Die elektronische Patientenakte (ePA) geht zum 1. Januar 2021 an den Start. Auf die Ärzte kommt dann auch die Aufgabe zu, diese zu befüllen und ihre Patienten bei der Nutzung zu unterstützen. Allerdings fühlen sich nur 27 Prozent der Ärzte gut oder sehr gut für eine Beratung zur ePA gewappnet. 40 Prozent der Befragten sind unentschieden. Das geht aus einer repräsentativen bundesweiten Umfrage der Barmer unter 1.000 Ärztinnen und Ärzten von März bis Mai dieses Jahres hervor. Zudem wünschen sich 94 Prozent mehr Informationen. Die Barmer hat bereits jetzt eine Liste erstellt, die Ärztinnen und Ärzte in der „Lernphase“ unterstützen soll. Dr. Annette Rommel, Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen, gewährt im Interview mit der Barmer Einblick in das Stimmungsbild unter Thüringens Medizinerinnen und Medizinern.
Frau Dr. Rommel, Sie sind selbst Hausärztin. Fühlen Sie sich gewappnet, ihre Patienten zur elektronischen Patientenakte zu beraten?
Ich fühle mich als Hausärztin und Standespolitikerin sehr gut dafür gewappnet. Aber auch meine Kolleginnen in der Praxis, die nicht so intensiv mit der Standespolitik vertraut sind wie ich, könnten die Patienten bei Bedarf beraten. Wir haben nur zur Zeit wenig Nachfrage von unseren Patienten und deshalb wenig Gelegenheit, das Thema kontinuierlich in den Arbeitsalltag einzubauen.
Wie sieht es bei Ihren niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen im Freistaat aus?
Die Kolleginnen und Kollegen in Thüringen sind zur Zeit wesentlich mehr mit der Pandemie und allen möglichen Rechtsverordnungen beschäftigt als mit der ePA. Dazu kommen noch verschiedene Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Telematikinfrastruktur, die im Laufe der Zeit auf uns zukommen, und das alles vor dem Hintergrund der wochenlangen technischen Panne bei der TI. Da ist jede Kollegin und jeder Kollege individuell mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert. Auch die ePA wird differenziert betrachtet. Es gibt Befürworter, die sich von selbst damit beschäftigen, Interessierte, die aber von den immer wieder auftretenden Probleme mit der TI zu Recht genervt sind und deshalb den Anwendungen kritisch gegenüberstehen, und natürlich gibt es auch Kolleginnen und Kollegen, die das völlig ablehnen.
Wo und wie informieren sich Ärztinnen und Ärzte über das, was uns ab 1. Januar 2021 erwartet?
Ich denke, die meisten Informationen erhalten sie durch uns, ihre KV. Wir haben in der Geschäftsstelle Ansprechpartner zu allen Fragen der Telematikinfrastruktur. Außerdem thematisieren wir die TI und ihre Komponenten regelmäßig in unserem Mitgliedermedien. Natürlich erhalten die Kolleginnen und Kollegen auch Informationen von Herstellern oder fragen ihre IT-Dienstleister. Aber damit machen sie sehr unterschiedliche Erfahrungen. Hersteller-Informationen sind oft Marketing-getrieben, die Qualität der IT-Dienstleister ist sehr unterschiedlich.
Die elektronische Patientenakte soll den Patientinnen und Patienten Doppeluntersuchungen ersparen und die Kommunikation zum Beispiel bei Arzneimittelverordnungen verbessern. Was denken Sie, ist das mit der ePA möglich?
Mit den Doppeluntersuchungen ist das immer so eine Sache. Wer sagt denn, dass es nicht manchmal fachlich sinnvoll ist, wenn zwei Ärzte einen Patienten unabhängig voneinander untersuchen und dann ihre Ergebnisse austauschen? Wichtig ist jedoch, dass jeder behandelnde Arzt den gesamten Krankheitsverlauf und dabei wegweisende Befunde zur Verfügung hat, dadurch nichts übersieht beziehungsweise keine unnötigen Untersuchungen durchführt. Das könnte mit der ePA gelingen, wenn sie übersichtlich aufgebaut und mit einer einfachen, schnellen Suchfunktion ausgestattet ist, und wenn sie für alle gleichermaßen lesbare Befunde enthält. Eine Ansammlung von PDF-Dateien nützt niemandem. Für die Behandlung unserer Patienten benötigen wir ein intelligentes System
Die ePA kann auch als Instrument für den Informationsaustausch unter Ärztinnen und Ärzten dienen. Was spricht aus Ihrer Sicht dafür, was dagegen?
Gegen eine Informationsaustausch zwischen Ärzten und übrigens auch mit Angehörigen anderer Gesundheitsberufe spricht gar nichts – im Gegenteil, er ist dringend notwendig. Ob hier jedoch die ePA das vorrangige Medium sein wird, glaube ich nicht. Ich sehe da eher den elektronischen Arztbrief. Aber keine Frage: ein Arzt, der sich die Akte anschaut, findet dort Informationen, die ein anderer eingestellt hat.
Hand aufs Herz: Wie viele Ärztinnen und Ärzte arbeiten noch täglich mit Fax-Geräten?
Viele, wenn nicht sogar alle. Das ist auch völlig normal. Sie als moderne Krankenkasse verschicken ja auch noch Briefe mit der Post und bearbeiten Anträge Ihrer Mitgliedern auf Papier. Und selbst der Technik-affinste junge Mensch nutzt hin und wieder ein ganz konventionelles Telefon. Dass die Kommunikation, je nach Zweckmäßigkeit, mal so und mal so abläuft – daran ändern ePA und e-Arztbrief ebenso wenig wie Smartphone und Tablet. Was wir Schritt für Schritt ändern wollen, ist, dass Arzt A seine Diagnosen und Therapieansätze ausdruckt, per Brief oder Fax an Arzt B schickt, und Arzt B scannt es dann bei sich wieder ein, um es digital auf dem Schirm zu haben. Diesen 'digitalen Bruch', wie das mal eins unserer Mitglieder genannt hat, wollen wir beseitigen, und dabei hilft die ePA.
Bewähren wird sich die ePA im Sinne der Patienten nur, wenn Ärzte sie in ihren Alltag integrieren. Was kann die Ärzteschaft aus Ihrer Sicht zum Gelingen beitragen? Was muss bei der ePA noch verändert werden?
Was viele einzelne Ärzte gemeinsam mit ihrer Selbstverwaltung im Moment tun, ist, dass wir versuchen, unseren ärztlichen Sachverstand in die Entwicklung der Produkte einzubringen. Die Hersteller sind da unterschiedlich zugänglich. Ich kenne einen Thüringer Hersteller von Praxis-IT, der lädt regelmäßig Ärzte zu Workshops ein und fragt sie nach Anwendererfahrungen, um sie in die Entwicklung neuer Produkte einfließen zu lassen. Das ist toll, aber leider nicht die Regel. Eine elektronische Patientenakte muss gut in den Praxisalltag integrierbar sein und einfach in der Handhabung, auch für Laien. Wenn das funktioniert und sich ein digitales Produkt, wie die ePA gut in die Praxisabläufe einbinden lässt, dann spürt die Ärztin oder der Arzt auch einen erheblichen Informationsgewinn und wird die ePA akzeptieren und nutzen.
Wir dürfen nicht vergessen: Das, was heute gemeinhin Digitalisierung genannt wird, ist kein Selbstzweck. Allein weil es neue Produkte gibt, muss sie niemand nutzen. Die Produkte müssen Ärzten und Patienten einen merklichen Mehrwert im Alltag bringen – dann werden sie auch genutzt.
Ist die ePA ein Instrument, die sektorenübergreifende Versorgung voranzubringen?
„Sektorenübergreifende Versorgung“ ist eine meiner Lieblingsphrasen – die Betonung liegt hier auf „Phrase“. Ambulanter und stationärer Sektor arbeiten jetzt schon gut zusammen, es hat nur jeder andere Aufgaben. Dass durch die ePA der Informationsfluss zwischen allen Akteuren des Gesundheitswesens wesentlich verbessert wird und reibungsloser läuft, wäre absolut wünschenswert im Sinne der Patienten. Es wird auf alle Fälle die Zusammenarbeit des ambulanten mit dem stationären Bereich verbessern.
Im Hinblick auf gut informierte, „mündige“ Patientinnen und Patienten – Kann die ePA helfen, die partizipatorische Entscheidungsfindung und den Blick auf Qualitätsparameter zu unterstützen?
Es ist mir außerordentlich wichtig, dass Patienten, die das wünschen, in Entscheidungen zum Umgang mit ihren gesundheitlichen Problemen einbezogen werden. Dazu müssen sie generell informiert sein und auch ihre Befunde kennen. Das ist mit und ohne ePA so. Das möchte aber auch nicht jeder Patient. Viele verlassen sich auch auf die Expertise ihres Arztes oder holen sich eine Zweitmeinung ein. Alles ist legitim und akzeptabel.
Das Interview führte Patrick Krug, Landespressesprecher der Barmer Thüringen.