Immer mehr junge Menschen in Thüringen benötigen psychotherapeutische Unterstützung. Die Corona-Pandemie könnte die Situation noch deutlich verschärfen. Das geht aus dem Barmer Arztreport Thüringen 2021 hervor.
Erfurt, 15. April 2021 – In Thüringen ist die Zahl der jungen Menschen, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden, zwar deutlich niedriger als in anderen Bundesländern. Dennoch hat sich die Zahl der Betroffenen innerhalb von 11 Jahren nahezu verdoppelt.
„Aus kranken Kindern werden nicht selten kranke Erwachsene. Es ist wichtig, frühzeitig auf die Alarmsignale zu achten. Dessen werden sich offenbar immer mehr Menschen in Thüringen bewusst und suchen sich professionelle Hilfe“, sagt Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer Thüringen. Entscheidend seien außerdem Aufklärung, Wissensvermittlung sowie bekannte und gut erreichbare Hilfsangebote für die Heranwachsenden selbst, deren Eltern, Freundeskreis und pädagogische Fachkräfte.
Den Barmer-Auswertungen zufolge haben in Thüringen im Jahr 2019 etwa 3,4 Prozent der unter 24-Jährigen psychotherapeutische Leistungen in Anspruch genommen. Das entspricht rund 15.300 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Niedriger ist der Anteil nur in Mecklenburg-Vorpommern mit 3,3 Prozent. Der bundesweite Schnitt liegt bei 4,1 Prozent.
Seit 2009 hat sich der Anteil junger Menschen in Psychotherapie in Thüringen nahezu verdoppelt. Die Zahl der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten ist ebenfalls angewachsen, sie hat sich in Thüringen bereits innerhalb von neun Jahren verdoppelt. Auf 100.000 junge Thüringerinnen und Thüringer kommen im Freistaat 28,6 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.
Zurückhaltung durch Lockdown vor allem in Thüringen
Die Corona-Pandemie samt strikter Kontaktbeschränkungen hat in Thüringen, entgegen dem Trend in allen anderen Bundesländern, zunächst zu einem Rückgang der Inanspruchnahme geführt. Bei Barmerversicherten Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis einschließlich 24 Jahren sanken die Zahlen für die Akutbehandlung sowie die Anträge etwa für die erstmalige Therapie und deren mögliche Verlängerung in 2020 um 1,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bundesweit hingegen gab es einen Anstieg um 6 Prozent. „Warum die Zahlen für Thüringen rückläufig sind und in anderen Bundesländern nicht, geht aus den Abrechnungsdaten nicht hervor", so Birgit Dziuk. Es bestehe Forschungsbedarf, um die Ursachen zu klären.
Thüringens Barmer-Chefin betont in diesem Zusammenhang, dass ein gefestigtes soziales Umfeld, zeitnahe Hilfe und Prävention die entscheidenden Faktoren seien, damit psychische Probleme erst gar nicht entstehen oder sich verstetigen und zu psychischen Erkrankungen führen. „Zögern ist die schlechteste Option. Das gilt in Pandemiezeiten ebenso wie in Zeiten ohne Pandemie“, warnt Birgit Dziuk.
Gezielte Hilfen für betroffene Kinder
Eltern, Bezugspersonen, Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sowie ärztliche und psychologische Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssten im Sinne der betroffenen Kinder und Jugendlichen möglichst eng zusammenarbeiten, so Birgit Dziuk weiter. Eine enge Kooperation, auch mit Schulen und Jugendämtern, sei während der Corona-Pandemie zwar deutlich erschwert, aber wichtiger denn je.
Gerade jetzt seien die Kinder und Jugendlichen stark psychisch belastet, was auch aktuelle Befragungsergebnisse der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK) belegen. „80 Prozent unserer an der Umfrage teilnehmenden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten bestätigten, dass im zweiten Lockdown die Anfragen von hilfesuchenden Familien in den Praxen deutlich gestiegen sind“, sagt Dr. Rüdiger Bürgel, Mitglied der OPK und niedergelassener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Erfurt.
„Gerade die Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen ist nach der Einschätzung der Kolleginnen und Kollegen besonders von den Lockdown-Regelungen betroffen. Jugendliche und junge Erwachsene leiden vermehrt an Depressionen und benötigen viel mehr Krisenintervention in Bezug auf Ängste und erlebte Hoffnungslosigkeit“, macht Dr. Bürgel deutlich. Die Mischung aus Rückzug, Antrieblosigkeit, Wut und gestiegenem Medienkonsum werde deutliche Spuren hinterlassen, so Bürgel weiter.
10.000 junge Thüringer im Kinder- und Jugendprogramm
Auch aus Sicht der Barmer besteht die Gefahr, dass die Corona-Pandemie besonders jenen jungen Menschen Probleme bereitet, die ohnehin schon psychisch angeschlagen sind. „Hier ist schnelle und unkomplizierte Hilfe
besonders wichtig“, betont Birgit Dziuk. Die Barmer biete dies zum Beispiel über ihr Kinder- und Jugend-Programm (KJP), bei dem derzeit in Thüringen knapp 10.000 Kinder und Jugendliche eingeschrieben seien.
Zudem unterstützt die Barmer das Online-Angebot krisenchat.de für Menschen bis 25 Jahre. Bei psychischen Problemen, etwa durch Cybermobbing, können sie sich unkompliziert, kostenfrei und anonym an geschulte Psychologinnen und Psychologen wenden. Die Angebote der Barmer sollen dazu beitragen, dass sich psychische Probleme nicht verfestigen.