch was sind Rituale eigentlich und was bewirken sie? Diese Frage beschäftigt Experten aus den verschiedensten Bereichen, beispielsweise Psychologen, Geisteswissenschaftler, Theologen oder auch Neurologen.
Traditionelle Verhaltensweisen mit symbolischen Handlungen rund um ein bedeutendes Ereignis gehören zu den klassischen Ritualen. Beispiele dafür sind Geburtstagsfeste, die Schultüte zur Einschulung, und das Feiern von Jubiläen oder auch religiösen Festen. „Rituale verbinden uns mit unseren Mitmenschen. Das gemeinsame Singen eines Geburtstags- oder Weihnachtsliedes zeigt, dass die Gemeinschaft ähnliche Werte hat, und gesellschaftliche Unterschiede in diesem Moment zweitrangig sind. Wenn in China im Morgengrauen in einer großen Menschengruppe Tai Chi durchgeführt wird, haben während dieser Zeit alle das gleiche Ziel. Die gesellschaftliche Stellung verliert dann an Bedeutung“, erklärt Andrea Jakob-Pannier, Psychologin bei der Barmer. Das Gefühl der Verbundenheit zueinander ist vor allem in Familien besonders wichtig. In Patchwork-Familien können gemeinsame Rituale helfen, die neue Familiensituation zu stärken. Das kann gemeinsames Kochen, oder, je nach Alter der Kinder, ein Familienausflug an einem regelmäßig wiederkehrenden Termin sein, auf den sich alle freuen.
Rituale als Gefühlsbooster
Studien zeigen, dass Rituale Gefühle wie Glück und Freude verstärken können, das Erlebnis wirkt durch Rituale intensiver. „Schon das Durchführen eines kleinen Rituals vor dem Verzehr von Lebensmitteln führte zu einem größeren Genussgefühl der Probanden. So bewirkte in einer Studie ein kleines Ritual, wie eine bestimmte Abfolge von Auspacken und Durchbrechen eines Stückchens Schokolade, dass die Probanden die Schokolade leckerer empfanden und mehr genossen. Sie waren sogar bereit, mehr Geld für sie zu bezahlen“, erklärt Jakob-Pannier. Auch das Selbst-Zubereiten von Limonade oder Essen hatte einen entsprechenden Effekt. „Sich die Zeit für etwas zu nehmen, auf das man sich freut, dieses durch ein Ritual zu begleiten und auf das Ereignis hinzufiebern, macht es schon wertvoller. Menschen, die ihr Essen selbst gekocht haben, essen oft bewusster und finden es zudem auch schmackhafter. Rituale stärken also nicht nur das Wir-Gefühl, sondern auch das Glücksempfinden und die Zufriedenheit“, so die Psychologin.
Für Kinder sind Rituale von ganz besonderer Bedeutung. Immer wiederkehrende Ereignisse, wie das abendliche Vorlesen oder gemeinsame Mahlzeiten, schaffen nicht nur Verbundenheit, sondern auch eine sichere Basis. Vor allem in den ersten Lebensjahren helfen Rituale, eine Orientierung in der Vielzahl der Ereignisse zu finden. „Folgt der immer gleiche Ablauf auf das morgendliche Aufstehen, beispielsweise erst Kuscheln, dann Anziehen und Frühstücken, fallen auch Routinen wie Zähneputzen leichter, die vielleicht nicht so angenehm sind. Da die Abläufe alle zusammengehören und regelmäßig wiederkehren, werden sie häufig wenig oder gar nicht diskutiert“, erklärt Jakob-Pannier. Hirnforscher gehen sogar davon aus, dass Rituale Automatismen sind, die das Leben bewusst oder auch unbewusst erleichtern können, weil sie schlicht nicht hinterfragt werden müssen. Auch zur Bewältigung von Trauer können Rituale hilfreich sein. Dazu gehört beispielsweise die Verabschiedung am Grab im Rahmen einer Trauerfeier oder auch das Gedenken an die Verstorbenen zu Jahrestagen. „Durch Rituale finden Trauernde wieder Halt. So haben sie das Gefühl von Kontrolle in einer Situation, in der sie eigentlich machtlos sind. Die Umstände des Verlusts werden dadurch etwas erträglicher“, so Jakob-Pannier.