Kaum ein Zukunftsthema treibt die Menschen so sehr um wie die „Künstliche Intelligenz“, kurz KI. KI sorgt gleichsam für Begeisterung wie für Bedenken über das, was schon alles möglich ist und möglich sein wird. Und wer beherrscht hierbei künftig eigentlich wen – der Mensch die Technik oder umgekehrt?
Das 2019 gegründete Artificial Intelligence Center Hamburg e.V. (ARIC) beschäftigt sich mit KI und ihren Chancen. Welche das insbesondere in einem so sensiblen Bereich wie dem Gesundheitssektor sind, erläutert die ARIC-Expertin für Health und Life Science, Natalie Rotermund, im Gespräch.
Wie menschlich ist eigentlich Künstliche Intelligenz?
Das hängt sehr davon ab, aus welcher Perspektive man es betrachtet: Philosophisch oder mechanistisch? Beide Sichtweisen haben ihre interessanten Aspekte. Es fängt ja mit der Frage an, was eigentlich Intelligenz ist. Was ist dann Künstliche Intelligenz, wie nah dran ist das an unserer Intelligenz und wie spielt das Bewusstsein rein? Allein damit tun wir uns ja schon schwer.
Hintergrund meiner Frage: Sie sind promovierte Neurowissenschaftlerin, kennen sich also aus mit den Zusammenhängen von Gehirn, Geist und Psyche. Welche Parallelen zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz gibt es?
Grob gesprochen ist Intelligenz beim Menschen, dass man abstraktes und logisches Denken zu sinnvollem Handeln führt. Und bei KI ist es der Wunsch, das nachzubauen. Also nicht mehr 1+1 mit dem Taschenrechner zusammenzuzählen, sondern echte Interaktion zu erzeugen. Hier kommt der sogenannte Touring-Test ins Spiel. Dabei wird seit den 1950er Jahren geprüft, ob ein Betrachter bei seinem Gegenüber noch erkennen kann, ob er mit einem Menschen oder einer Maschine – einer KI – interagiert. Und wir sind jetzt an dem Punkt angekommen, wo diese Unterscheidung eben nicht mehr eindeutig ist.
Und was unterscheidet KI vom menschlichen Denken?
Für beide Arten von Intelligenz gilt: Wir haben Input – Verarbeitung – Output. Grundlegend ist das menschliche Gehirn anders aufgebaut, hat komplexere Strukturen, viel mehr Verbindungen als die Architektur, die wir für KI verwenden. Hier geht es um mathematische Funktionen. Der Mensch verarbeitet seine Sinneseindrücke, beispielsweise beim Betrachten eines Bildes, und das führt zu einer bestimmten Art von Reaktion. Bei der KI sorgen Berechnungen dafür, dass am Ende bestimmte Wahrscheinlichkeiten ausgegeben werden, ob beispielsweise die Gesamtheit der Pixel eines Bildes nun eine Katze oder einen Hund zeigt. Auch die „Large Language Models“ – Chatbots wie ChatGPT –berechnen die Wahrscheinlichkeit dafür, welches Wort als nächstes kommt und darauf wird iterativ aufgebaut.
Also biologisch-technisch sind menschliche und künstliche Intelligenz sehr unterschiedlich, beide führen jedoch mittlerweile zu ähnlichen Ergebnissen. Philosophisch betrachtet ist ein wichtiger Unterschied, dass KI noch kein Bewusstsein hat.
Im Science-Fiction-Bereich übernimmt Künstliche Intelligenz schon mal die Kontrolle über die Menschen und ihr Handeln. Ist die Sorge davor aus Ihrer Sicht gerechtfertigt?
KI als Herrscher über die gesamte Menschheit oder dominierend über bestimmte Bereiche des menschlichen Lebens?
Dort, wo KI künftig eine große Rolle spielen wird, kann man nur dazu ermutigen, mit gesundem Menschenverstand zu handeln. Hierzu ein Gedankenspiel: Man stelle sich vor, man begegnet einer Person, die doppelt so intelligent ist wie man selbst. Würde man sein ganzes Leben und jede Entscheidung, die man trifft, von der Meinung dieser Person abhängig machen? Sicher würde man sich von ihr Rat holen, aber nicht sein eigenes Nachdenken komplett einstellen. So sollte auch der Umgang mit KI sein: Hier habe ich wertvolle Unterstützung, wertvolle Informationen – und trotzdem denke ich selbst noch nach.
Eine solche KI, die künftig in ihrem Teilbereich immer mehr Dominanz hat, kann – je größer die Modelle werden – dem Menschen vielleicht auch irgendwann das Gefühl vermitteln, abgehängt zu sein. Aber das ist eher ein Gedankenexperiment. Als Neurowissenschaftlerin frage ich mich, ob es irgendwann eine Grundlage – biologischer, technischer oder mechanischer Art – gibt, auf der bei der KI Bewusstsein entsteht. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das aber ein eher philosophisches Thema.
Auf den Punkt gefragt: Ist KI für Sie Bedrohung oder Chance?
Wenn ich mich auf eines festlegen soll, sage ich Chance. Aber ich arbeite beim ARIC, weil ich es unheimlich wichtig finde, zu verstehen, womit wir agieren und die Gesellschaft in die Lage zu versetzen, zu begreifen, was KI überhaupt ist. Man kann nur kontrollieren, beeinflussen und mitgestalten, was man auch versteht. Deshalb ist es sehr wichtig, in den Diskurs über diese Technologie zu gehen, Verständnis dafür aufzubauen, was KI leisten kann – auch darüber, was wir möchten, was KI leistet. Wir haben die Chance, sehr viel Gutes damit zu tun. Wir haben aber auch die Chance – das Risiko – KI missbräuchlich einzusetzen.
Wie viel Wissen oder Nichtwissen über KI nehmen Sie denn in der Gesellschaft wahr?
Hier ist viel Entmystifizierung notwendig. Die Idee, eine „Überintelligenz“ zu schaffen, ist so tief in unserem kulturellen Bewusstsein verwurzelt. KI hat aber nur bedingt etwas damit zu tun, menschliche Intelligenz zu replizieren. KI ist zunächst ein Computer, der mathematische Rechenoperationen ausführt und uns in bestimmten Bereichen hilft, Wahrscheinlichkeiten besser einzuschätzen.
Und wie kann diese Wissenslücke gefüllt werden?
Ein wichtiges Thema ist für uns „Responsible AI“, also der verantwortungsvolle Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Wir wollen nicht, dass Deutschland bei dem Thema abgehängt wird und die Wirtschaft diese Technologie gar nicht beachtet. Aber dort, wo sie zum Einsatz kommt, wollen wir bestimmten Prinzipien folgen. Vertrauensbildung ist wichtig: Wie arbeitet man mit dieser anderen Intelligenz, ohne dass sie einen überrollt.
Für den weiteren Gesprächsverlauf könnte es hilfreich sein, zwei Begriffe zu definieren bzw. voneinander abzugrenzen: Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Beides meint nicht dasselbe, aber das eine geht eben auch nicht ohne das andere…
Beides sind unterschiedliche Dinge: Digitalisierung bedeutet, Daten sammeln und speichern, sodass die Inhalte leicht multiplizierbar und transportierbarer sind. Und mit den digitalen Daten bilden wir die Grundlage für Künstliche Intelligenz.
Fällt Deutschland nun auf die Füße, dass wir uns – verglichen mit anderen Ländern – bei der Digitalisierung eher schwertun?
Wir arbeiten an zwei Projekten mit, in denen es neben KI auch um die Digitalisierung des Klein- und Mittelstands geht: bei den „Regionalen Zukunftszentren“ und den „European Digital Innovation Hubs“. Es geht darum, Unternehmen und die öffentliche Verwaltung bei der Digitalisierung und beim Thema KI zu unterstützen. Da hören wir oft Ideen, dass beispielsweise KI eingesetzt werden könnte, um etwa die Produktion zu optimieren. Da fehlt mitunter das Grundverständnis, dass das nur funktionieren kann, wenn die Prozesse davor digitalisiert sind. Um automatisierte Arbeiten ausführen zu können, müssen zum Beispiel die Maschinen dafür Signale weitergeben und Daten produzieren. Der Grad der Digitalisierung ist da teilweise noch nicht ausreichend für KI.
Anders gefragt: Sind andere Länder weiter, was das Arbeiten mit KI betrifft?
In meinem Umfeld begegnet mir die Frage regelmäßig, ob wir in Deutschland – und auch Europa – das Rennen um KI schon verloren haben: Wenn beispielsweise Google schon so weit enteilt scheint, warum sollen wir uns damit noch beschäftigen? Sollten wir diese Ressourcen nicht besser sparen und uns einfach der Technologien bedienen? Ja, die USA und auch China haben einen Vorsprung bei dieser „Materialschlacht“, bei der es um Rechenkapazitäten und Geld von privaten Investoren geht. Andererseits finde ich die Technologiesouveränität Europas sehr wichtig, wenn wir beispielsweise an den Gesundheitssektor denken. Sich abhängig zu machen von Staaten oder gar einzelnen Unternehmen, die ihre Services ja auch jederzeit schließen oder anders einsetzen könnten, wäre fahrlässig.
Elektronische Krankschreibung und elektronische Patientenakte sind Stichwörter aus dem Gesundheitsbereich. Alles hat mit Digitalisierung zu tun – aber auch mit KI?
Zunächst hat es seinen Wert ja bereits unabhängig von der KI, weil die Daten leichter von allen relevanten Akteuren, also zum Beispiel Hausärztinnen und Hausärzten oder Fachärztinnen und Fachärzten, eingesehen werden können und die Datenverarbeitung einfach wird. Und es bereitet den Weg dafür, dass die Daten, die generiert werden, mit KI genutzt werden können. Insbesondere die digitalen Patientenakten bergen einen riesigen Schatz an medizinischen Daten. Damit lassen sich Therapien für das jeweilige Individuum aber auch generell weiterentwickeln. Auf verschiedenste Art und Weise.
Natürlich ist das ein sensibler Bereich: Wie geht man mit medizinischen Daten um? Wir bewegen uns in einem Spannungsfeld aus Persönlichkeitsrecht, Datenschutz und Gesundheitsdatennutzung für die Allgemeinheit und Forschung für das Individuum. Klar ist natürlich, dass alles technisch Mögliche getan werden muss, um die persönlichen Daten zu schützen, damit dieses Wissen nicht missbräuchlich eingesetzt werden kann. Da ist sicherlich der Gesetzgeber gefordert. Dann lassen sich viele Dinge denken, um am Ende aus den vielen Daten viele nützliche Informationen herauszuziehen. Für Patienten würden individuelle Therapien umso besser, je mehr man über den einzelnen Patienten und seine Lebensumstände weiß.
Wo begegnen wir bereits konkret Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen?
Zertifizierte Anwendungen gibt es insbesondere im Bereich der Bildverarbeitung: Die ganze Radiologie und Diagnose ist ein Feld, wo spezielle Anwendungen bereits kommerziell als Medizinprodukte zugelassen sind und unterstützend eingesetzt werden. KI hilft dort beispielsweise dabei, Krebszellen zu identifizieren. Oder auf dem Röntgenbild ist eine Fraktur zu erkennen und die KI erkennt dann an anderer Stelle noch einen Haarriss. Das gibt es schon.
Wir sind hier in einem hochregulierten Bereich, was gut und wichtig ist, denn die Anwendungen unterliegen natürlich bestimmten Qualitätsanforderungen. Insofern ist nichts, woran gestern gearbeitet wurde, morgen bereits in der Praxis im Einsatz.
Und was ist darüber hinaus denkbar, was kann und wird KI im Gesundheitswesen leisten?
Der technische Fortschritt und KI müssen uns dabei helfen, die Herausforderungen des demografischen Wandels zu bestehen. Ansonsten drohen uns große Einbußen bei unserem Lebensstandard und unserer Gesundheitsversorgung. Die alternde Gesellschaft, der Mangel an Pflegefachkräften – das sind Aspekte, wo Hilfe gefragt ist.
Der Roboter, der die Oma pflegt?
Das ist bestimmt noch etwas hin. Erst einmal geht es um Assistenzsysteme. Radiologen beispielsweise brauchen nur noch ein Drittel ihrer Zeit für Diagnosen und Ärztinnen und Ärzte bekommen Unterstützung bei der Dokumentation von Hilfeleistungen. Mit KI werden Diagnosen und Therapien besser, werden Behandlungen gerechter. Klar ist auch vorstellbar, dass Pflegetätigkeiten mit KI-Unterstützung ausgeführt werden. Aber es geht in erster Linie darum, mit KI neue Kapazitäten zu schaffen. Routineaufgaben fallen weg, sodass mehr Zeit für die Arbeit am Patienten bleibt.
Verstehen Sie, dass Menschen Angst vor der Entwicklung haben?
Ja, das verstehe ich. Es wird sehr viel von der Umsetzung abhängen. Viele haben ein Bild im Kopf, dass ältere Personen keinen menschlichen Kontakt mehr haben, keine Wärme, keine Empathie mehr spüren, sondern eine KI versorgt sie mechanisch und sagt vielleicht noch drei einprogrammierte Worte – eine Horrorvorstellung. Wir brauchen weiter ausreichend Menschen in der Pflege.
Was darf KI im Gesundheitsbereich niemals tun?
Die Selbstbestimmung des Patienten manipulieren, etwa aus kommerziellen Interessen heraus. Jeder Mensch muss für sich weiter die Entscheidung treffen können, ob und wie eine Therapie erfolgen soll. Da muss auch kritisch hinterfragt werden, welche Interessen möglicherweise der Hersteller der KI verfolgt.
Gibt es für Sie eine Grenze, die KI im Gesundheitsbereich nicht überschreiten sollte?
Kurz gesagt: KI darf Ungerechtigkeiten nicht verstärken oder das Selbstbestimmungsrecht von Patienten untergraben.