Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Thüringen. Foto: Michael Reichel
STANDORTinfo Thüringen

Appell an die Thüringer Politik

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Redaktion

  • Robert Büssow (Politik-Referent Barmer Thüringen)

Im Vorfeld der Thüringer Landtagswahl 2024 appelliert Birgit Dziuk,  Landeschefin der Barmer Thüringen, im STANDORTinfo-Interview an die Politik, künftig den Mut zu haben, auch schwierige Entscheidungen zu treffen. Die Qualität der Versorgung muss das gemeinsame Leitmotiv sein.

Frau Dziuk, warum mischt sich die Barmer ein bei der Landtagswahl in Thüringen?
Das Selbstverständnis der Krankenkassen hat sich stark gewandelt. Die Barmer versteht sich nicht nur als Kostenträgerin, die Anträge bearbeitet und Rechnungen bezahlt. Wir setzen uns aktiv auf allen Ebenen dafür ein, dass die Gesundheitsversorgung der Thüringerinnen und Thüringer eine hohe Qualität hat. Aber wir brauchen politische Unterstützung, wenn es darum geht, zeitgemäße Strukturen und Angebote zu schaffen.

Wenn Sie auf die ablaufende Legislaturperiode zurückblicken, sind Sie zufrieden?
Ja und nein. Man darf die enorme Leistung vieler Menschen, Institutionen und auch des Landes Thüringen zur Bewältigung der Covid-Pandemie nicht kleinreden, denn das war eine Ausnahmesituation. Es wurde gemeinsam verhindert, dass das Gesundheitssystem unter der Belastung zusammenbricht. Unzufrieden bin ich natürlich, weil wertvolle Jahre für nötige Strukturreformen nahezu tatenlos verstrichen sind. Insbesondere bei der Krankenhausplanung wollte man schon viel weiter sein.

Haben die Werkstatt-Gespräche des Gesundheitsministeriums für die Krankenhausreform zu viel Zeit gekostet?
Natürlich haben sie Zeit gekostet. Aber es war richtig, sich die Zeit zu nehmen, um einen gemeinsamen Konsens herzustellen. Mit der nötigen Akzeptanz steht und fällt jede echte Strukturreform. Es ist ein bemerkenswerter Fortschritt, dass Gesetzliche Krankenversicherung, Landeskrankenhausgesellschaft, Landesärztekammer und Kassenärztliche Vereinigung ein gemeinsames Zielbild erstellt haben. Das ist für Thüringen einmalig und stimmt mich optimistisch. Nun muss dieses Zielbild auch orchestriert werden. Im Land fehlen dazu jedoch noch Entscheidungen und Aktivitäten der praktischen Umsetzung.

Was muss nun in der kommenden Legislaturperiode passieren?
Es gibt einen Reformstau der vergangenen Jahren, den es aufzuholen gilt. Dabei können die Erfahrungen der Pandemie sogar helfen. Eine Lehre ist, dass ein starker ambulanter Bereich die Krankenhäuser vor Überlastung schützen kann. Die Ambulantisierung ist also kein Selbstzweck, sondern medizinisch und strukturell geboten. Eine weitere Lehre ist, dass Krankenhäuser unterschiedlicher Leistungsstufen kooperieren können und gemeinsam stärker sind. Im Thüringer Covid-Versorgungsnetz wurden Patientinnen und Patienten je nach Verlauf der Erkrankung verlegt. Diese Art, konsequent bedarfsgerecht zu handeln und, wenn nötig, in spezialisierte Zentren zu verlegen, ist eine Blaupause für die künftige Reform. Ein weiteres Learning ist, dass mehr Daten, mehr Digitalisierung und Vernetzung nötig sind, damit die Versorgung effektiver wird. Nicht nur im öffentlichen Gesundheitsdienst. Zeitweise glich das Pandemie-Management einem Blindflug.

Was heißt das nun konkret für die Parteien im Landtag und die künftige Regierung?
Die Chancen für eine Krankenhausreform stehen in kaum einem Bundesland so gut wie in Thüringen. Denn es geht nicht um Schließungen, sondern um die Weiterentwicklung der Standorte – im Kontext mit anderen Standorten der Region. Als Rahmen bieten sich die vier Planungsregionen an, die es ohnehin schon gibt. Das macht die Reform deutlich einfacher. Trotzdem wird es die Transformation nicht zum Nulltarif geben. Es braucht einen zusätzlichen Transformationsfonds. Der muss schnell kommen, denn sonst könnte es Versorgungsstrukturen treffen, die weiterhin benötigt werden.

Die Menschen sorgen sich vor allem um die Grundversorgung abseits der Städte. Wie soll das angesichts des Personalmangels funktionieren?
Eigentlich braucht es nicht nur eine Krankenhausreform, sondern eine Versorgungsreform, die wesentlich von der ambulanten Versorgung getragen wird. Denn die flächendeckende medizinische Versorgung wird künftig nur möglich sein, wenn es überall kleine, moderne regionale Gesundheitszentren als erste Anlaufstelle gibt, früher bekannt als Poliklinik. Der Vorteil ist, dass diese Mini-Kliniken mit deutlich weniger Personal auskommen, und trotzdem vieles leisten können – bis hin zu Operationen wie Leistenbruch oder Blinddarm-OPs. Bei größeren Eingriffen wird in das nächste Level verlegt, und nach der OP kommt der Patient zur Nachsorge zurück in das Gesundheitszentrum vor Ort. Dadurch bleiben auch die Wege kurz.

Das klingt jetzt sehr einfach. Warum wird es nicht gemacht?
Der Bund und die Länder sind auf dem Weg dorthin. Trotzdem fehlt für regional passende Lösungen häufig die nötige Rechtsgrundlage. Der Gesetzgeber muss deshalb auf Bundes- und Landesebene den Partnern Freiräume für die regionale Umsetzung eröffnen, indem er für einen begrenzten Zeitraum gesetzliche Restriktionen für Pilotprojekte lockert.

Auch neue Themen rücken in den Vordergrund. Zum Beispiel der Klimawandel. Wie grün ist die Barmer? Mal abgesehen vom Logo...
Der Klimawandel ist auch eine Art Pandemie, die nicht zu unterschätzen ist, selbst wenn sie schleichend daherkommt. Die Barmer möchte ihren Beitrag leisten. Wir setzen konsequent das Prinzip des papierlosen Büros um. Wir nutzen einhundert Prozent Ökostrom. Wir setzen
auf digitale Meetings, was viele Dienstreisen spart. Vom Jahr 2019 bis 2021 hat die Barmer ihren CO²-Ausstoß um 39 Prozent senken können. Und allein die Einführung des elektronischen Krankenscheins spart jeden Monat mehr als fünf Tonnen Papier.

Was wünschen Sie sich von den Politikerinnen und Politikern im Gesundheitsbereich?
Es gibt in meinen Augen parteiübergreifend ein gemeinsames Ziel: Alle möchten möglichst lange gesund bleiben. Alle Politiker sind Patientinnen und Patienten in dem System, das sie selbst mitgestalten. Daher appelliere ich an jede und jeden Einzelnen, den Mut zu haben, auch schwierige Entscheidungen zu treffen. Die Qualität der Versorgung muss das gemeinsame Leitmotiv sein. Dafür wünsche ich mir Klarheit, Schnelligkeit, Mut und Pragmatismus. Thüringen braucht eine Gesamtversorgungsstrategie, die konzeptionelle Vorstellungen mit praxisbezogener Umsetzung verbindet. Dass die Barmer und die gesetzliche Krankenversicherung, die Ärzteschaft sowie weitere Akteure dem Land hierbei verlässlich zur Seite stehen, ist dabei selbstverständlich.