Jahrelang wurden die Grundlagen für die Leistungen der Pflegeversicherung kritisiert, die bei der Zubilligung der bisher geltenden Pflegestufen angewandt werden. Denn die Pflegebedürftigkeit wird derzeit vorrangig nach körperlichen Einschränkungen beurteilt. Vor dem Hintergrund der steigenden Zahl von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, insbesondere bei demenziellen Erkrankungen, sollte diese somatische Ausrichtung um wichtige Aspekte der sozialen Teilhabe oder des Bedarfs an allgemeiner Betreuung, Beaufsichtigung und Anleitung erweitert werden.
Nach jahrelangen Vorarbeiten wird nun zum 01.01.2017 ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt. Mit dem neuen System werden erstmalig alle für Pflegebedürftigkeit relevanten Aspekte berücksichtigt – unabhängig davon, ob diese auf körperlichen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen beruhen. Die bisher bekannten drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt. "Das Ende der Minutenpflege war lange überfällig. Das neue Verfahren wird leichter nachvollziehbar sein und damit die Transparenz deutlich erhöhen. Aber auch die neuen Einstufungen werden an den Grenzen der Pflegegrade die gleichen Fragen aufwerfen", erläutert Schleswig-Holsteins Barmer Landesgeschäftsführer Thomas Wortmann.
Überleitung der bisherigen Pflegestufen in die neuen Pflegegrade
Für Personen, denen am 01.01.2017 bereits eine Pflegestufe zuerkannt wurde, wird sichergestellt, dass sie aufgrund der Umstellung keine finanziellen Nachteile erfahren. Ein Überleitungssystem ermöglicht die Überführung in die neuen Pflegegrade ohne dass ein neuer Antrag oder eine erneute Begutachtung nötig werden. Pflegebedürftige, die bereits eine Pflegestufe haben, werden automatisch in die Pflegegrade überführt und darüber schriftlich informiert. "Der nahtlose Übergang in das neue System ohne neue Antragstellung ist eine wichtige unbürokratische Lösung", begrüßt Wortmann die versichertenfreundliche Regelung, die zugleich einfach umzusetzen ist.
Die Feststellung der Pflegebedürftigkeit ab dem 01.01.2017
Bei der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) oder unabhängige Gutachterinnen und Gutachter wird nach dem neuen System künftig ermittelt, wie selbstständig eine Person in den verschiedenen Lebensbereichen ist. Sechs „Module“ werden dabei betrachtet und gewichtet (Gewichtung in Klammern in Prozent).
- Mobilität, u.a. Fortbewegen, Treppensteigen, Sitzposition halten oder Positionswechsel im Bett (10 Prozent)
- Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, u.a. örtliche uns zeitliche Orientierung, Erinnerungsvermögen,
- Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, u.a. Verhaltensauffälligkeiten, Unruhezustände, (2. und 3. zusammen 15 Prozent)
- Selbstversorgung, u.a. bei Körperpflege, Ernährung (40 Prozent)
- Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits‑ oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, u.a. Medikation, Messung von Körperzuständen (20 Prozent)
- Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte, u.a. Beschäftigungsvermögen, Kontaktpflege (15 Prozent)
Während die heutige Bewertung des Unterstützungsbedarfs nach Minutenwerten erfolgt, wird im neuen Prüfverfahren die verbliebene Selbstständigkeit der betroffenen Person ermittelt. Der Grad der Selbstständigkeit wird dabei wie folgt bestimmt und mit einer Punktzahl versehen. Die Person kann
- selbstständig – die gesamte Aktivität (0 Punkte)
- überwiegend selbstständig – den größten Teil der Aktivität (1 Punkt)
- überwiegend unselbstständig – nur einen geringen Anteil (2 Punkte)
- unselbstständig – keinen nennenswerten Anteil (3 Punkte)
durchführen.
Aus den Ergebnissen der MDK-Prüfungen ergibt sich die Einordnung in einen der fünf Pflegegrade. Die Prüfergebnisse von zwei weiteren Modulen (Außerhäusliche Aktivitäten, Haushaltsführung) gehen nicht in die abschließende Bewertung der Pflegebedürftigkeit einer Person ein, da sie in den einzelnen Modulen bereits ausreichend berücksichtigt werden. Folgende Gesamtpunktzahlen liegen den jeweiligen Pflegegraden zugrunde:
- Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkte)
- Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkte)
- Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkte)
- Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten (ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkte)
- Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung (ab 90 bis 100 Gesamtpunkte)
Für pflegebedürftige Kinder im Alter bis zu 18 Monaten gelten abweichende Einstufungsregelungen.
Stationäre Pflege - Einheitliche Eigenanteile in Pflegeheimen
Ab dem 01.01.2017 sind innerhalb der gleichen Einrichtung die Eigenanteile aller Bewohnerinnen und Bewohner ab Pflegegrad 2 gleich hoch. Erhöht sich die Pflegebedürftigkeit und führt zu einem höheren Pflegegrad, wird dies dann nicht mehr mit einer Erhöhung des Eigenanteils verbunden sein. Damit wird für die Pflegebedürftigen und ihre Familien eine bessere Planbarkeit der finanziellen Belastung gewährleistet.
Bestandschutz
Pflegebedürftige, die nach der neuen Regelung gegebenenfalls nur noch Anspruch auf geringere Leistungen der Pflegeversicherung hätten, werden ab dem 01.01.2017 durch einen Bestandschutz nicht schlechter gestellt. Ein eventuell entstehender Differenzbetrag wird automatisch durch einen Zuschuss der Pflegekasse ausgeglichen. Für Versicherte, die zum Zeitpunkt der Umstellung bereits in einem Pflegeheim wohnen und deren Eigenanteil durch die Neuregelung steigt, zahlt die Pflegekasse den Differenzbetrag direkt ans Pflegeheim.
Mehr Informationen
Weitere Informationen zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff finden Sie hier.
Unter dem Titel „Mehr Grad als Stufe: die neue Pflegebedürftigkeit in Schleswig-Holstein ab 2017“ referierte der Leiter der Abteilung Pflegeversicherung beim MDK Nord im Rahmen einer Veranstaltung der Barmer in Kiel. Seinen Vortrag finden Interessierte untenstehend zum Download.