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Barmer Arztreport 2018 – Rund eine halbe Million Studenten psychisch krank

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Berlin, 22. Februar 2018 – Immer mehr junge Erwachsene leiden unter psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Panikattacken. Allein zwischen den Jahren 2005 bis 2016 ist der Anteil der 18- bis 25-Jährigen mit psychischen Diagnosen um 38 Prozent und darunter bei Depressionen um 76 Prozent gestiegen. Diese Zahlen stammen aus dem Barmer-Arztreport 2018, der heute in Berlin vorgestellt wurde. Demnach ist selbst bei den Studierenden, die bislang als weitgehend „gesunde“ Gruppe galten, inzwischen mehr als jeder sechste (17 Prozent) von einer psychischen Diagnose betroffen. Das entspricht rund 470.000 Personen.

„Vieles spricht dafür, dass es künftig noch deutlich mehr psychisch kranke junge Menschen geben wird. Gerade bei den angehenden Akademikern steigen Zeit- und Leistungsdruck kontinuierlich, hinzu kommen finanzielle Sorgen und Zukunftsängste. Vor allem mehr niedrigschwellige Angebote können helfen, psychische Erkrankungen von vorn herein zu verhindern“, sagte Prof. Dr. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer.

Ältere Studierende sind besonders gefährdet

Bei Studierenden steige mit zunehmendem Alter das Risiko für eine Depression deutlich. Im 18. Lebensjahr erkrankten 1,4 Prozent der Studierenden erstmals an einer Depression, bei den Nicht-Studierenden seien es 3,2 Prozent. Gut zehn Jahre später liege der Anteil bei den Studierenden bei 3,9 Prozent und bei den Nicht-Studierenden bei 2,7 Prozent. Ältere Studierende seien somit besonders gefährdet. Psychische Erkrankungen könnten zudem bereits in der Jugend einen Einfluss darauf haben, ob später ein Studium aufgenommen wird. „Bei Jugendlichen mit einer psychischen Störung im Alter von 17 Jahren ist die Wahrscheinlichkeit für eine Studienaufnahme in den Folgejahren um etwa ein Drittel reduziert“, sagte der Autor des Arztreports und Geschäftsführer des aQua-Instituts in Göttingen, Prof. Dr. Joachim Szecsenyi.

Mehr niedrigschwellige Hilfsangebote erforderlich

Aus Sicht der Barmer sind mehr niedrigschwellige Angebote erforderlich, die psychische Erkrankungen vermeiden und junge Erwachsene frühzeitig erreichen, bei denen Depressionen oder Angstzustände bereits ausgebrochen sind. „Häufig meiden Betroffene aus Scham den Gang zum Arzt. Ein großes Potenzial sehen wir daher in Online-Angeboten, vor allem, wenn sie anonym sind und den Nutzungsgewohnheiten der Generation Smartphone entgegenkommen“, so Straub. Die Barmer habe daher das von der WHO--World Health Organization unterstützte Projekt StudiCare aufgelegt. Darin würden nicht nur zielgerichtete Maßnahmen für Studierende in Deutschland entwickelt. Es werde auch erforscht, wie man die Betroffenen möglichst frühzeitig erreichen kann.

Nicht bei jeder schlechten Phase ist Psychotherapie erforderlich

Einen Schwerpunkt lege die Krankenkasse auf das Vermeiden von psychischen Erkrankungen. So böte die Barmer als erste Kasse ein Online-Training an, mit dem nachweislich Depressionen erfolgreich verhindert werden können. Damit könne auch die überproportionale Inanspruchnahme begrenzter psychotherapeutischer Plätze bei nur ‚leichten‘ Problemen reduziert werden, um so Platz zu schaffen für Betroffene, die dringender Unterstützung brauchen. „Nicht bei jeder schlechten Phase benötigt man gleich einen Psychotherapeuten“, sagte Straub. Hintergrund ist, dass laut Arztreport 28 Prozent der jungen Erwachsenen bei einer leichten depressiven Episode Psychotherapie bei einem niedergelassenen Therapeuten in Anspruch nehmen. Bei den schwer depressiv Erkrankten sei die Quote nur geringfügig höher. „Hausärzten kommt eine wichtige Funktion als Lotse zu, da psychisch schwer erkrankte junge Menschen rasch professionelle Hilfe brauchen. Zudem bedarf es einer noch stärkeren Bereitschaft der Psychotherapeuten, sich dieser Patienten anzunehmen“, forderte Studienautor Szecsenyi.

Hilfe bei psychischen Problemen: PRO MIND und StudiCare 

 

Daten aus dem Arztreport 2018

  • Behandlungsfälle: Für das Jahr 2016 weist der Barmer-Arztreport eine Behandlungsrate von 93,1 Prozent aus, das heißt, dass von 100 Versicherten nur sieben keine ambulante ärztliche Versorgung benötigten. Hochgerechnet auf die bundesdeutsche Bevölkerung bedeutet dies, dass etwa 76,1 Millionen Menschen ambulante medizinische Hilfe benötigt haben. Dabei ergaben sich bei Männern 7,07 Behandlungsfälle und bei Frauen 10,03, woraus sich ein Gesamtwert von 8,57 Behandlungsfällen im Jahr 2016 errechnet. Das entspricht etwa 700 Millionen einzelnen Behandlungsfällen (im Report Seite 49).
  • Inanspruchnahme nach Alter: Die geringste Zahl an Behandlungsfällen wurde im Jahr 2016 wie in den Vorjahren bei Männern im Alter zwischen 25 und 29 Jahren mit durchschnittlich 4,2 Fällen erfasst. Die Fallzahlen liegen bei Frauen im selben Alter mit 9,2 Fällen mehr als doppelt so hoch. Weiter auffällig ist, dass die Fallzahlen der Männer nach Vollendung des 80. Lebensjahres mit 14,7 Fällen pro Jahr merklich über denen der Frauen liegen (Seite 53).
  • Behandlungskosten: Für das Jahr 2016 ergaben sich Behandlungskosten in Höhe von durchschnittlich 561,14 Euro pro Versicherten für die ambulante ärztliche Versorgung. Der ent­sprechende Wert hatte im Jahr 2015 bei 543,05 Euro gelegen. Von dem Jahr 2015 auf das Jahr 2016 ist es damit zu einem Anstieg um 3,3 Prozent gekommen. Die im Durchschnitt geringsten jährlichen Kosten für ambulante Behandlungen ließen sich im Jahr 2016 für 20- bis 24-jährige Männer mit 217 Euro berechnen, die höchsten Kosten betrugen 1.178 Euro in der Gruppe der 80- bis 84-jährigen Männer (Seite 13/14).
  • Regionale Verteilung von Kosten: Abschätzungen der Behandlungskosten unter Annahme einheitlicher Punktwerte ergeben vorrangig in den Stadtstaaten Bremen, Berlin und Hamburg überdurchschnittliche versichertenbezogene Kosten. Das war bereits im Vorjahr der Fall. In den beiden letztgenannten Ländern werden die bundesweit ermittelten Kosten pro Versicherten um mehr als zehn Prozent überschritten. In Bayern übersteigen die geschlechts- und altersstandardisierten Behandlungskosten den Bundesdurchschnitt um rund fünf Prozent. In allen neuen Bundesländern liegen die Behandlungskosten unter dem Bundesdurchschnitt von etwa 561 Euro (Seite 66/67).

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