Berlin, 28. Februar 2019 – Laut aktuellem Barmer-Arztreport erhielten eine Million Menschen in Deutschland im Jahr 2017 die Diagnose Reizdarmsyndrom. Das sei jedoch nur die Spitze des Eisbergs, zahlreiche Betroffene mieden aus Scham den Gang zum Arzt. Tatsächlich sei davon auszugehen, dass bis zu elf Millionen Erwachsene an Symptomen wie Durchfall, Krämpfen oder Verstopfung leiden. Erkrankt seien dabei zunehmend Jüngere. So sei die Anzahl der Betroffenen im Alter von 23 bis einschließlich 27 Jahren zwischen den Jahren 2005 und 2017 von knapp 40.000 auf rund 68.000 gestiegen. Dies sei ein Zuwachs von 70 Prozent. „Aufgrund dieser hohen Relevanz muss die Versorgung der Betroffenen deutlich besser werden“, forderte der Barmer-Vorstandsvorsitzende, Prof. Dr. Christoph Straub.
Schwerwiegende Defizite bei der Reizdarmbehandlung
Im Jahr 2017 hätten mehr als 130.000 Reizdarm-Patienten Computertomografien (CT) und mehr als 200.000 Betroffene Magnetresonanztomografien (MRT) erhalten, obwohl sie bei dieser Erkrankung von zweifelhaftem Nutzen seien. Rund 100.000 Personen bekämen opioidhaltige Schmerzmittel, bei denen eine Abhängigkeit drohe. Straub: „Menschen mit Reizdarmsyndrom leiden nicht an einer rein körperlichen Erkrankung. Das muss bei Diagnostik und Therapie stärker berücksichtigt werden.“ Nötig sei ein multidisziplinärer Behandlungsansatz, schließlich sei nicht allein der Darm das Problem.
Odyssee bis zur klaren Diagnose
Besonderes Augenmerk richtet der Report auf den viel zu häufigen Einsatz bildgebender Verfahren. Gerade CT sollten aufgrund der hohen Strahlenbelastung nur zurückhaltend eingesetzt werden. Trotzdem hätten 9,2 Prozent der ambulanten und 5,6 Prozent der Fälle im Krankenhaus im zeitlichen Umfeld der Diagnose eine CT-Untersuchung erhalten. Ein ähnliches Bild zeigten die MRT, die sich ebenso wenig für die Diagnostik des Reizdarms eigneten. Trotzdem hätten rund um die Diagnose ambulant 17,1 Prozent und im Krankenhaus 3,2 Prozent der Fälle ein MRT erhalten. „Bei der Behandlung des Reizdarmsyndroms ist es besonders wichtig, den ganzheitlichen Blick auf Körper und Geist zu richten. Eine reine Gabe von Medikamenten ist der falsche Ansatz“, sagte der Autor des Arztreports und Geschäftsführer des aQua-Instituts in Göttingen, Prof. Dr. Joachim Szecsenyi. Das sei vor allem wichtig, da viele der Betroffenen eine wahre Arzt-Odyssee durchlaufen würden, bevor sie die richtige Diagnose erhielten.
Einsatz von Magensäureblockern kann abhängig machen
In der üblichen Therapie der Betroffenen gibt es laut Arztreport verschiedene zweifelhafte Ansätze, die nicht frei von Risiken sind. Demnach würden den Patientinnen und Patienten häufig Protonenpumpenhemmer, umgangssprachlich Magensäureblocker, verordnet. 38,6 Prozent, also rund 400.000 Betroffene, erhielten diese Medikamente. „Es ist kritisch zu hinterfragen, dass so viele Menschen mit Reizdarmsyndrom Magensäureblocker erhalten“, so Szecsenyi. Eigentlich sollten sie zum Schutz des Magens gegen zu viel Magensäure eingesetzt werden. Der Nutzen bei einem Reizdarmsyndrom sei dagegen umstritten. Daher sollten Magensäureblocker nur dann über einen längeren Zeitraum verordnet werden, wenn eine medizinische Indikation bestehe. Aber auch opioidhaltige Schmerzmittel würden vergleichsweise häufig verschrieben und zwar an rund 100.000 Patienten und damit immerhin 44 Prozent mehr als in einer Vergleichsgruppe. Hier sei nicht nur die Wirkung fraglich, sondern auch das Risiko einer Medikamentenabhängigkeit gegeben. Damit werde den Menschen aber nicht wirklich geholfen.
Multidisziplinärer Ansatz bei Reizdarmsyndrom
Wer an einem Reizdarmsyndrom erkrankt ist, verursache den Reportergebnissen zufolge bereits acht Jahre vor der Erstdiagnose deutlich höhere Kosten als Vergleichspersonen, die diese Erkrankung nicht haben. „Die Betroffenen leiden mitunter schon viele Jahre an einem Reizdarmsyndrom und suchen deswegen immer wieder Hilfe beim Arzt. Die Erkrankung wird aber lange Zeit nicht erkannt, und die Betroffenen erhalten eine falsche Therapie“, betonte Barmer-Chef Straub. Wenn die Diagnose feststehe, stiegen die Behandlungskosten noch einmal deutlich an. Das läge auch an den bereits erwähnten Verfahren, die dann zum Einsatz kämen.
Straub: „Es ist enorm wichtig, dass die Reizdarm-Patientinnen und -Patienten die Behandlung erhalten, die sie brauchen.“ Laut Szecsenyi sei ein multidisziplinärer Ansatz unerlässlich, in dem Hausärzte oder Internisten eng mit Schmerztherapeuten, aber auch zertifizierten Ernährungsexperten zusammenarbeiteten. Nicht fehlen dürfe der Aspekt der Psychosomatik. Das Reizdarmsyndrom könne eben auch seelische Ursachen haben.
Daten aus dem Barmer-Arztreport 2019
Im Jahr 2017 haben von 100 Versicherten 93 eine ambulante ärztliche Versorgung benötigt. Hochgerechnet auf die bundesdeutsche Bevölkerung bedeutet dies, dass etwa 77 Millionen Menschen ambulanter medizinischer Hilfe bedurften. Dabei variierten die Behandlungsraten zwischen den Regionen nur minimal und reichten von 92,2 Prozent in Berlin bis hin zu 93,9 Prozent im Saarland. Im Durchschnitt entfielen im Jahr 2017 auf jeden Bundesbürger 8,58 Behandlungsfälle. Das entspricht etwas mehr als 700 Millionen einzelnen Behandlungsfällen (im Report Seiten 43 und 61).
Im Jahr 2017 lagen die Behandlungskosten für die ambulante ärztliche Versorgung im Schnitt bei 572,12 Euro je Versicherten. Das ist ein Plus von zwei Prozent im Vergleich zum Vorjahr mit 561,14 Euro pro Versicherten. Während sich im Jahr 2017 die Durchschnittskosten bei Frauen auf 646 Euro beliefern, waren es bei Männern 496 Euro. Die im Durchschnitt geringsten jährlichen Kosten fielen in der Gruppe der 20- bis 24-jährigen Männer mit 221 Euro an und die höchsten Kosten mit 1.200 Euro bei den 85- bis 89-jährigen Männern (Seite 13).
Vor allem in Hamburg und Berlin waren im Jahr 2017 die Behandlungskosten je Versicherten vergleichsweise hoch. Mit 650 Euro in der Hansestadt und mit 643 Euro in der Hauptstadt lagen sie um 13,6 beziehungsweise 12,4 Prozent über dem Bundesdurchschnitt von 572 Euro. Die geringsten Kosten lagen in Brandenburg mit 531 Euro um 7,2 Prozent unter dem deutschlandweiten Schnitt (Seite 61).
Im Jahr 2017 diagnostizierten die Ärzte bei 35,4 Prozent der Bevölkerung Krankheiten an der Wirbelsäule und am Rücken, darunter bei 39,5 Prozent der Frauen und 31,3 Prozent der Männer. 30,3 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger gingen wegen akuten Infektionen der oberen Atemwege zum Arzt, darunter 31,6 Prozent der weiblichen und 28,9 Prozent der männlichen Versicherten. 29,1 Prozent der Bevölkerung bekamen die Diagnose Bluthochdruck gestellt. Hier war der Anteil der Frauen mit 29,3 Prozent nur unwesentlich höher als der der Männer mit 28,8 Prozent (Seite 72).