Pflegenotstand, Ärztemangel, Krankenhausschließungen, fehlende Digitalisierung und noch eine Pandemie – die Gesundheitsversorgung in Deutschland steht aktuell vor vielfachen Herausforderungen. Beim 8. Norddeutschen Dialog der Barmer Landesvertretungen Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein ging es deshalb am 11. Mai um die Frage, wie medizinische Versorgung in Zukunft gestaltet sein könnte. Zu offenen Aspekten wie gleiches Geld für gleiche Leistungen (also stationär und ambulant), Kliniken als Versorgungszentren und Weiterentwicklung kleiner Krankenhäuser diskutierten im Online-Format die Hamburgische Gesundheitssenatorin Dr. Melanie Leonhard, Susanne Roca-Heilbron (Abteilungsleiterin Gesundheitsministerium Mecklenburg-Vorpommern) und Gesundheitsminister Dr. Heiner Garg (Schleswig-Holstein).
Darüber, dass es die Mauer zwischen der ambulanten und stationären Versorgung immer noch gibt, waren sich die Teilnehmer der Veranstaltung einig. Allerdings habe die medizinische Versorgung insbesondere in jüngster Zeit enorme Fortschritte gemacht und die vorhandenen Strukturen überholt.
In Form kurzer Filmbeiträge waren weitere Experten und Akteure aus dem Gesundheitswesen in die Diskussion um die Vernetzung der ambulanten mit der stationären Versorgung eingebunden. Mit dabei waren Reinhard Busse, Professor für Management im Gesundheitswesen an der Fakultät Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin, Max Tischler, Sprecher Bündnis Junge Ärzte, und Privatdozent Sven Jürgens (Frauenklinik an der Elbe, Operative Gynäkologie Hamburg).
Fehlversorgung in jedem zweiten Krankenhaus
In seinem Impulsreferat machte Busse deutlich, dass in Deutschland im internationalen Vergleich zu viele Patienten stationär im Krankenhaus aufgenommen werden. Das läge zum einen daran, dass Krankenhäuser für die Behandlung von Patienten bezahlt würden. Zum anderen wären sie nachts nur mit Assistenzärzten besetzt und Patienten würden allein aus diesem Umstand stationär aufgenommen werden. Patienten suchten auch deshalb überhaupt ein Krankenhaus auf, weil „…Arztpraxen typischerweise nur 25 Stunden in der Woche offen haben, also 143 Stunden geschlossen sind.“
Darüber hinaus monierte Busse, dass es in Krankenhäusern oft zur Fehlversorgung komme. Am Beispiel von Mecklenburg-Vorpommern machte er deutlich, dass jedes zweite Krankenhaus, das Patienten mit Herzinfarkten dort im Jahr 2018 versorgt habe, keine entsprechende Ausstattung hatte, die Patienten dort also fehlversorgt waren. Als Fazit zog er, dass die stationäre Versorgungsqualität eine bessere wäre, wenn es weniger, dafür aber personell (fachlich, ärztlich, pflegerisch) und technisch besser ausgestattete Krankenhäuser gäbe. Insgesamt bräuchte es dafür ein gut abgestuftes Konzept von Maximalversorgern, regionalen Regelversorgern und Grundversorgern in Form von integrierten ambulant-stationären Zentren.
Gesundheitsminister Garg würde gerne im Kreis Ostholstein ein Modellprojekt wagen, um zu zeigen, dass man eine Region besser versorgen könne, ohne dass es einen voll-akutstationären Standort gäbe. Er ist davon überzeugt, dass man den Menschen in Wahrheit keinen Gefallen tut, wenn jedes noch so kleine Krankenhaus auf Dauer eine politische Bestandsgarantie ausgesprochen bekommt. Schließlich sei bekannt, dass die beste Versorgung in größeren, spezialisierten und zentralisierten Einheiten stattfände. Garg machte deutlich, dass alle Akteure aufeinander zugehen müssten, um neue Strukturen zusammenzubringen und diese von vornherein krankenhausplanerisch, aber auch versorgungsplanerisch mitzugestalten. Es sei Aufgabe der Politik und Standesvertretungen, eine patientenorientierte Versorgung zu erreichen. Erforderlich sei auch ein neues Vergütungsmodell. Die Entwicklung der Klinikstrukturen müsse in Zukunft stärker den Versorgungsnotwendigkeiten folgen und dürfe nicht von der Erlössituation abhängig sein.
Auch nach Meinung von Barmer-Landesgeschäftsführer Hillebrandt ist nur eine integrierte, sektorenübergreifende Versorgung zukunftsfähig (siehe „Reformvorschläge für ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen“ der Barmer).
Eine Umfrage unter den Zuschauern hat gezeigt, dass über 90 Prozent für eine komplexe, planbare Operation auch weitere Wege in Kauf nehmen würden, wenn damit eine bessere Qualität verbunden wäre.
Ambulant vor stationär – Hier reicht die Handtasche statt Reisetasche
Dass nicht jede Operation in einem Krankenhaus gemacht werden muss, zeigt sich an der zunehmenden Zahl von ambulanten Operationen. Am Beispiel der Hamburger Frauenklinik an der Elbe machte Privatdozent Dr. med. Sven Jürgens deutlich, dass dort 12.000-mal pro Jahr ohne Krankenhausträger und ohne staatliche Mittel operiert werde. Er sieht darin gleich mehrere Vorteile: Patienten könnten im häuslichen Bereich nachbetreut werden, es wäre sichererer, weil es deutlich weniger Krankenhauskeime gäbe und letztendlich sei es auch deutlich günstiger als eine vergleichbare Behandlung im Krankenhaus. Jürgens forderte die Politik auf, diese intersektorale Versorgung voranzubringen.
Die Hamburgische Gesundheitssenatorin Leonhard wünschte sich dazu, dass die Länder eine einheitliche Planung für ambulante und stationäre Leistungen machen dürften. Dann könne man solche Angebote auch gezielt aus Landesinvestitionsmitteln fördern, beispielsweise die Kooperation mit der Nachsorge in einer solitären Kurzzeitpflege, also der Pflege im Krankenhaus nach einem Krankenhausaufenthalt, die gerade für ältere Menschen oft erforderlich sei, anstatt in einem Heim. Die Vergütungssysteme seien allerdings leider unterschiedlich und noch hart verriegelt. Zurzeit könne daher nur landesfinanziert etwas on-top gemacht werden, was aber nicht die Lösung sein könne, denn das System müsse es insgesamt ermöglichen.
In einer zweiten Zuschauerumfrage war die Mehrzahl (63,41 Prozent) der Meinung, dass in der zukünftigen ambulanten Versorgung die Integrierten Gesundheitszentren eine zunehmend wichtigere Rolle spielen werden.
Austausch durch Digitalisierung
Max Tischler, Dermatologe und Sprecher Bündnis Junge Ärzte, brach eine Lanze für die Digitalisierung. Er wünschte sich, dass es endlich möglich wäre, die Daten zwischen Praxis und Krankenhaus auszutauschen. Zurzeit könnten Bilder beispielsweise nur über WhatsApp, Facetime oder ähnlichem transferiert werden. Er setzt daher viel auf die elektronische Patientenakte, die ab Sommer 2021 für die Praxen bereitstehen und dabei helfen wird, Daten zwischen Praxis und Krankenhaus auszutauschen. Damit könnten viel mehr Daten, die in der Praxis gewonnen wurden, an die Klinik weitergegeben werden, gleichzeitig kämen aber auch die Informationen aus dem Krankenhaus, z.B. ein Entlassbrief, einfacher und schneller in der Praxis an. Die Telemedizin solle aber nicht nur zwischen Arzt und Krankenhaus, sondern auch zwischen Ärzten untereinander und zwischen Arzt und Patient gedacht werden.
Zum Thema Telemedizin wurde jahrelang immer wieder der Datenschutz in den Vordergrund der Debatte gestellt. Einerseits richtig und wichtig forderte Gesundheitsminister Garg dennoch ein Überdenken vorhandener Datenschutzrichtlinien und eine echte Datennutzungsdebatte. So dürfe der Datenschutz keine Mauer sein. In der Telematic inklusive der künstlichen Intelligenz sehe der Minister „einen weiteren, exzellenten Baustein, der zur Versorgungssicherung beiträgt.“
Norddeutscher Dialog 2022
Auch wenn wir in diesem Jahr mit über 380 Anmeldungen rekordverdächtig viele hatten, planen wir den 9. Norddeutschen Dialog im nächsten Frühjahr wieder als Präsenzveranstaltung. Wir haben uns natürlich sehr über die große positive Resonanz gefreut, darin wurde aber auch deutlich, dass nicht nur uns der direkte persönliche Meinungsaustausch gefehlt hat. Wir sehen uns also 2022 an gewohnter Stelle in Lübeck. Bleiben Sie gesund!
Der 8. Norddeutsche Dialog kann über den Veranstaltungslink www.barmer.de/norddialog-live angeschaut werden.