Kaum ein gesundheitspolitisches Thema bewegt die Menschen so sehr wie die Dauer-Reformbaustelle im deutschen Pflegesystem. Deshalb hat die Barmer Landesvertretung im Mai das erste Thüringer Pflegeforum ins Leben gerufen und Vertreter aus Politik Wissenschaft und Praxis zur Diskussion eingeladen. Vor allem die Themen Qualität, Prävention und pflegende Angehörige standen im Mittelpunkt.
Eine tickende Zeitbombe: steigende Eigenanteile
Die Thüringer könnten sich im Grunde freuen, denn wer pflegebedürftig ist, zahlt heute bundesweit im Durchschnitt deutlich weniger als in anderen Bundesländern. Doch das „Teilkasko“-System hat seine Tücken: Alle Verbesserungen der Infrastruktur, in der Ausbildung oder höhere Löhne für Pflegekräfte werden nach der heutigen Gesetzgebung in erster Linie durch die Pflegebedürftigen selbst finanziert. Für Thüringen heißt das: Sie müssen in den kommenden Jahren mit erheblich steigenden Eigenanteilen rechnen.
Nach einer aktuellen Auswertung der Barmer liegt der Eigenanteil derzeit mit rund 1.200 Euro monatlich fast ein Drittel unter dem bundesweiten Durchschnitt (siehe Grafik). In Nordrhein-Westfalen müssen Pflegebedürftige mit rund 2.250 Euro fast doppelt so viel aus eigener Tasche finanzieren. „Es ist zu erwarten, dass sich Thüringen und andere ostdeutsche Bundesländer bei den Eigenanteilen an das Niveau der anderen Länder annähern werden. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Pflege bezahlbar gestalten, ohne dass die Menschen durch zu hohe Eigenanteile in die Armutsfalle geraten“, sagte Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer, beim ersten Thüringer Pflegeforum in Erfurt.
Dziuk: „Gute Pflege kostet gutes Geld.“
„Die Einführung eines bundesweiten Personalbemessungsverfahrens und die notwendige Steigerung der Entgelte für Pflegekräfte wird in Thüringen zu einem deutlichen Anstieg der Pflegesätze führen“, bestätigte Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen. Hauptursachen hierfür seien das niedrigere Lohnniveau und die niedrigere Personalausstattung in thüringischen Pflegeheimen. Für die Zukunft sei zudem mit einem um Dimensionen größeren Pflegenotstand zu rechnen als bisher, sagt Rothgang: „Während der Umfang der Erwerbsbevölkerung zurückgeht, erwarten wir in den nächsten 40 Jahren eine Steigerung der Zahl der Pflegebedürftigen um 70 bis 80 Prozent. Der Anteil der Erwerbspersonen, die in der Langzeitpflege arbeiten, muss sich also verdoppeln, nur um die heutigen Betreuungsrelationen aufrechterhalten zu können.“ Die Folgen für Thüringen seien klar, so Dziuk: „Gute Pflege kostet gutes Geld. Dass Altenpfleger in Thüringen im Durchschnitt ein Drittel weniger verdienen als beispielsweise in Baden-Württemberg, wird sich in den kommenden Jahren ändern. Schon heute ist der Arbeitsmarkt leergefegt und wandern Fachkräfte ab.“
Fast jeder zehnte bezieht Hilfe zur Pflege
Inzwischen springen Kommunen in Thüringen immer häufiger ein, wenn Pflegebedürftige den Eigenanteil nicht selbst finanzieren können. Laut Statistischem Landesamt erhält fast jeder zehnte Pflegebedürftige die sogenannte Hilfe zur Pflege – im Jahr 2016 waren es 8.259 Personen. Davon lebten rund 6.000 Empfänger in Pflegeeinrichtungen. Dziuk plädiert für eine stärkere Entlastung der Pflegebedürftigen: „Es bestehen im heutigen System massive Fehlanreize: Derzeit müssen Pflegebewohner über den Eigenanteil sowohl Investitionskosten, beispielsweise für bauliche Modernisierungen, als auch Ausbildungskosten tragen“, erklärt Dziuk. Investitionen in die Ausbildung von Fachkräften und die Infrastruktur seien jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der sich auch Bund und Länder beteiligen müssen. Gleichzeitig sei es erforderlich die Leistungen der Pflegekassen per Gesetz zu dynamisieren, damit steigende Kosten für die Altenpflege nicht allein von den Pflegebedürftigen getragen werden müssen, so Dziuk. „Wir müssen uns aber ehrlich in die Augen schauen: Dies wird angesichts der demografischen Entwicklung nicht ohne höhere Pflegebeiträge möglich sein.“
Landtag für Pflege-Schlüssel 2019
Die regierungstragenden Fraktionen im Thüringer Landtag haben im April verbindliche Pflegepersonalschlüssel gefordert. Die Landesregierung wird in dem gemeinsam Beschluss aufgefordert, sich über die Rahmenverträge nach § 75 SGB XI für verbindliche Personalschlüssel für Altenpflegeeinrichtungen in Thüringen bis 2019 einzusetzen. Die Verhandlungen zu den Rahmenverträgen laufen derzeit in Thüringen. Die Landesregierung soll sich außerdem auf Bundesebene für die Einführung verbindlicher Personalschlüssel in Krankenhäusern einsetzen. Ebenfalls auf der Liste: Das Land möchte die Kommunen bei der Entwicklung einer bedarfsgerechten Sozialinfrastruktur zur Verbesserung der Pflege und Stärkung der präventiven Angebote mit dem Ziel des Alterns in Würde im gewohnten Umfeld unterstützen und in diesem Zusammenhang die Förderung integrierter Sozialplanung prüfen.
Kommentar
Birgit Dziuk: Es muss ein Ruck durch die Pflege gehen!
In der Pflege, vor allem in der Altenpflege, besteht dringender Handlungsbedarf. Insbesondere der Personalmangel ist ein Problem, weil es unattraktiv ist, in einem Beruf zu arbeiten, wo Kollegen fehlen und Überlastung zum Alltag gehört. Wir müssen die Bedingungen in der Pflege verbessern, dann bleiben auch mehr Menschen in der Pflege tätig. Deshalb unterstützen wir die Einführung von Personalschlüsseln in Thüringen.
Allerdings sollten die Ergebnisse des vom Bund in Auftrag gegebenen Gutachtens zu bundesweiten Pflegeschlüsseln, das derzeit von Prof. Rothgang erstellt wird, nach 2020 zur Anpassung der Regelungen in Thüringen führen. Sie werden von uns im Übrigen ausdrücklich nicht als Höchst-, sondern als Untergrenze verstanden. Der jeweilige Bedarf in den Einrichtungen kann je nach Pflegegrad der Bewohner stark schwanken. Deshalb sollte die Einführung eng begleitet und evaluiert werden, um mögliche Fehlentwicklungen korrigieren zu können.
Schon heute ist klar: Umsonst wird es Verbesserungen nicht geben. Allein durch die drei Pflegestärkungsgesetze stiegen die Ausgaben von 31 auf 37 Milliarden Euro von 2016 auf 2017! Das ist die größte Steigerung seit Gründung der Pflegeversicherung und hat vielen Menschen geholfen. Dies war überfällig. Denn hier wird weniger für Pflege ausgegeben als im OECD-Schnitt: In Deutschland sind es 1,3 Prozent des BIP, in Dänemark dagegen 2,6 Prozent. Aber wir müssen die Finanzierung auch vereinfachen. Es wird derzeit diskutiert, ob Teile der Finanzierung, vor allem die häusliche Krankenpflege, aus dem SGB V in das SGB XI verlagert werden soll. Das heißt ein Finanz-Topf für die gesamte Pflege. Ich kann diese Debatte nur begrüßen. Voraussetzung dafür sind allerdings eine Reform des Risikostrukturausgleichs, weil es sonst zu weiteren Verwerfungen kommt, sowie eine Implementierung von SGB-V-Instrumenten, um begrenzte Ressourcen bedarfsgerecht einzusetzen.