Der Pflegemarkt in Thüringen befindet sich im Umbruch. Betreutes Wohnen und das Leben in Senioren-Wohngemeinschaften erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Für die Bewohnerinnen und Bewohner scheinen sie attraktiv, allerdings bieten sie in der Qualität der Pflege nicht immer, was sie versprechen. Indizien dafür sind dem aktuellen Barmer Pflegereport zufolge unter anderem Krankenhausbehandlungen, weniger Arztkontakte und eine höhere Wahrscheinlichkeit des Wundliegens.
Erfurt, 19.03.2020 – Nach aktuellen Schätzungen der Barmer leben etwa 1000 Menschen in Thüringen in Pflege-Wohngemeinschaften. Mehr als 5000 Personen leben in Anlagen des betreuten Wohnens. Bundesweit existieren bis zu 8.000 betreute Wohnanlagen und 4.000 Pflege-WGs. In Thüringen sind es schätzungsweise 270 betreute Wohnanlagen und mindestens 140 Pflege-WGs. Etwa jede dritte dieser Anlagen ist in den vergangenen zehn Jahren entstanden.
Fehlende Orientierung und Information über die Angebote
„Betreutes Wohnen und Pflege-Wohngemeinschaften sind für die Bewohner und Betreiber zwar finanziell attraktiv, unterliegen aber keinem Qualitätssicherungsverfahren wie die Heime. Angesichts qualitativer Defizite müssen nun zeitnah Qualitätsmaßstäbe für diese Pflege- und Betreuungsformen entwickelt werden“, sagt Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Thüringen. „Im Sinne der Pflegebedürftigen und ihrer Familien ist es außerdem an der Zeit, für mehr Transparenz zu sorgen“, so Birgit Dziuk weiter. Die Barmer fordert für das betreute Wohnen und Pflege-WGs Übersichten über Angebote vor Ort, deren Qualität und Anbieter. Das sei man den Pflegebedürftigen, die sich für diese Wohnformen entscheiden, bislang schuldig geblieben. „Orientierung ist ein immens wichtiger Aspekt, wenn es um die bestmögliche Lebensqualität im Pflegefall geht“, betont die Barmer Landesgeschäftsführerin.
Keine bessere Pflegequalität als in Heimen
Von den über 115.000 Pflegebedürftigen in Thüringen werden rund drei Viertel zuhause betreut. Wer sich für eine Wohngemeinschaft (WG) oder betreutes Wohnen entscheidet, sucht vor allem mehr Lebensqualität im Vergleich zu einem Heim, erwartet aber auch eine entsprechende qualitative Betreuung. Den Ergebnissen des Barmer Pflegereports zufolge gibt es Anzeichen, dass die Qualität der Pflege in den genannten Wohnformen nicht das Niveau wie in Heimen erreicht. Während 86,6 Prozent der Pflegeheimbewohner einmal im Monat ihren Hausarzt sehen, ist das in betreutem Wohnen und in WGs nur bei rund 80 Prozent der Fall. Wegen Erkrankungen, die sich eigentlich ambulant behandeln lassen, müssen durchschnittlich 3,6 Prozent der Bewohner im betreuten Wohnen ins Krankenhaus. In Pflegeheimen betrifft dies nur 2,4 Prozent. Auch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Pflegebedürftige wundliegen, in Pflegeheimen um 66 Prozent niedriger. Als Ursache dafür sieht die Barmer vor allem das Fehlen entsprechender Qualitätsanforderungen.
„Pflege-Tüv“ für Pflege-WGs und betreutes Wohnen
„Wir fordern eine Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen zwischen den Bundesländern und einen ‘Pflege-Tüv‘ für besondere Pflege- und Betreuungsformen“, so Birgit Dziuk. Außerdem plädiert die Barmer dafür, dass die Bundesländer für die Pflege generell die Aufsicht übernehmen und für mehr Transparenz auf dem Markt sorgen.
Wohngemeinschaften und Betreutes Wohnen sind finanziell attraktiv
Dass die besonderen Pflege- und Betreuungsformen sowohl für Bewohner als auch Betreiber finanziell attraktiv sind, resultiert laut Barmer Pflegereport aus deren besonderer Konstruktion. „Diese Shooting-Stars des Pflegemarktes kombinieren Elemente der ambulanten und stationären Pflege aus der Pflegeversicherung mit Leistungen der häuslichen Krankenpflege aus der Krankenversicherung. So lassen sich in besonderen Pflege- und Betreuungsformen maximale Leistungssummen erzielen“, erläutert Barmer-Landeschefin Birgit Dziuk. Nicht selten seien die Summen doppelt so hoch wie in der vollstationären Pflege. „Im Ergebnis entlastet das die Pflegebedürftigen. Die Alternative zum Pflegeheim ist aber auch für die Betreiber wirtschaftlich hoch interessant. Erst recht darf deshalb die Qualität der Pflege nicht auf der Strecke bleiben, denn die Mehrausgaben werden von der Solidargemeinschaft aller gesetzlich Versicherten getragen“, macht Birgit Dziuk deutlich. Laut Barmer Pflegereport haben sich die Ausgaben für die ambulante Pflege in den Jahren 2000 bis 2018 bundesweit von acht Milliarden auf 22,6 Milliarden Euro fast verdreifacht. In der stationären Pflege hat es hingegen nicht einmal eine Verdoppelung der Leistungsausgaben gegeben, von 7,5 auf 14,3 Milliarden Euro.
Trend zur Ambulantisierung der Pflege
„Den Wunsch vieler Seniorinnen und Senioren, in der eigenen Häuslichkeit versorgt und gepflegt zu werden, unterstützen die Pflegekassen mit vielen verschiedenen Leistungen, beispielsweise Umbaumaßnahmen in der Wohnung, Umzug in eine seniorengerechte Wohnung oder in eine gemeinschaftlich organisierte WG“, sagt Birgit Dziuk. „Allerdings entbindet uns das nicht von der Pflicht, bei neuen Entwicklungen auf dem Pflegemarkt genau hinzuschauen.“