Erfurt, 10. September 2019 – In Thüringen sind die Akzeptanz und Umsetzung von Impfungen deutlich niedriger als in anderen Bundesländern. Trotz steigender Impfquoten gibt es klaffende Impflücken bei Kleinkindern und Jugendlichen, wie Auswertungen im aktuellen Barmer Arzneimittelreport zeigen. Demnach ist gegen alle wichtigen Infektionskrankheiten, außer Rotaviren, der Impfschutz zweijähriger Thüringer Kinder unterdurchschnittlich im bundesweiten Vergleich.
„Es gelingt unserer Gesellschaft offenbar nicht, Kinder vor vermeidbaren Risiken von Infektionskrankheiten zu schützen“, sagt Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Thüringen. Die Krankenkasse plädiert für zielgruppengerechte, leicht verständliche Aufklärungskampagnen und einfache Zugangswege zum Impfen. Vorstellbar ist aus Sicht der Barmer auch ein Präventionsprogramm ähnlich der Krebsfrüherkennung, um höhere Impfraten zu erreichen.
Den Auswertungen im Barmer Arzneimittelreport zufolge ist mehr als jedes vierte im Jahr 2015 geborene Kind in Thüringen in den ersten beiden Lebensjahren nicht oder nur unvollständig gegen Masern geimpft worden. Im Jahr 2017 waren somit hochgerechnet auf Basis der Barmer-Daten mehr als 5000 Zweijährige in Thüringen ohne ausreichenden Masernschutz, was 28,1 Prozent der Kinder entspricht. In keinem anderen deutschen Bundesland, mit Ausnahme von Sachsen*, liegt der Anteil nicht ausreichend gegen Masern geimpfter Kinder höher als in Thüringen.
Hunderte Thüringer Kinder sind gar nicht geimpft
Erstmals liegen mit dem Barmer Arzneimittelreport auch repräsentative Erhebungen darüber vor, wie viele Kinder überhaupt nicht geimpft sind. Die regelmäßig vom Robert-Koch-Institut veröffentlichten Zahlen basieren auf Erhebungen während der Schuleingangsuntersuchungen und liefern keinerlei Rückschlüsse darauf, wie viele Kinder gar nicht geimpft sind. Laut Auswertungen der Barmer hatten in Thüringen im Jahr 2017 etwa 2,3 Prozent der Kinder im Alter im einschulungsfähigen Alter keinerlei Impfschutz, was hochgerechnet etwa 392 Mädchen und Jungen entspricht.
„Unsere Auswertungen zeigen, dass in Thüringen zu wenige Kinder geimpft werden. Das macht die Ausrottung bestimmter Infektionskrankheiten in Deutschland unmöglich und verhindert den Schutz für all diejenigen, die sich nicht impfen lassen können“, betont Barmer-Landesgeschäftsführerin Birgit Dziuk.
Warum nicht geimpft wird
Anhand der Barmer-Daten ist auch untersucht worden, welche Faktoren Einfluss auf den Impfschutz bei Kindern haben. Dabei hat sich unter anderem ein Zusammenhang zwischen der Präferenz für Homöopathie und der Ablehnung von Impfungen offenbart. Auch bei Kindern mit besonders jungen oder älteren Müttern ist die Wahrscheinlichkeit höher, nicht vollständig geimpft zu sein. Gleiches gilt den Auswertungen zufolge auch für Kinder von Eltern ohne anerkannte Berufsausbildung. Das Geschlecht des Kindes hat hingegen keinen Einfluss auf den Impfstatus. Und jene, die am Kinder- und Jugendprogramm der Barmer teilnehmen, haben statistisch gesehen eine höhere Wahrscheinlichkeit, vollständig geimpft zu sein.
Überholtes Modell Impfpass
Der Impfausweis in Papierform ist sinnvoll, kann aber längst nicht so viel leisten wie ein digitaler Impfplaner, ist man sich bei der Barmer sicher. Für ihre Versicherten bietet die Krankenkasse deshalb die kostenlose Möglichkeit, einen digitalen Impfplaner zu nutzen. Dieser gibt Auskunft über den Impfstatus und erinnert an fehlende oder aufzufrischende Impfungen. „Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Schutz gegen Infektionskrankheiten zu etablieren und diese bestenfalls auszurotten“, erklärt Birgit Dziuk, weshalb die Barmer diesen digitalen Weg beschreitet. Der deutsche Hausärzteverband und erste politische Parteien fordern seit einiger Zeit einen digitalen Impfplaner, der flächendeckend angewendet wird.
Impfen kann auch die Betriebsärztin
Gerade am Arbeitsplatz werden Personengruppen, die selten den Hausarzt oder andere Vertragsärzte aufsuchen, mit Gesundheitsangeboten erreicht. Das Präventionsgesetz in Deutschland sieht vor, dass Impfungen auch von Betriebsärzten zulasten der gesetzlichen Krankenkassen erbracht werden können. Damit dies möglich wird, sind aber noch verschiedene Gesetzesänderungen notwendig, die insbesondere Fragen zur Abrechnung beinhalten. Zumindest Versicherte der Barmer haben bereits seit diesem Jahr die Möglichkeit, auch Schutzimpfungen wie jene gegen Pneumokokken oder Masern vom Betriebsarzt zu erhalten. Die Barmer übernimmt die Kosten dafür. Möglich macht dies ein Vertrag mit der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin. „Das ist der erste bundesweite Vertrag, der die Versorgung mit Schutzimpfungen durch Betriebsärzte in Verbindung mit einem Selektivvertrag zur besonderen Versorgung ermöglicht. Wir halten das für sehr sinnvoll, um Beschäftigte auch im Arbeitsumfeld zu erreichen und die Hürden für Impfungen so niedrig wie möglich zu gestalten“, verdeutlicht Barmer Landesgeschäftsführerin Birgit Dziuk.
Die Ständige Impfkommission (STIKO) entwickelt Impfempfehlungen für Deutschland und berücksichtigt dabei nicht nur deren Nutzen für das geimpfte Individuum, sondern auch für die gesamte Bevölkerung. Die 18-köpfige Expertengruppe ist beim Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin angesiedelt und trifft sich zweimal jährlich, um sich mit den gesundheitspolitisch wichtigen Fragen zu Schutzimpfungen und Infektionskrankheiten in Forschung und Praxis zu beschäftigen und entsprechende Empfehlungen (darunter auch den jeweils gültigen Impfkalender) herauszugeben. Die Empfehlungen der STIKO, die in der Regel jährlich im Epidemiologischen Bulletin des RKI veröffentlicht werden, dienen den Bundesländern als Vorlage für ihre öffentlichen Impfempfehlungen.
Die 13 wichtigsten Infektionskrankheiten, für die die STIKO eine Grundimmunisierung innerhalb der ersten beiden Lebensjahre empfiehlt: Tetanus, Diphtherie, Pertussis (Keuchhusten), Hib (Haemophilus influenzae Typ b), Poliomyelitis (Kinderlähmung), Hepatitis B, Pneumokokken, Rotaviren, Masern, Mumps, Röteln, Varizellen (Windpocken), Meningokokken C; zusätzlich seit Juni 2018 für beide Geschlechter HPV (humane Papillomviren)
In Thüringen sind im Jahr 2019 bislang zwei Masernfälle gemeldet worden. Im Jahr 2018 war es nur einer, im Jahr 2017 waren es sechs Fälle. (Quelle: RKI)