Zu viele Psychopillen für Kinder, zu viele Beruhigungsmittel für demente Senioren und viele Wirkstoffe gleichzeitig für ältere Menschen – zu diesen Feststellungen kommt der Arzneimittelreport 2013 der Barmer GEK.
"Gerade die Ergebnisse zur Polypharmazie zeigen, dass wir dringend mehr Vernetzung und Transparenz im Gesundheitswesen brauchen", resümiert Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Barmer GEK. "Hätten wir die elektronische Gesundheitskarte, das elektronische Rezept und die elektronische Patientenakte, hätten behandelnde Ärzte und auch Apotheker einen viel besseren Überblick über die Arzneimitteltherapie." Die riskante Multimedikation ließe sich durch elektronische Vernetzung viel besser steuern. Es müsse endlich Schluss sein mit der Blockadepolitik namhafter Ärztefunktionäre gegen eine moderne Telematikinfrastruktur.
Basierend auf Daten von 2,1 Millionen Versicherten über 65 Jahre haben die Autoren des Arzneimittelreports um den Bremer Versorgungsforscher Prof. Dr. Gerd Glaeske analysiert, wie häufig Patienten mehrere Arzneimittelwirkstoffe parallel verordnet bekommen. Dabei zeigte sich, dass ein Drittel der Versicherten von Polypharmazie betroffen ist, also täglich mehr als fünf Arzneimittelwirkstoffe einnimmt. Bei den Hochbetagten zwischen 80 und 94 Jahren ist fast jeder Zweite betroffen. Im Durchschnitt nehmen Männer über 65 Jahre täglich 7,3 Wirkstoffe ein, bei Frauen dieser Altersgruppe sind es 7,2. Glaeske: "Darunter leidet vor allem auch die Therapietreue."
Besorgniserregend hoch stufen die Bremer Forscher die Verordnungszahlen von Antipsychotika für Kinder und Jugendliche ein. Von 2005 bis 2012 sind die Verschreibungen um 41 Prozent gestiegen. Verursacht werden die Zuwächse vor allem durch neuere Präparate (+ 129 Prozent), während die Verschreibungen älterer Medikamente leicht rückläufig sind. Ein differenziertes Bild zeigt der Blick auf einzelne Altersgruppen. Bei Kleinkindern bis vier Jahren verschreiben Ärzte kaum noch Antipsychotika. Bei allen anderen steigen die Verordnungszahlen, am stärksten bei den 10- bis 14-Jährigen. "Eine medizinische Erklärung dafür lässt sich nicht direkt herleiten", betont Glaeske. Weder zeigten Studien einen Anstieg psychiatrischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, noch hätten sich die relevanten Therapieempfehlungen geändert. Zudem dürfe man nicht ausblenden, dass Antipsychotika zum Teil gravierende unerwünschte Wirkungen haben.
Kritisch bewertet das Autorenteam vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen den Einsatz von so genannten Benzodiazepinen bei Menschen mit einer Demenzerkrankung. Diese Schlaf- und Beruhigungsmittel wurden 2010 rund 3.500 Versicherten der Barmer GEK verschrieben. "Das Risiko, Benzodiazepine verordnet zu bekommen, ist bei Menschen mit Demenz um das 1,5-fache erhöht", so Glaeske. Mit dem Wirkstoff verbunden sei ein Verlust kognitiver Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Erinnerung oder Lernen. Glaeske: "Ohne Zweifel sind viele ältere Menschen von Benzodiazepin-haltigen Arzneimitteln abhängig. Sie bekommen sie vermutlich oft nur, um quälende Entzugssymptome zu vermeiden." Denkbar sei jedoch, dass sich nach langen Jahren der Abhängigkeit eher eine Demenz entwickle als bei Menschen, die deutlich seltener solche Mittel eingenommen haben.