Der Barmer Arztreport 2019 gibt zum ersten Mal überhaupt einen aussagekräftigen Überblick über die tatsächliche Verbreitung des Reizdarmsyndroms in Deutschland. Anhand dokumentierter Diagnosen lässt sich feststellen und hochrechnen, wie viele Menschen diese Diagnose haben. Die Dunkelziffer liegt jedoch weitaus höher. Denn Reizdarm ist nach wie vor ein Tabuthema.
Erfurt, 6. Juni 2019 – Mehr als 31.500 Menschen in Thüringen haben die Diagnose Reizdarmsyndrom. Das entspricht einem Anteil von 1,46 Prozent der Thüringer Bevölkerung. Nur in Baden-Württemberg, im Saarland und in Bremen ist der Anteil der Menschen, die an dieser Krankheit leiden, noch größer als in Thüringen, geht nach Auswertungen bezogen auf die Gesamtbevölkerung Thüringens und Deutschlands aus dem aktuellen Barmer Arztreport hervor.
Die Dunkelziffer der Betroffenen liegt weit über den aus Diagnosedaten ermittelten Werten. „Befragungen legen nahe, dass bis zu 16 Prozent der deutschen Bevölkerung vom Reizdarmsyndrom betroffen sind. Das sind bundesweit rund elf Millionen und in Thüringen etwa 344.000 Menschen. Zahlreiche Betroffene meiden bei Symptomen wie Durchfall, Krämpfen oder Verstopfung aus Scham den Gang zum Arzt. Diese große Diskrepanz zeigt, dass die Erkrankung nach wie vor ein Tabuthema ist“, sagt Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Thüringen.
Vor allem junge Menschen, insbesondere Frauen, sind betroffen
Auffällig ist, dass zunehmend jüngere Menschen am Reizdarmsyndrom erkranken. Die Zahl der Betroffenen im Alter von 23 bis einschließlich 27 Jahren ist zwischen den Jahren 2005 und 2017 bundesweit um rund 70 Prozent angestiegen. Über alle Altersgruppen hinweg beträgt die Zunahme 30 Prozent. Betroffen sind außerdem deutlich mehr Frauen als Männer. Bei ihnen nimmt die Zahl mit Eintritt in die Pubertät deutlich zu.
Ein erster Häufigkeitsgipfel zeigt sich im Alter von 25 Jahren. Barmer-Landeschefin Birgit Dziuk bezeichnet diese Entwicklungen als besorgniserregend. „Möglicherweise lässt sich das Plus unter anderem mit einer gestiegenen Bereitschaft zur ärztlichen Begutachtung der oft tabuisierten Beschwerden erklären. Das wäre angesichts der insgesamt negativen Entwicklung dann immerhin ein positiver Begleiteffekt.“
Bis zu acht Jahre Leidensweg bis zur Reizdarmdiagnose
In über vier von fünf Fällen (83,4 Prozent) erhalten Betroffene in Thüringen die Reizdarmdiagnose vom Hausarzt. Viele von ihnen erleben jedoch eine wahre Arzt-Odyssee, bis letztlich das Reizdarmsyndrom diagnostiziert wird. Denn wer an einem Reizdarmsyndrom erkrankt ist, verursacht den Reportergebnissen zufolge bereits acht Jahre vor der Erstdiagnose deutlich höhere Kosten als Vergleichspersonen, die diese Erkrankung nicht haben.
„Die Diagnose Reizdarmsyndrom kann grundsätzlich erst nach Ausschluss anderer Ursachen gestellt werden“, verdeutlicht Dr. Ulrike Reinsch, Hausärztin in Erfurt und Vorsitzende des Fachausschusses hausärztliche Versorgung bei der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen. „Viele Patienten sind aufgrund der fortwährenden Symptome beunruhigt. Wichtig ist deshalb ein Mix aus ausführlicher Anamnese, Medikamentenanamnese und körperlichen Untersuchungen. Es ist ein gemeinsames Herantasten mit dem Patienten. Die eine Therapie gibt es leider nicht.“ Bei der Behandlung des Reizdarmsyndroms ist es der Hausärztin zufolge besonders wichtig, den ganzheitlichen Blick auf Körper und Geist zu richten. „Nötig ist ein multidisziplinärer Behandlungsansatz, da meist nicht allein der Darm das Problem ist.“
Zusammenhänge zwischen Psyche und Darmfunktion
Dass beim Reizdarmsyndrom eine enge Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten, zertifizierten Ernährungsexperten und Psychotherapeuten notwendig ist, bestätigt auch Dr. Gregor Peikert, in Jena praktizierender Psychotherapeut und Präsident der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer. „Bei funktionellen Darmerkrankungen wie dem Reizdarmsyndrom sollten in Diagnostik und Behandlung auch psychische Belastungen oder emotionale Reaktionsmuster beachtet werden“, so Dr. Peikert.
Die Wissenschaft kennt inzwischen zahlreiche Zusammenhänge zwischen Psyche und Darmfunktion. Einerseits wirkt psychischer Stress über das vegetative Nervensystem auf die Darmfunktion, andererseits haben Störungen der Darmfunktion auch Folgen für die Psyche. „Betroffene des Reizdarmsyndroms fühlen sich nicht selten in ihrem Alltag eingeschränkt.
Alleine der Weg zur Arbeit, ein Treffen mit Freunden, ein Restaurant- oder ein Kinobesuch können sehr belastend sein“, macht Dr. Gregor Peikert deutlich. Zudem erkennt er in den Zahlen des Barmer-Arztreports eine offensichtlich zunehmende Belastung der jüngeren Generation, die kritisch angeschaut werden sollte.
Regionale Unterschiede
Den Auswertungsergebnissen nach, leiden in Thüringen (1,46 Prozent der Bevölkerung) mehr Menschen an einem Reizdarmsyndrom als im Bundesdurchschnitt (1,34 Prozent der Bevölkerung). Zudem ist, mit Ausnahme Thüringens, ein Ost-West-Gefälle zu erkennen. Der Anteil der Betroffenen liegt in allen anderen neuen Bundesländern unter dem bundesweiten Mittel. „Die vergleichsweise hohen Betroffenenzahlen in Thüringen unterstreichen, dass das Reizdarmsyndrom kein reines West-Problem ist.
Ernährungsumstellung, Bewegung, Entspannung
Betroffene vermuten häufig, dass ihre Darmprobleme damit zusammenhängen, was sie essen. Viele machen tatsächlich die Erfahrung, dass bestimmte Lebensmittel die Beschwerden lindern oder auch begünstigen. „Es gibt zwar nicht genügend aussagekräftige Studien, die einen direkten Zusammenhang von Ernährung und Reizdarm belegen. Das bedeutet allerdings auch nicht, dass eine Ernährungsumstellung nicht doch dazu führen kann, dass sich die Symptome bessern“, erklärt Dr. Annette Rommel. Zur Abklärung von Lebensmittelallergien oder -unverträglichkeiten sei ein Besuch beim Hausarzt unerlässlich.
Daten im Barmer Arztreport:
- Datengrundlage für den Barmer Arztreport 2019: anonymisierte Daten von mehr als neun Millionen Versicherten bundesweit (geschlechts- und altersstandardisierte Ergebnisse); entspricht rund 11,1 Prozent der Bevölkerung; Daten aus insgesamt 13 Jahren berücksichtigt (2005 bis 2017)
- Schwerpunkt Reizdarm: Einbeziehung auch von Daten zu ambulanten und stationären Behandlungen in Krankenhäusern sowie zu Arzneiverordnungen
Fünf Tipps für Betroffene und alle, die es nicht werden wollen:
Die Werbung suggeriert oftmals, dass es einfach sei, das Reizdarmsyndrom und dessen typische Beschwerden zu behandeln. Tatsächlich gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten, das Reizdarmsyndrom zu behandeln – es fehlt allerdings an aussagekräftiger Forschung. Die individuell am besten geeignete Therapie zu finden ist unter anderem deshalb schwierig, weil die Ursachen des Reizdarmsyndroms bislang kaum geklärt sind. Wichtig sind in jedem Falle Achtsamkeit in Bezug auf das eigene Befinden und ein ehrlicher Austausch mit den behandelnden Ärzten beziehungsweise Psychotherapeuten.
Tipp 1: Wahrnehmung
Nehmen Sie sich und die Signale, die der eigene Körper sendet, ernst. Für die eigene Gesundheit ist zu allererst jeder selbst verantwortlich. Kommt es zu Auffälligkeiten, ist der Hausarzt die erste Anlaufstelle.
Tipp 2: Ernährungstagebuch führen
Viele Menschen machen die Erfahrung, dass bestimmte Lebensmittel die Reizdarm-typischen Beschwerden begünstigen oder lindern. Geduld ist gefragt, da jeder Mensch anders auf bestimmte Lebensmittel reagiert und es meist eine Weile braucht, um herauszufinden, was gut tut und was nicht. Für diesen Prozess empfiehlt es sich, ein Ernährungs-Tagebuch zu führen. So lassen sich Einflüsse der Ernährung auf die Darmfunktion und das allgemeine Wohlbefinden besser ausfindig machen. Notiert werden sollte, was und wann gegessen wurde, ob und welche Beschwerden auftraten und ob andere Faktoren wie Stress oder Zeitdruck gewirkt haben. In jedem Falle unterstützt das Führen eines Ernährungstagebuchs den achtsamen Umgang mit sich selbst und kann die Arbeit der behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten sinnvoll unterstützen.
Tipp 3: Lebensmittelallergien oder -unverträglichkeiten abklären
Ein direkter Zusammenhang zwischen Ernährung und Verdauungsproblemen kann bei Lebensmittelallergien oder -intoleranzen bzw. -unverträglichkeiten hergestellt werden. Diese Erkrankungen können diagnostiziert und vom Reizdarmsyndrom trennscharf unterschieden werden. Ob Glutenunverträglichkeit, Laktose- oder Fruktoseintoleranz: All das kann der Hausarzt schnell und unkompliziert abklären.
Tipp 4: Stress vermeiden und bewusst essen
Psyche und Darm stehen in ständigem Austausch miteinander. Ärger und Stress können die Darmtätigkeit aktivieren, Verdauungsstörungen wiederum können schlechte Stimmung bedingen. Deshalb gilt es, dem Essen genügend „Raum“ zu geben, nicht zu hetzen. Mahlzeiten lassen sich planen und regelmäßiges Entspannen hilft, Stress abzubauen.
Tipp 5: nicht verstecken
Die Dunkelziffer der vom Reizdarmsyndrom Betroffenen liegt etwa zehnmal so hoch wie die tatsächlich festgestellten Diagnosen. Aus Scham meiden viele Menschen den Gang zum Arzt, nehmen die Beschwerden nicht ernst genug oder holen sich Rat bei Freunden oder im Internet. Das ist gefährlich, kann zu weiteren Erkrankungen führen und die Lebensqualität langfristig negativ beeinflussen.
Quelle: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) www.gesundheitsinformation.de